1. La Romantica
Ich sah Raimund Schulte lange bevor er mich sah. Ich hatte gerade Paranoia und die Tür fest im Blick, weil Werner nicht wollte, dass wir ins Eiscafé gingen, und ich hatte die Pillen abgesetzt und Angst davor, dass Werner beim nächsten Plenum aus einem Eisbecher »Monteverdi« ein großes Ding machen würde, da hätte ich kaum für mich garantieren können ohne Pillen. Aber Werner kam nicht und auch nicht Klaus-Dieter, der mich sofort aus Angst davor, von mir an Werner verpetzt zu werden, an Werner verpetzt hätte, der arme Willi. Stattdessen kam Raimund Schulte rein und sah sich um wie einer, dem der Laden gehört. Daran erkannte ich ihn sofort, obwohl er eine Vollglatze hatte statt der nach hinten gekämmten Kokserfrisur, die bis Ende der achtziger Jahre sein ganzer Stolz gewesen war. Damals hatte ich ihn aus den Augen verloren, so will ich das jetzt mal nennen, und jetzt war es Mitte der Neunziger und ich saß in Hamburg-Altona im Eiscafé »La Romantica« mit einem Eisbecher »Monteverdi« ohne Eierlikör und ohne Maraschino-Kirsche und war paranoiamäßig so sehr auf entweder Werner oder Klaus-Dieter gepolt, dass ich, als ich Raimund Schulte sah, gar nicht erst auf die Idee kam, mich hinter dem Eisbecher zu verstecken, wie ich es bei Werner oder Klaus-Dieter sofort getan hätte, im Gegenteil, ich glotzte ihn unverhohlen an, und dann sah er mich und kam zu mir rüber.
»Charlie? Bist du das?«
Ich hatte den Namen Charlie seit Jahren nicht mehr gehört und war auf eine Begegnung mit Raimund Schulte auch sonst nicht vorbereitet, und ich hätte gerne »Nein« gesagt, aber ich kriegte so schnell kein Wort raus.
»Charlie … Charlie …«
»Schmidt.«
»Schmidt, klar, Charlie Schmidt, ich bin nicht gut mit Nachnamen, aber das weißt du ja, Charlie!«
Er sah sich wieder im Laden um und trommelte dabei mit den Fingern auf die Stehtischplatte, an der ich auf meinem Hocker hockte mit dem Eisbecher »Monteverdi« und dem langen Löffel und der Zigarette, an der ich schon einige Zeit zu ziehen vergessen hatte.
»Was machst du denn in Hamburg? Ich dachte, sie hätten dich damals nach Bielefeld gebracht«, sagte er schließlich.
»Wer hat das denn gesagt?«
»Wurde so geredet. Weil du da herkommst. Oder deine Eltern da wohnen oder was!«
»Meine Mutter wohnt in Hamburg.«
»Ach so. Logisch. Kommen die hier eigentlich auch an den Tisch und bringen einem was?«
»Ja, aber du musst am Tresen bestellen.«
»Ach so.«
Er ging weg und ich bekam etwas Bedenkzeit und die hatte ich auch bitter nötig, denn ich war nicht vorbereitet und Vorbereitung war alles, da hatte Werner recht, das war einer von Werners Überlebenstipps, »Vorbereitet sein ist alles!«, das kam bei ihm noch vor »Nur dahin gehen, wo ihr’s im Griff habt!« und »Einmal ist jedesmal, nur keinmal ist keinmal!« und was er sonst noch so an Altonaer Drogen-WG-Bauernregeln auf der Pfanne hatte. Aber Werner war nicht hier und eine Weisheit für den Fall, dass ein alter Bekannter aus einer anderen Stadt und einem anderen Leben einen wiederentdeckte, hatte ich von ihm noch nicht gehört, höchstens »Zur Not weglaufen!«, das passte natürlich immer, aber zum Weglaufen war es zu spät.
