5. Schlumheimer für Arme
Kurz nach der Fütterung liefen in der Werkstatt die Anrufe ein. Die Gruppen riefen immer in der halben Stunde an, nachdem die Kinder in den Unterricht gegangen waren, dann machte immer einer von den Erziehern Kaffee und die anderen inspizierten die Räume, um zu notieren, was alles kaputt war, und dann tranken sie Kaffee und einer rief in der Werkstatt an. Seit Rüdiger nicht mehr mitspielte und ich mir meine Zeit selber einteilen konnte, versuchte ich, mein Kaffeemachen und Kaffeetrinken mit ihrem Kaffeemachen und Kaffeetrinken zu synchronisieren, aber die Kaffeemaschine, die Rüdiger mir hinterlassen hatte, brauchte eine Ewigkeit für ihren Job, ich hätte sie längst entkalken sollen, aber so läuft das, man repariert alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, Stühle, Toilettenspülungen, Kasperletheater, Heizungen, Rasenmäher und zerbrochene Bilderrahmen, aber die eigene Kaffeemaschine zu entkalken schiebt man immer weiter vor sich her. Wer weiß, was Dr. Selge dazu zu sagen gehabt hätte, sie war ja nicht nur Psychiaterin, sondern auch Psychoanalytikerin, als solche hätte sie sicher eine interessante Theorie dazu gehabt, aber bei mir war sie nur Psychiaterin, an mich war sie analysemäßig nicht rangekommen, nicht, dass sie es nicht versucht hätte, sie hatte ja schon meine Mutter analysiert, da wollte sie natürlich auch mal die Gegenseite durchchecken, aber ich hatte das abschmettern können: »Das wäre ja Parteienverrat«, hatte ich gesagt und sie darauf: »Ich bin Ärztin, kein Anwalt, was denken Sie?!«, als ob ich das nicht gewusst hätte, als Ärztin behandelte sie mich ja schon die ganze Zeit, seit ich aus Ochsenzoll raus war, daran hatte es keinen Weg vorbei gegeben, aber Analyse, nein danke, irgendwo musste auch mal Schluss sein, man kann doch nicht jemanden an seine Ödipuskomplexe lassen, der schon die eigene Mutter analysiert hat!
Jedenfalls liefen wie jeden Tag die Anrufe ein, während die Kaffeemaschine laut vor sich hin gurgelte. Das Telefon war gleich neben der Kaffeemaschine an der Wand verschraubt, deshalb waren das anstrengende Telefonate und die Reparaturzettel waren auch gerade alle, da war ein Besuch bei Frau Schmidt und ihrem Kopierer fällig, einen hatte ich noch ausgefüllt und dann erst gemerkt, dass es schon der vorletzte war, so beginnen Tage, an denen man auf die Idee kommen konnte, sein Leben neu zu gestalten, endlich alles anders zu machen, zum Beispiel morgens erst in die Werkstatt zu gehen und die Kaffeemaschine anzumachen und dann erst in den Zoo, um die Tiere zu füttern, denn das wäre natürlich auch möglich gewesen, dass man erst einmal Rüdigers verkalkte Röchelmaschine auf ihren langen Marsch schickte, bevor man sich in der Küche vom Zoo wie immer einen Nescafé mit demselben heißen Wasser machte, mit dem man auch den Babybrei für die Affen anrührte. Aber das hatte mir immer widerstrebt. Eine Kaffeemaschine in Gang zu setzen, um sich gleich darauf am anderen Ende des Kellers einen Nescafé zu machen, das hatte irgendwie was Gieriges, Kaffeejunkiemäßiges, das hatte einen Hauch von Klaus-Dieter in seinen manischen Momenten, das roch nach Abhängigkeit und auch nach Doofheit, weil man all diese Verrenkungen ja nur machte, um nicht die Kaffeemaschine entkalken zu müssen, und wieso tat man das eigentlich nicht? Am Ende, wenn man mal ganz ehrlich zu sich selber war, was auch ohne Dr. Selges Seelenschredderei gehen musste, war es eine Frage der inneren Sicherheit: Rüdigers Kaffeemaschine entkalkt zu haben, das hätte dem Leben eine neue Qualität gegeben, jedenfalls den Anrufen aus den Gruppen, die hätte man dann schon mit einem Kaffee in der Hand, bei völliger Stille und in friedlicher Stimmung entgegengenommen, vielleicht untermalt von ein bisschen Vogelgezwitscher, das im Frühling durch die gekippten Kellerfenster eingedrungen wäre, und das wäre natürlich toll gewesen, aber die Nachteile lagen auf der Hand, denn wenn man mit dieser Art von Reform erst einmal anfing, dann war Polen offen, wie Henning, der ewige Hitlerjunge, es neulich in der Gruppe in einer Diskussion über die Gefahren von Geleebananen formuliert hatte, was Werner natürlich überhaupt nicht lustig gefunden und Henning auch gar nicht lustig gemeint hatte, so redete er halt, der alte Fähnleinführer, jedenfalls: wenn man erst einmal anfing, alles, aber auch wirklich alles im Leben einer Inspektion und Sanierung zu unterwerfen, wenn man ernsthaft sogar schon Sachen reparierte, die eigentlich noch halbwegs funktionierten, wenn auch röchelnd und sprotzend wie Rüdigers Kaffeemaschine, die ja im Grunde genommen nur den Zustand seiner Blutgefäße und das Geräusch seiner Atemwege nachbildete, dann standen auch andere Dinge zur Reformdebatte, über die man lieber nicht nachdenken wollte, auch wenn man es neuerdings wieder konnte, weil man die Pillen abgesetzt hatte, was sich allmählich bemerkbar machte.
