8. Das dunkle Gefühl

Am Samstag wachte ich auf und da war es, das dunkle Gefühl, zwar nicht direkt über mir, aber im Zimmer, und es sah mir dabei zu, wie ich unter der Decke lag und mich nicht bewegte, brachte sich in Erinnerung, die alte Sau, zum ersten Mal seit ich die Pillen abgesetzt hatte, und seltsam war nur, dachte ich, als ich da so lag und mich nicht bewegte, dass ich so naiv gewesen war zu glauben, dass es nicht wiederkommen würde, wenn ich die Pillen absetzte, ganz schön blöd. Dr. Selge hatte es mir prophezeit und Werner hatte es mir prophezeit und ich hatte gelacht und »Lass gut sein« zu Werner gesagt. Zu Dr. Selge natürlich gar nichts, da hatte ich nur genickt, was sie nicht zu deuten gewusst hatte, die blöde Ziege.

Werner musste schon am Freitagabend was geahnt haben, er hatte mir einige komische Fragen gestellt beim außerordentlichen Plenum, das nur einberufen worden war, um seinen Abschied am nächsten, also diesem Morgen und die damit verbundene Übergabe an Gudrun vorzubereiten, und das waren natürlich doofe Fragen aus der »Was-ist-denn-bloß-los-mit-dir«-Spielklasse gewesen, der übliche »Wie-siehst-du-denn-aus«-Quatsch, dabei war ich eigentlich bloß müde gewesen, aber jetzt, am Morgen danach, als ich unter der Decke lag und das dunkle Gefühl im Raum war, irgendwo zwischen Sessel und Regal lauerte und mich dazu brachte, ganz still zu liegen und mir selbst beim Atmen zuzuhören, wurde mir klar, dass das nicht irgendeine Müdigkeit gewesen war, keine Müdigkeit von der Art, die einen dazu bringt, sich aufs Bett zu freuen, nicht die Sorte Müdigkeit, die Leute wie Herr Niemeyer geschenkt bekamen, nachdem sie einen ganzen Tag lang mit der Grabgabel im Rasen herumgestochert hatten, keine Müdigkeit, wie sie mich, wenn alles glatt ging, auch in der Lüneburger Heide nach einem Tag voller Sport und Wassertreten und frischer Luft und dem ganzen Scheiß erwarten würde, nein, eine solche Müdigkeit war es nicht gewesen am Freitagabend beim außerordentlichen Plenum, es war die andere Müdigkeit gewesen, die dunkle Müdigkeit, die so sehr den ganzen Körper im Griff hat, dass der Gedanke, sie mit Schlaf zu kurieren, lächerlich ist, als wolle man Hautkrebs mit Sonnencreme heilen oder was weiß ich, mit was man das vergleichen soll, eine Müdigkeit, die so überwältigend war, dass der Gedanke an den Tod keine Angst mehr machte, das war vielleicht das einzig Gute daran, wenn man sowas gut findet, es hat ja auch nicht jeder Angst vor dem Tod oder vielleicht doch, keine Ahnung, beim Plenum saß ich jedenfalls da und kämpfte dagegen an, saß also da mit weit aufgerissenen Augen und zugleich gesenktem Kopf, damit die anderen nichts mitkriegten, aber Werner, der alte Fuchs, kriegte natürlich doch was mit und schreckte mich mit seinen blöden Fragen immer wieder auf und ich hatte es immerhin durch das Plenum geschafft, ohne dass er mich auf irgendwas festnageln konnte, »Man wird ja wohl noch müde sein dürfen!« ist zwar nicht die beste Ausrede der Welt, aber ich kam gerade noch so damit durch, es war ja auch noch nicht die volle Lotte gewesen, sondern nur die halbe Miete der dunklen Müdigkeit, so wie ich jetzt, am Morgen danach, das dunkle Gefühl nicht direkt über mir, sondern nur in der Ecke des Zimmers verspürte, und ich spielte einige Zeit mit dem Gedanken, doch wieder mit den Pillen anzufangen, ich hatte ja eine Notfallpackung immer in der Nähe, eine in der einen Jacke, eine in der anderen Jacke, eine im Regal, eine im Nachttisch, aber das Gute oder Schlechte war, je nachdem, wie man es anschaute, dass die sowieso nicht gleich wirkten, dass also auch von ihnen keine schnelle Hilfe zu erwarten war, da konnte man genausogut noch ein bisschen damit warten und schauen, ob es nicht von selber wieder wegging, das dunkle Gefühl, etwas schnell Helfendes, ein schönes Hallowach, irgendeinen Kickstarter in Pillenform hatte mir keiner für diesen Fall verschrieben, da trauten sie einem nicht, hätte ich auch nicht gemacht an deren Stelle, und ich lag also am Samstagmorgen da und wusste, dass ich höchstens noch zehn Minuten hatte, bevor einer kommen würde um zu gucken, warum ich nicht beim Frühstück war, denn es war schon die Zeit für das samstägliche gemeinsame Frühstück, bei dem Werner noch dabei sein wollte, bevor um Punkt elf dann Gudrun kommen und ihn ablösen sollte, und ich lag also da und wusste natürlich, dass mir das alles nichts mehr brachte, das gemeinsame Frühstück, die Plenums oder Plena oder was weiß ich, die Arbeit, Werner, die anderen, das war alles sinnlos, trostlos, zwecklos, das war deren Ding und ich war, wenn ich richtig überlegte, einfach und ganz und gar und vollständig und ohne Einschränkung einsam, es gab in Altona und Othmarschen keinen, der mich nicht mit anderen Augen sah als ich selbst, ich war Fürsorgefleisch für Werner und Gudrun, arroganter Sack für Klaus-Dieter, Henning und Astrid, Hiwi-Trottel für das Kinderkurheim Elbauen, Multitox-Wrack für den Gutachter von der Krankenkasse, Pillenjunkie für Dr. Selge und gescheitertes Kind für meine Mutter, und umgekehrt konnte ich mit diesen Leuten auch nichts anfangen, es waren ja alles Idioten, so dachte ich jedenfalls in diesem Moment, obwohl ich wusste, dass das jetzt undankbar war, weil sie mich letzten Endes alle zusammen gerettet hatten vor genau diesem dunklen Gefühl, das jetzt wieder in meinem Zimmer hockte und darauf wartete, dass ich das Falsche tat, und das mit ihnen, den anderen also, überhaupt nichts zu tun hatte, dessen Ursprung ganz woanders lag, aber ohne Zusammenhang hin, undankbar her, daran, dass Jimmy und Johnny meine einzigen Freunde in diesem Leben hier waren, änderte das gar nichts, und wer Jimmy und Johnny als Freunde hat, hat nicht viel, eine Handvoll Mehlwürmer und weg sind sie, und mir wurde, während ich dort lag, elender und elender und das dunkle Gefühl kam näher und näher und ich kramte schon im Nachtschränkchen, einem wackeligen Schrott aus dem Sozialamtsmöbellager, um die verdammten Pillen zu finden, da hatte sich einiges an Krimskrams und Büchern und sonstwas angestaut in dem scheiß Nachtschränkchen, da war ein kleiner Streifen Pillen schnell mal unauffindbar, jedenfalls erwischte ich mich dabei, wie ich schon nach den Pillen kramte, als mir noch etwas einfiel, was die Sache mit den Pillen vielleicht ersetzen konnte, und ich fing einfach mal an zu weinen.

