59. Die Satanshexe vom Piz Palü
»Und da hast du mal gearbeitet?!« Raimund starrte durch das Autofenster in den Regen und den hinter dem Regen verschwimmenden Eingang vom Kinderkurheim Elbauen. »Ganz schön idyllisch.«
»Ja«, sagte ich. Ich hielt Holger einen Einkaufsbeutel aus Baumwolle hin, den ich am Vormittag in einem Schnäppchenmarkt für eine Mark gekauft hatte, und er legte Bolek mit beiden Händen vorsichtig hinein. Dann nahm ich das Buch, das ich mir für den Notfall von Dubi geliehen hatte, und steckte es in die Innentasche meiner Jacke.
»Viel Glück«, sagte Rosa.
Ich stieg aus und ging über die Straße zum Kinderheim. Ich wollte hintenrum reingehen, gleich durch die Werkstatt zum Zoo, Bolek integrieren und auf demselben Wege wieder abhauen, aber daraus wurde nichts, der Hintereingang war abgeschlossen, das war neu, wahrscheinlich eine Reform, die Herr Niemeyer vorgenommen hatte. Dumm nur, dass ich meinen Schlüssel nicht dabeihatte. Ich ging zurück und um das Haus herum zum Vordereingang. Und auch hier gab es eine Überraschung: Hartmut, der Erzieher, saß im kleinen Kabuff am Eingang und bewachte ihn.
»Hallo Hartmut!«
»Hallo Karl! Was machst du denn hier?«
»Ich hab was vergessen.«
»Ich dachte, du hast Urlaub.«
»Ja, bin gleich wieder weg.«
Ich lief die Treppen hinunter. Im Zoo waren die Tiere ziemlich aufgeregt, als ich reinkam. Jimmy und Johnny, die beiden Affen, fegten durch ihren Käfig, als ob sie auf Speed wären, und der Papagei plapperte blechern wie ein gestörter Langwellensender. Ich ging auf die Knie und öffnete den Zwergkaninchenkäfig, der unter dem Affengehege eingebaut war, und setzte Bolek hinein. Er flüchtete sofort in eine Ecke des Käfigs, während die Zwergkaninchen ihn neugierig beobachteten. Bolek fiepte und die Kaninchen rückten ihm langsam auf die Pelle.
»Was machst du denn da mit dem Kaninchen?«
Ich zuckte zusammen. Es war der kleine Junge, der mir damals beim Krokodilfüttern geholfen hatte.
»Ich bringe hier ein Meerschweinchen hin, damit es sich nicht einsam fühlt. Die dürfen nicht allein sein.«
»Aber hier sind doch gar keine Meerschweinchen.«
»Ich weiß, aber ich dachte, ich könnte ihn zu den Kaninchen stecken.«
»Nein, das geht nicht«, sagte der Junge, der, wie ich mich jetzt erinnerte, Hans-Peter hieß. »Ich hab mal im Fernsehen was über Meerschweinchen gesehen, das war so für Kinder gewesen, da haben die gesagt, das geht nicht mit anderen Tieren, nur mit Meerschweinchen. Sonst haben die Angst.«
Ich nahm Bolek wieder aus dem Käfig heraus. Es sah dort nicht gut für ihn aus, er war von den Kaninchen regelrecht umzingelt.
»Bist du sicher, dass der Film über Meerschweinchen ging?«
»Aber klar! Man soll die auch nicht streicheln! Und wenn die dabei so Geräusche machen, dann ist das wegen Todesangst!«
»Ja, was mach ich denn dann jetzt?«, sagte ich ratlos. »Und was machst du überhaupt hier? Habt ihr jetzt nicht Mittagessen?«
»Ich hatte keinen Hunger. Ich wollte mal zu den Tieren.«
»Weiß Hartmut, dass du hier bist?«
»Der doch nicht! Der steht doch Wache am Eingang!«
»Was mach ich denn jetzt mit dem Meerschweinchen?«, sagte ich.