Also waren die Anrufe aus den Gruppen auch an diesem Morgen schwer zu verstehen, die Kaffeemaschine gurgelte und brodelte und knackte, dass einem angst und bange werden konnte, aber sonst war eigentlich alles ganz okay und ich kam langsam auf andere, bessere Gedanken, die Anrufe aus den Gruppen brachten mich immer gut drauf, verstopfte Klos, kaputte Glühbirnen, herausgerissene Waschbecken, zerstörte Möbel, das waren gute Probleme, die man schnell und einfach lösen konnte, und dann waren alle dankbar und freuten sich, und solange sie mich brauchten, sagten die Erzieher, wenn sie anriefen, auch gerne alles dreimal, weil die Kaffeemaschine eben so laut war, und die Erzieher warteten auch gerne, bis ich endlich kam und mich kümmerte, es brachte ja nichts, wenn man sich wegen dem ersten verstopften Klo gleich mit dem Pümpel auf den Weg machte, nur damit sich die anderen Erzieher in der Zwischenzeit wegen neuen Glühbirnen oder sonstwas die Finger mit der Werkstattdurchwahl wundwählten, und dann musste ich ja auch noch warten, bis die Kaffeemaschine durch war und ich das schwarze Zeug, das sie produzierte, getrunken hatte, das gehörte zum Ablauf, war Teil der Kette verlässlicher Ereignisse, die meinen Tag unterteilten wie das gute alte Bummbumm den deutschen Dance.
An den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte, wie ich dachte, als ich eine Stunde später die Gruppe vier verließ, in der linken Hand den Pümpel, schön abgespült, vom Spülwasser sogar noch tropfnass, aber trotzdem oder vielleicht sogar gerade deswegen von allen, die mir entgegenkamen, misstrauisch beäugt. Schon lange nicht mehr gedacht an den deutschen Dance, dachte ich, so hatte Ferdi ihn immer genannt, was irgendwie seltsam nach Siebzigerdisco und James Last klang, da hatte sich Raimund öfter mal dagegen verwahrt, dass Ferdi das, was Raimund meistens »unser Ding« oder »House« nannte, als deutschen Dance bezeichnete, »das ist doch Ilja-Richter-Scheiße«, hatte er dann immer gesagt, sie waren ein lustiges Paar gewesen, die beiden, jedenfalls den deutschen Dance hatte ich eigentlich schon ziemlich lange ziemlich gut verdrängt, aber das Telefonat mit Raimund hatte alles wieder hochgebracht, wie mir klar wurde, als ich Gruppe vier verließ und auf einmal merkte, dass ich ein Bummbumm vor mich hinflüsterte und dazu ein bisschen zuckte, Pümpel in der linken, kaputter Stuhl in der rechten Hand, irgendeiner von den kleinen Stumpfmeiern hatte einen Stuhl kaputtgemacht, nichts, was ein bisschen Ponal nicht aus der Welt schaffen konnte, das rechte vordere Bein war abgebrochen, das trug ich unter den linken Arm geklemmt, und in der Armbeuge des rechten Arms hatte ich auch noch den Einkaufskorb, in dem ich immer die Glühbirnen transportierte, der war jetzt aber, weil ich gerade mit allem durch war, leer, das musste wohl etwas komisch ausgesehen haben, Pümpel, Stuhlbein, Stuhl, Einkaufskorb, leises Bummbumm und dann das Zucken, es war wohl doch nicht nur der Pümpel, der Gabi und Heidrun, zwei Erzieherinnen von Gruppe acht, die mir entgegenkamen, so angewidert gucken ließ, die Erzieherinnen von Gruppe acht waren eher so Muttis, auf die ganz Kleinen ließen sie immer die Muttitypen los, wahrscheinlich brauchten sie das, die kleinen Heulsusen, Heimweh war bei ihnen schlimmer als Durst, genau wie bei mir, nur dass ich wegen dem Durst nicht nach Hause durfte, wie ich kurz und etwas albern dachte, als nun eben Gabi und Heidrun naserümpfend an mir vorbeigingen und der deutsche Dance, der ja nun wirklich für all das nichts konnte, mich in seiner Gewalt hatte, was mich gut draufbrachte, erstaunlicherweise, würde ich mal sagen, weil ich nämlich diesmal beim Gedanken an die ganze Bummbummigkeit überhaupt nicht mehr dieses