Und das half dann auch ganz gut, so gut, dass ich, noch heulend und schniefend, aufstehen und mich anziehen konnte, und als ich angezogen war, wusch ich mir das Gesicht und ging zu Werners letztem Frühstück vor der Supervision.

»Ich wollte schon Henning schicken«, sagte Werner, als ich in die Küche kam. Sie saßen alle da und Henning, der heute mit dem Frühstücksdienst dran war, stand mit dampfender Kaffeekanne, einer Blechkanne, wie man sie eigentlich nur von früher aus Schullandheimen kannte, hinter Werner und goss ihm Kaffee ein, aber Werner achtete nicht darauf und stieß ihn an und Henning schüttete etwas Kaffee daneben und Werner sagte, ohne nachzudenken, »Pass doch auf!« und schob dann aber doch nach einem Blick in Hennings Gesicht Gottseidank ein »Ah, war meine Schuld!« nach, das war höchste Zeit gewesen, Henning war keiner, bei dem man dabei sein will, wenn er mit einer großen Kanne heißen Kaffees in den Händen die Fassung verliert. Werner war eindeutig nicht gut drauf, Supervision wohl eins von den Dingen, auf die sich einer wie Werner nicht freute, umso erstaunlicher, dass er sich überhaupt darauf eingelassen hatte, es musste wohl schon schlimm um ihn stehen, aber das kümmerte hier keinen, stattdessen starrten sie mich an, als ob ihnen niemals jemand gesagt hatte, dass man andere Menschen nicht anstarrte, weil sich das nicht gehörte oder was weiß ich, wahrscheinlich hatte ihnen das auch keiner gesagt.