»Grottige Gastro, mein lieber Schwan«, sagte Raimund, als er mit einem Bier zurückkam. »Bin eigentlich nur hier, weil ich noch fast eine Stunde auf meinen Zug nach Berlin warten muss, was ist das überhaupt für ‘ne Gegend?«
»Das ist Altona.«
»Schon klar, der Bahnhof heißt ja Hamburg-Altona, aber was ist das denn für ‘ne Gegend??!!«
»Weiß ich nicht, ich wohn hier.«
»Ja, bei deiner Mutter, irgendwie stark! Ich könnte das nicht mehr!«
»Nein, nicht bei meiner Mutter! Ich wohne nicht bei meiner Mutter!«
»Ach so, ist ja auch egal.« Er blickte sich zufrieden um und nuckelte an seiner Bierflasche.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich schließlich.
»Ich war im Studio, bei Big Boom, da mastern wir jetzt immer, die sind hier um die Ecke.«
»Wer ist wir?«
»Kratzbombe, das Label. Oder BummBumm, wir haben ja mehrere Label, eigentlich ist BummBumm natürlich das Label und Kratzbombe nur das Sublabel, aber das jetzt war für Kratzbombe, das mach ich, bei BummBumm ist meist Ferdi am Start.«
Ich musste wohl etwas doof aus der Wäsche geschaut haben.
»Wie lange bist du jetzt weg?«, sagte er.
»Seit Ende neunundachtzig.«
»O Mann«, sagte Raimund Schulte in einem mitleidigen Ton, »klar, so lange ist das schon her, kein Wunder, dann hast du ja alles verpasst!«
»Natürlich habe ich alles verpasst«, platzte es aus mir heraus, bevor ich richtig nachdenken konnte, das ging noch nicht so schnell damals, ich hatte das noch nicht so gut im Griff, den Ärger, den Zorn, die ganze Gefühlssause, »was denkst du denn?! Das war doch die Idee davon, ich bin ja nicht hierhergekommen, weil hier der Bär steppt, das ist Hamburg-Altona, Mann, hier kommt man her, um …« – mir fehlten die Worte, ja, warum kam man hierher? Um zu überleben? Das klang mir zu dramatisch. Um zu wohnen? Als ob es woanders keine Drogen-WGs gäbe, als ob nicht eigentlich sogar eine Drogen-WG in der Nähe des Altonaer Bahnhofs eine ziemlich dumme Idee war, »… um alles zu verpassen«, brachte ich schließlich den freudlosen Satz zu Ende.
»Ja, ja, schon gut«, sagte Raimund. »Ich hol mir noch ein Bier, du auch eins?«
»Kaffee. Filterkaffee, groß, schwarz.« Ich hatte keine Lust mehr zu reden. Und ich hatte keine Lust mehr auf den Eisbecher. Ich wollte aber auch nicht gehen. Dass es ausgerechnet Raimund sein musste, der mich hier aufspürte! Hätte es nicht Frankie sein können oder sonst jemand Nettes, Heidi oder Isabella oder wegen mir auch Erwin Kächele oder wie sie alle geheißen hatten, jedenfalls jemand von der warmen Seite, denn meine Vergangenheit hatte zwei Seiten gehabt, eine warme und eine kalte, so sah ich das damals, so wie es warme und kalte Drogen gab, Klaus-Dieter, der alte Multitox, hatte mir das mal erklärt, kalt Speed, warm Heroin oder so, »die warmen sind gefährlicher«, hatte er noch gesagt, aber als ich ihn gefragt hatte, ob Alkohol zu den warmen oder den kalten gehört, hatte er »beides« gesagt, der alte Quatschkopf.
Raimund kam wieder und stellte mir einen Kaffee hin, es war der falsche Kaffee, eine verlängerte Plörre aus dem Espressovollautomaten, ein Quatschkaffee, den man als solchen gleich an den vielen sinnlosen Schaumbläschen erkannte, die darauf herumschwammen. Raimund hatte recht, das Eiscafé »La Romantica« war grottig, ein Musterbeispiel für die Talentlosigkeit der Altonaer Gastronomie, die einen irgendwie immer an Schultheateraufführungen erinnerte.