Heimwehding verspürte, das mich sonst manchmal überkam und hier überhaupt allgegenwärtig war und wohl auch die kleinen Hooligans in Gruppe vier und anderswo immer dazu brachte, ihre Stühle zu zerdeppern oder das Klo zu verstopfen oder zu weinen oder wegzulaufen oder was immer sie so taten, um ihr Schicksal zu beklagen, jedenfalls hatte ich plötzlich gute Laune, vielleicht auch wegen der blöden Gesichter von Gabi und Heidrun, denn das hatte was, wenn einen zwei so Mutterkreuzlerinnen angewidert anstarrten, jedenfalls beschloss ich, gar nicht erst runterzulaufen und den Krempel in der Werkstatt abzuladen, sondern lieber gleich und sofort und samt Pümpel und Stuhl und Stuhlbein und Einkaufskorb zu Frau Schmidt zu gehen und mir sofort ihre Vorträge wegen Tipp-Ex-Preisen und Papierknappheit und was sonst noch immer so an Quatsch aus ihr rauskam, anzuhören, ich hatte einen mutigen Moment und solche Momente waren nicht so häufig in meinem Leben, dass ich diesen hier ungenutzt hätte verstreichen lassen können.
»Frau Schmidt, ich muss mal was kopieren«, sagte ich. Bei Frau Schmidt stand »ohne klopfen eintreten« an der Tür, da platzte man einfach rein, sie wollte es ja nicht anders. Ich hielt die beiden Reparaturformulare hoch, die ich noch hatte, das eine noch unbeschrieben, das andere schon ausgefüllt, und dazu schwenkte ich den Pümpel – Stuhl, Stuhlbein und Einkaufskorb hatte ich vor der Tür gelassen, da standen sie nun als kleine Installation auf dem Flur, es hatte gleich ein bisschen nach Schlumheimer ausgesehen, wie der Embryo einer großen Schlumheimerinstallation, und der ist jetzt auch schon tot, hatte ich gedacht, nachdem ich das irgendwie schlumheimermäßig aufgetürmt hatte, der Stuhl stand ja auf seinen drei Beinen nicht mehr richtig, da musste man das erst ein bisschen arrangieren, aber den Pümpel hatte ich mit reingenommen, warum auch immer.
»Igitt, lassen Sie das draußen«, sagte Frau Schmidt und zeigte auf den Pümpel, sie hielt sich dabei sogar die Nase zu, das hatte schon wieder irgendwie Klasse, sie hasste mich zwar, aber jemand, der sich beim Anblick eines frischgewaschenen Pümpels die Nase zuhält, kann kein ganz schlechter Mensch sein, so jemand hat wenigstens Fantasie und Gestaltungskraft.
»Gern, ich hab nur Angst, dass mir den einer klaut«, sagte ich. »Da sind die alle ganz scharf drauf. Und dann müsste ich einen neuen kaufen, und dann beschweren Sie sich wieder, dass wir so viel Geld brauchen, Herr Wieczorek und ich.«
»Das Ding bleibt draußen, das kommt mir hier nicht rein«, sagte sie.
Also ging ich wieder raus und stellte den Pümpel zu Stuhl, Stuhlbein und Einkaufskorb dazu, aber der Pümpel passte nicht so gut da rein, mit Pümpel sah es nicht so gut aus wie ohne Pümpel, der Pümpel war arschklar over the top und machte mir den ganzen schönen Protoschlumheimer kaputt, ich musste erst noch einen Papierkorb dazustellen, dann ging es wieder, dann glich sich das irgendwie aus und ich konnte wieder zurück zu Frau Schmidt.
»Reparaturformulare«, rief ich im Hineinkommen, um ihr gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, und dazu schwenkte ich die beiden Zettel, die ich noch hatte, »ich brauche neue Reparaturformulare!«
»Da ist der Kopierer«, sagte sie und sah dabei auf die elektrische Schreibmaschine, in die sie hineinhämmerte, was sie aus ihrem Kopfhörer eingeflüstert bekam, sie konnte das alles gleichzeitig, das eine sagen und was anderes dabei anhören und auch noch in ihre Maschine tippen, eine tolle Frau eigentlich, sie sah auch nicht schlecht aus, obwohl sie schon um die fünfzig war, irgendwie sexy, das kommt davon, dachte ich, wenn man die Pillen absetzt, es dauert nicht lange, dann kommt der Notstand und dann ist sogar Frau Schmidt sexy.
