9. Das Versprechen
Mit Gudrun ging das Wochenende vorbei wie nichts, es war dauernd etwas los, sie hatte zum Beispiel einen Putzfimmel, deshalb mussten wir am Samstag das ganze Haus, das Werner ihrer Ansicht nach niemals so hätte zurücklassen dürfen, noch gründlicher als sonst von oben bis unten putzen, und dann mussten wir am selben Tag noch trotz des Nieselregens runter an die Elbe und bis nach Teufelsbrück und zurück laufen, weil ihre Abneigung gegen Schmutz nur noch von ihrer Liebe zur frischen Luft übertroffen wurde. Am Sonntag ließ sie uns abstimmen, ob wir lieber im Jenisch-Park oder im Stadtpark picknicken wollten (»Wollt ihr schon wieder in den Jenisch-Park oder endlich auch mal in den Stadtpark?«), und außer mir waren natürlich alle für den Stadtpark gewesen, die alten Schleimbacken. Es war schönes Wetter und wir mussten den ganzen Weg bis zur S-Bahn-Station Bahrenfeld laufen, damit wir nicht mit der Junkie-Szene vom Bahnhof Altona konfrontiert wurden, damit hatte zwar nur Astrid ein Problem, dafür aber richtig, sie hatte striktes Bahnhof-Altona-Verbot, mitgefangen, mitgehangen, und dann bestimmte Gudrun, um ihn vom Meckern abzuhalten, auch noch Klaus-Dieter zum Anführer und Pfadfinder durch den S- und U-Bahn-Dschungel der Hamburg-Megalopole mit ihren ganzen drei U-Bahnen und fast mehr als drei S-Bahnen, und er brachte uns tatsächlich sicher zum Stadtpark, eine la-Klaus-Dieter-Leistung, die in Gudruns Augen auch dadurch nicht geschmälert wurde, dass die S1 sowohl in Bahrenfeld als auch am Stadtpark hält.
Wenn wenigstens nicht so schönes Wetter gewesen wäre, schönes Wetter machte mich in Hamburg immer traurig, kaum war die Sonne draußen in Hamburg, wurde ich traurig. Oder wenn es wenigstens nicht Gudrun gewesen wäre, oder nicht der Stadt-, sondern der Jenisch-Park, jedenfalls brachte mich der Sonntag endgültig aus dem Tritt, die anderen alle lustiglustig und Picknickpicknick und schnatterschnatter, die freuten sich richtig, dass sie endlich mal mit Gudrun was anderes als sonst machen konnten und dass »alles so easy war mit der S-Bahn und so«, wie Klaus-Dieter es formulierte, und dann der schöne Stadtpark und »schade, dass das Freibad im April nicht aufhat«, wie Astrid sagte, die waren ganz bei sich und bei Clean Cut 1 und froh und glücklich, so weit ihnen das möglich war, nicht aber ich, vielleicht war es ja auch bloß das dunkle Gefühl, das noch immer irgendwo lauerte, jedenfalls fühlte ich mich noch fremder als sonst zwischen ihnen, und es gab nicht einmal die tröstende Aussicht auf eine Rückkehr zur Arbeit am nächsten Tag, sondern nur die Lüneburger Heide mit ihren St.-Magnus-Sportfreuden, und je länger der sonntägliche Freizeitspaß ging, desto trauriger wurde ich, so sehr, dass es schmerzte und ich kaum sprechen konnte, was aber keinem auffiel oder wenigstens nicht unangenehm, wahrscheinlich war es den anderen ganz recht, wenn ich mal die Schnauze hielt.
Also lag ich die meiste Zeit im Gras im Stadtpark, das trotz des guten Wetters ganz feucht war, und schaute zum Himmel, über den weiße Wolken jagten, und ich erinnerte mich daran, wie oft ich als Kind immer so im Gras gelegen und genau wie jetzt genau solche Wolken betrachtet hatte, und wie froh es mich gemacht hatte, sie da oben vorbeisegeln zu sehen, weiß und schön und strahlend und in Eile, immer weiter, einmal um die Erde herum und noch einmal und noch einmal, so hatte ich mir das vorgestellt, immer um die Erde herum und immer in Bewegung und niemals allein und immer ein bisschen anders und immer weiß und schön und strahlend.
Das war das Versprechen gewesen, dachte ich, als ich da neben den picknickenden Multitoxikern im Gras lag und die Wolken betrachtete.
Das war das Versprechen gewesen.
Am nächsten Morgen ging ich zum Bahnhof Altona. Gudrun verabschiedete mich mit den Worten, ich könne das ja wohl gut alleine schaffen, den Zug nach Uelzen könne ja wohl »jeder Döspaddel« kriegen, das hätten schon ganz andere geschafft, da brauche sie ja wohl nicht mitzukommen. Dabei hatte ich sie gar nicht darum gebeten, aber sie ging wohl zu Recht davon aus, dass Werner mitgegangen wäre, und da wollte sie wohl gleich mal ihren abweichenden, auf die Eigeninitiative und die Eigenverantwortlichkeit ihrer Schützlinge vertrauenden Standpunkt klarmachen. Sie war eine gute Seele, die alte Charityhaubitze, und ich verabschiedete mich von ihr mit einem schlechten Gewissen.
Der Bahnhof Altona war ein Sackbahnhof. Von ihm gingen alle Züge los und in ihm endeten alle Züge. Der nach Uelzen stand auf Gleis 12. Auf Gleis 10 stand der nach Berlin. Den nahm ich dann.