»Wie siehst du denn aus«, sagte Werner. »Hast du geheult?«

»Heuschnupfen«, sagte ich. »Hatte über Nacht das Fenster auf, verdammte Birken.«

»Birken? Im April? Seit wann haben die im April was zu melden, die Birken?«

»Wenn’s nicht die Birken sind, dann sind’s die Schimmelpilzsporen.«

»Aber die kommen doch nicht durchs Fenster!«

»Wer weiß, Werner …!«

»Na gut.« Werner verlor die Lust an dem Quatsch. Ich setzte mich hin und köpfte ein Ei, das vor meinem Frühstücksbrettchen stand. Es war weich. Ich setzte den oberen Teil wieder drauf, damit es nicht so schlimm aussah, während Werner sagte: »Passt auf, Leute, kein Streit mit Gudrun! Das ist nicht immer leicht, ich weiß, aber kein Streit mit Gudrun!«

Allgemeines Seufzen und Augenrollen. Alle mochten Gudrun und kamen prima mit ihr klar, aber das musste Werner ja nicht wissen.

»Ich verlass mich auf euch.«

»Ist ja gut«, sagte Astrid.

»Und du, Karl«, war er schon wieder bei mir, »du gehst Montag schön zum Bahnhof und nimmst den Zug nach Uelzen, den ich dir rausgeschrieben habe, nicht den davor und nicht den danach, die warten da auf dem Bahnhof auf dich.«

»Krieg ich hin, Werner.«

»Und keine Sperenzchen.«

»Auf keinen Fall.«

»Und iss ruhig mal was! Henning, gib ihm doch mal Kaffee!«

Henning kam zu mir und gab mir Kaffee. Das war auch irgendwie so eine Werner-Erfindung, bei Werner reichte es nicht, dass einer die Pflicht hatte, den Tisch zu decken, nein, bei Werner musste er dann auch noch den Kaffee einschenken, als ob es darauf ankäme, das ganze Elend der Hamburger Gastroszene sogar noch ins eigene Heim, ins ureigene Privatleben hineinzuverlängern, schön ist was anderes. Henning kam also zu mir rüber und pladderte mir Kaffee in die Tasse. Samstags gab’s immer das gute Geschirr, Tasse und Untertasse mit Dekor von der Arbeiterwohlfahrt, das hatte ich Werner immer schon mal fragen wollen, wie er da eigentlich rangekommen war.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Nein, Werner, es ist nicht alles in Ordnung. Ich habe total Heuschnupfen und darf keine Antihistamine nehmen, so sieht’s doch schon mal aus, die wollte Dr. Selge mir nicht verschreiben.«

»Kannst du ja im Urlaub nochmal nach fragen«, sagte Werner. »Die können dir ja im St. Magnus was verschreiben.«

Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen: Werner, der gnadenlose Medikamentenfeind, als Antihistaminpusher – er musste wirklich ausgebrannt sein, um so etwas über die Lippen zu bringen.

»Würde ich sowieso nicht nehmen«, sagte ich. Das Gespräch nahm eine komische Wendung. »Und wenn du sie mir persönlich hinhalten würdest, Werner.«

Es gab ein allgemeines Raunen. Astrid hob einen Teelöffel.

»Könnt ihr mal mit der Machoscheiße aufhören, das ist ja widerlich. Ich meine, was ist denn mit euch los?«

»Werner, ich hab dich lieb«, sagte ich aus einem plötzlichen, unerklärlichen Impuls heraus. »Das solltest du nie vergessen.«

»Na, na«, sagte Werner, der offensichtlich auch nicht ganz bei sich war, irgendwie einen labilen Eindruck machte, wenn man ihn genauer betrachtete, »lass gut sein. Ich glaube, ich geh jetzt auch mal. Die eine Stunde, bis Gudrun kommt, könnt ihr ja wohl auch ohne mich klarkommen. Ich hab für Gudrun einen Brief geschrieben, den hat Astrid. Astrid, du gibst den Brief an Gudrun!«

»Ja klar, Werner.«

»Macht’s gut, Leute. Und macht keinen Scheiß!«

Werner stand auf und ging um den Tisch herum und gab jedem Einzelnen die Hand. Zu mir sagte er: »Mach keinen Scheiß in St. Magnus und nimm den Zug, den ich dir aufgeschrieben habe!«

»Alles klar, Werner!«

»Bleibt sitzen und esst weiter. Braucht mich keiner zur Tür zu bringen.«

Und dann ging er. Wir sahen ihm hinterher und als er weg war, ging Henning nochmal mit dem Kaffee rum.

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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