»Wahrscheinlich darfst du überhaupt kein Bier«, sagte Raimund und prostete mir dabei zu. Er schluckte und schluckte, während ich pro forma die Kaffeetasse hob und gleich wieder abstellte. Draußen hatte es zu regnen begonnen und durch die Tür, die der Letzte, der gegangen war, offen gelassen hatte, drang das Wischgeräusch von Autoreifen auf nasser Straße herein.
»Muss hart sein«, sagte er, und plötzlich erinnerte ich mich, warum ich ihn immer so gern gehabt hatte: Bei Raimund Schulte wurde nicht drumherum geredet, bei ihm war immer alles eins zu eins, keine Hintergedanken, keine Anspielungen, kein Subtext, keine Metaphern, keine Rücksichten. Natürlich war das kalt, aber auch toll.
»Nicht so schlimm«, sagte ich. »Solange man rauchen kann, geht’s.«
»Rauchen hab ich mir abgewöhnt«, sagte er, »aber kein Bier, das ist hart. Darfst du denn kiffen? Ich dachte, das war bei dir wegen dem Koks gewesen oder Speed oder was ?«
»Schwer zu sagen«, sagte ich. »Ich darf gar nichts mehr.«
»Aber ihr kriegt doch immer so Pillen«, ließ Raimund nicht locker. »Was gibt’s denn da so?«
»Kommt drauf an, was man hat«, sagte ich.
»Was hast du denn gekriegt?«
»Die waren nicht so toll«, sagte ich. »Ich hab sie abgesetzt.«
»Wieso nicht so toll?«
Ich hatte schon zu viel gesagt. Ich hatte keine Lust, Raimund Schulte zu erzählen, wie fett ich von den Pillen geworden und wie grau alles gewesen war und dass die Dinger mich impotent gemacht hatten und wie ich mich über nichts mehr hatte aufregen oder freuen können. Jetzt war zwar immer noch alles grau, aber das hatte mehr mit Hamburg-Altona zu tun, und es gab nicht viel zu freuen, aber das hatte mit Werner und der WG und dem Job zu tun, und das war irgendwie besser und ich konnte mich wenigstens wieder darüber aufregen.
»Es ist nicht die Art von Pillen, an denen du Freude hättest, Raimund.«
»Ja, wahrscheinlich, sonst würde man sowas ja wohl mal angeboten kriegen. Und du darfst gar nichts mehr nehmen? Kein Bier, kein Hasch, gar nichts?«
»Nur Kaffee und Zigaretten.«
»Und ist das schwer?«
»Ja, manchmal.«
»Sag ich doch!« Raimund nahm sich eine meiner Zigaretten. »Ich nehm mir mal eine.«
»Klar. Ich dachte, du rauchst nicht mehr«, sagte ich und gab ihm Feuer.
»Nur noch ganz selten«, sagte er nach dem ersten Zug. »Nur noch bei Gelegenheit.«
Also rauchten wir einige Zeit nebeneinander her und sagten nichts, und das war eine ganz einfache Sache, sitzen, rauchen, nichts sagen, es war fast wie beim Frühstück mit Henning, nur dass bei Henning die Sache einen schwarzen Anstrich hatte, man wusste nie, ob er nicht gleich tot umfallen würde, nur um einem ein schlechtes Gewissen zu machen, Henning war unberechenbar, nicht aber Raimund, bei Raimund war alles easy going, daran erinnerte ich mich jetzt wieder, easy going, das war mal seine Lieblingsantwort auf alles gewesen, easy going, aber bis jetzt hatte er das noch nicht gesagt, vielleicht hatte er etwas Neues, fünf Jahre sind eine lange Zeit.