»Lass das doch einfach hier, dann müssen die ein zweites Meerschweinchen anschaffen«, sagte Hans-Peter. »Ich kann denen ja sagen, dass die nicht allein sein dürfen, dann schaffen die noch eins an. Ist doch ganz einfach.«
»Wem willst du das sagen?«
»Hartmut.«
»Und wie willst du Hartmut erklären, dass du weißt, dass hier ein Meerschweinchen ist?«
»Die haben jetzt einen neuen Tierpfleger.«
»Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich krieg das schon hin!« Der Junge streckte die Hände aus und ich legte ihm Bolek hinein. »Wir tun den einfach hier …«, er ging zu einem kleinen Karton, der in der Ecke lag, und setzte Bolek hinein, »… einfach hier rein und stellen ihn auf den Tisch da, dann finden die den.«
»Aber die wissen, dass ich hier runtergegangen bin. Dann wissen sie auch, dass ich ihn hergebracht habe«, sagte ich.
»Na und? Hast du ja auch«, sagte Hans-Peter.
»Stimmt auch wieder«, sagte ich.
»Ich sag denen, wie die das machen sollen, ich sag das zu Hartmut und der kümmert sich drum.«
»Hm …« Ich war nicht überzeugt.
»Du musst den Leuten auch mal vertrauen«, sagte Hans-Peter. »Wenn du den Leuten nicht vertraust, dann kommst du auf Dauer im Leben nicht klar!«
Ich lachte. »Hast du das von Hartmut?«
»Nein, hab ich mir selber ausgedacht!«
»Okay«, sagte ich, »ich vertrau dir. Du machst das schon. Der heißt übrigens Bolek.«
»Was ist das denn für ein komischer Name.«
»Können nicht alle Hans-Peter heißen.«
Ich schüttelte ihm ernsthaft und fest die Hand zum Zeichen meines Vertrauens und ging raus. Am Eingang stand Hartmut mit Dr. Selge zusammen und sie waren in ein Gespräch vertieft. Ich versuchte, mich unauffällig vorbeizuschleichen.
»Herr Karl, was verschafft uns denn die Ehre?!« Das war ungewöhnlich sarkastisch. Das war nicht die einfühlsame Psychiaterin, das war jetzt die Heimleiterin, die da sprach!
»Ich habe ein Buch in der Werkstatt vergessen«, sagte ich und zog Dubis Buch aus der Jacke und hielt es hoch. »Das hat mir im Urlaub sehr gefehlt. Ich wollte unbedingt wissen, wie es ausgeht.«
»Die Satanshexe vom Piz Palü«, las Dr. Selge vor. »Das klingt ja vielversprechend.«
»Ja, es ist sehr spannend«, sagte ich.
»Sollten Sie nicht im Urlaub irgendwo in der Lüneburger Heide sein?«
»Woher wissen Sie das, Dr. Selge?«
»Ich habe mit Herrn Maier darüber gesprochen. Der hat mich angerufen und mir komische Fragen gestellt, und dabei hat er so etwas gesagt. Dass Sie eigentlich in der Lüneburger Heide sein sollen.«
»Da gehen Züge hin und her«, sagte ich, »von Uelzen und von Lüneburg, da ist man schneller in Hamburg als Sie von Pinneberg mit dem Auto, Dr. Selge.«
»Ihre Mutter hat mich auch angerufen. Ob ich wüsste, wo Sie sind. Sie hat sich Sorgen gemacht. Herr Maier hatte sie auch angerufen.«
»Tja, dann grüßen Sie meine Mutter mal schön, wenn Sie mal wieder mit ihr sprechen, Dr. Selge.«
»Was machen Sie bloß? Sind Sie sicher, dass Sie das Richtige tun?«
Hartmut war es sichtlich unangenehm, dem Gespräch beizuwohnen, er knetete die ganze Zeit seine Hände und guckte an die Decke und nach links und rechts und kratzte seine Nase und was sonst noch alles, man wurde schon vom Hingucken nervös.