»Und sonst, Raimund? Wie läuft’s denn immer so?«
»O Mann!« Raimund saugte gierig an seiner Zigarette, »alles tippitoppi Mann, I love it!«
»Tippitoppi?«
»I love it, Mann, Charlie, ich sag dir, du glaubst es nicht, BummBumm, weißt du noch, wie ich dir davon erzählt hatte?«
»Wieso erzählt? So hieß doch der Club von dir und Ferdi, was gab’s denn da zu erzählen?«
»Ja, das Label auch, das mach ich auch mit Ferdi!«
»Ja, damals doch auch schon.«
»Der ist immer noch dabei, der gute alte Ferdi, der ist jetzt schon fünfzig oder so, du glaubst ja nicht, wie das in den letzten Jahren gelaufen ist, ich glaube, das ging alles erst nach deiner Zeit los.«
»Sieht so aus.« Ich wusste das Wichtigste. Ich meine, okay, ich war in Altona und wohnte mit Leuten wie Klaus-Dieter und Astrid zusammen, denn es war eine gemischtgeschlechtliche Drogen-WG, »damit ihr gleich mal nichts verlernt, so sozialkompetenz- und gendermäßig«, wie Werner immer sagte, und so eine Drogen-WG war zu Recht nicht der große Nachrichtenumschlagplatz, die Entwicklung in den Clubs betreffend, aber »einmal Junkie, immer Junkie«, wie Werner sagte, und das galt natürlich auch für den deutschen Dance, und so wie ein Junkie immer wusste, wo es etwas gab, auch wenn er nichts mehr nahm, so wusste ich natürlich, was BummBumm als Label in jenen Tagen bedeutete und in welchen Sphären Raimund und Ferdi jetzt unterwegs waren.
»Du glaubst es nicht, da kam ein Arsch aus dem Himmel und hat uns mit Geld zugeschissen, I love it, Charlie, das hätte ich nie gedacht, ich meine, wir waren ja Idealisten, oder? Wir waren doch Idealisten oder?«
»Ich ja nicht so«, sagte ich und musste lachen. Das Gespräch fing mir an Spaß zu machen.
»Dir geht’s aber ganz gut, was?«, sagte Raimund. »Scheint dir gut zu bekommen, das ohne Bier und so!«
»Ich bin noch fetter geworden«, sagte ich. »Ich rauch schon dauernd, damit ich schlanker werde.«
»Ich hab ja aufgehört«, sagte Raimund und wie zum Beweis drückte er die Zigarette aus, nachdem er noch einen letzten, tiefen Zug genommen hatte. »Ich rauch nur noch bei Gelegenheit. Aber dicker werd ich trotzdem nicht!«
»Das ist gut zu wissen«, sagte ich, »das gibt Mut für einen selber, wenn man mal aufhören will.«
»Da sagst du was.« Raimund schaute sich wieder fröhlich um. »Wovon leben die eigentlich hier? Die leben doch nicht nur vom Eisverkauf, das läuft ja wohl nicht so gut hier!«
»Keine Ahnung, Raimund.«
»Und du nimmst gar nichts mehr? Überhaupt nichts? Immer nüchtern und so?«
»Ja.«
»Hast du auch eine Telefonnummer?«
»Ja klar. Ist aber eine WG, lass dich dann nicht abwimmeln.«
Ich gab ihm die Nummer. Ich hatte zwar das Gefühl, dass ein Anruf von Raimund Schulte die Lage verkomplizieren würde, Raimund Schulte und der BummBumm-Club und Berlin und Clean Cut 1 und das Kinderkurheim Elbauen und Hamburg-Altona, das passte nicht zusammen. Aber die Nummer gab ich ihm trotzdem.
Er musste dann auch los. »Ich bin Reiseneurotiker«, sagte er. »Sagt Ferdi immer, dass ich Reiseneurotiker bin, dann muss es ja wohl stimmen.«
»Ja«, sagte ich, »wenn Ferdi das sagt …«
»Hau rein, Charlie, schön, dich mal wiedergesehen zu haben. Hab mich immer schon gefragt, was aus dir wohl geworden ist.«
»Naja, nichts Besonderes«, sagte ich.
»Machst du noch Kunst?«
»Nein.«
»Dann geh ich mal!«
Und dann war er weg. Ich hab für ihn mitgezahlt. Er hatte das vergessen. Das erste Mal seit fünf Jahren, dass ich Bier auf der Rechnung hatte!