Jetzt sagte er: »Ich würde dann auch gerne mal was essen gehen, Dr. Selge.«
»Ja, ich bleibe solange hier«, sagte Dr. Selge. Und zu mir sagte sie, während Hartmut sich von dannen trollte: »Wir haben jetzt ein bisschen mehr Sicherheitsbewusstsein hier, das war nötig.«
»Ja, das ist gut«, sagte ich. »Ich geh dann mal.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Karl.«
»Das stimmt, Dr. Selge.«
»Und?«
»Ich bin nicht sicher, dass ich das Richtige tue, Dr. Selge. Ich bin nie sicher, dass ich das Richtige tue. Ich weiß sowas immer erst hinterher.«
»Aha«, sagte Dr. Selge. »Das ist aber als Statement nicht ganz so bescheiden, wie Sie denken, Karl.«
»Kann sein«, sagte ich.
»Ihre Mutter macht sich große Sorgen. Die ist durch das Telefonat mit Herrn Maier sehr beunruhigt.«
»Das sollte sie nicht sein«, sagte ich.
»Wollen Sie sie nicht mal anrufen?«
»Klar, warum nicht«, sagte ich.
»Wollen wir das nicht gleich zusammen machen? Wir können doch eben in mein Büro gehen.«
»Nein, ich habe dafür jetzt keine Zeit«, sagte ich. »Ich bin verabredet. Ich habe auch ein eigenes Telefon.« Ich holte den Knochen aus der Jackentasche. »Schauen Sie, das ist ein Mobiltelefon. Wenn ich also meine Mutter anrufen will, kann ich das jederzeit tun.«
»Kann man da auch anrufen?«
»Ja, aber dazu brauchen Sie die Nummer.«
»Wollen Sie mir die nicht geben? Dann kann Ihre Mutter Sie anrufen.«
»Nein, das ist nicht nötig, ich rufe sie selber an, kein Problem. Grüßen Sie sie schön von mir und sagen Sie ihr bitte, dass alles in Ordnung ist.«
»Ihre Mutter macht sich wirklich Sorgen, Karl.«
»Ja, ich rufe sie an.«
»Geben Sie mir doch die Nummer!«
»Keine Zeit, Dr. Selge, die ist auch lang und ich weiß sie nicht auswendig. Da gibt es auch eine spezielle Vorwahl.«
»Ich würde mir die aufschreiben.«
»Fragen Sie einfach Herrn Maier«, sagte ich, wohl wissend, wie sehr sich die beiden hassten. Aber wenn Werner schon von sich aus die ungeliebten Hilfstruppen in Stellung brachte, dann sollte er sich auch ruhig von ihnen belästigen lassen, fand ich.
»Na gut. Kann ich sonst noch was für Sie tun?«
»Nein, alles gut, Dr. Selge.«
Als ich ins Auto einstieg, gab es ein großes Hallo. Nur Holger saß apathisch herum und starrte aus dem Fenster ins Othmarschener Nichts.
»Und jetzt?«, sagte ich zu Raimund, der vorne saß. »Schrankenhusen-Borstel?«
»Nein, zu früh«, sagte Raimund. »Ich hab Angst vor Schrankenhusen-Borstel. Ferdi will auch vorher noch mit allen Fisch essen gehen. In Hamburg. Außerdem müssen wir Holger ein Bier besorgen, der ist so traurig wegen dem Schwein.«
»Wo will Ferdi denn Fisch essen gehen?«
»Keine Ahnung, er liegt oben und schaut gerade im Gault Millau nach. Irgendwas mit mindestens fünfzehn Kochmützen, sagt er.« Raimund stand auf, kletterte nach hinten, steckte den Kopf ins Komabrett und redete mit Ferdi. Dann kam er wieder nach vorne. »Bavaria Blick«, sagte er. »Bernhard-Noocht-Straße.«
»Ich ruf die mal an«, sagte ich. »Tisch für zehn Leute?«
»Zwölf«, sagte Raimund. »Mach zwölf. Dave und Hans kommen auch noch.«