»Ich brauche aber Tipp-Ex«, sagte ich.
Sie hörte auf zu tippen und nahm entnervt ihren Kopfhörer ab.
»Was wollen Sie denn mit Tipp-Ex?«
»Ich muss das hier wegmachen«, sagte ich und zeigte auf die Schrift auf dem Reparaturzettel, den ich im Eifer des Gefechts schon vollgeschrieben gehabt hatte. »Ich brauche ja zwei davon, weil das doch DIN A5 ist und die Kopien DIN A4, dann muss ich ja zwei auf den Kopierer legen, und der eine ist schon vollgekritzelt, da brauch ich mal eben Tipp-Ex, ist doch logisch.«
»Logisch ist, wenn Sie den anderen, der noch leer ist, erst einmal kopieren, dann haben Sie zwei leere Formulare, die Sie auf den Kopierer legen können, und mit denen machen Sie dann die ganzen nächsten Kopien!« Sie setzte den Kopfhörer wieder auf und tippte weiter. Eine tolle Frau, keine Frage, aber auch böse, also ging ich zum Kopierer und tat, was sie mir vorgeschlagen hatte, man muss wissen, wann man verloren hat.
Ich war gerade fertig und wollte mich rausschleichen, zurück zu meinem Schlumheimer für Arme, als sich die Tür von Dr. Selges Büro öffnete und Dr. Selge, die Leiterin des Kinderkurheims Elbauen höchstselbst, in Frau Schmidts Vorzimmer kam. Ich wusste nicht genau, ob ich sie grüßen sollte, sie sah ja nicht zu mir her, sondern steuerte auf Frau Schmidt zu, »wer hereinkommt, grüßt«, heißt es, aber auch »der Mann grüßt zuerst« und »jung grüßt alt«, und eine Frau und alt war Dr. Selge, sie sah sogar noch ein wenig älter aus als sonst, irgendwie übernächtigt, und schweren Schritts steuerte sie auf Frau Schmidt zu, die immer weiter tippte und tippte, und ich raffte schnell meine Kopien zusammen und machte mich auf den Weg zur Tür, aber da hatte sie mich schon gesehen und rief: »Ach Karl, das trifft sich gut, bleiben Sie doch noch eben«, denn das war der Kompromiss gewesen, den sie seinerzeit, als ich ihr Patient und Angestellter wurde, für die Anrede gefunden hatte, sie wollte mich eigentlich duzen, weil sie mich als Kind schon gekannt hatte, sie war ja die beste Freundin meiner Mutter und wahrscheinlich auch der Grund dafür gewesen, dass meine Mutter mit mir damals nach Hamburg gezogen war, da war ich schon vierzehn gewesen und mein Vater gerade tot, jedenfalls kannte mich Dr. Selge, seit ich denken konnte, sie hatte wegen ihrer großen Freundschaft mit meiner Mutter auch vorher schon den Weg nach Bielefeld nie gescheut, ein gern gesehener Gast war sie in Ostwestfalen gewesen, deshalb hatte sie mich, als ich mit der lockeren Schraube in ihre psychiatrische Behandlung kam, zunächst hemmungslos angeduzt und ich hatte sie, um gar nicht erst das alte Tante-Marianne-Ding wieder anzufangen, gnadenlos zurückgesiezt und in die Ecke gedoktort, und am Ende hatte sie sich mit sich selbst darauf geeinigt, mich zu siezen und Karl zu nennen, die blödeste Lösung, wenn man erstmal drüber nachdenkt.
»Bleiben Sie bitte, ich möchte noch mit Ihnen sprechen, ich versuche Sie schon den ganzen Morgen zu erreichen, wo sind Sie denn gewesen?!«, sagte sie und nun schauten mich beide Frauen an, Frau Schmidt und Dr. Selge, es war ein bisschen wie mit Heidrun und Gabi, den Muttis von Gruppe acht, und ich hätte gerne den Pümpel wiedergehabt, um auch symbolisch die Kluft zwischen ihnen, den Macht- und Geistesmenschen, und mir, dem Mann von Tat und Faust oder jedenfalls dem, der die Scheiße wegschiebt und -saugt, zu unterstreichen, der Pümpel war ein starkes Symbol, zu stark wahrscheinlich für den kleinen Schlumheimer, er hatte die ganze Aufmerksamkeit aufgesaugt, deshalb der Papierkorb, eine Installation mit Pümpel konnte gar nicht groß genug sein, der Pümpel war in einer Installation sowas wie der Wermut im Martini-Cocktail, je weniger, desto besser, dachte ich, während ich darauf wartete, dass Dr. Selge ihren Kram mit Frau Schmidt in halblautem Ton durchgesprochen hatte, und je länger das dauerte, desto leiser wurde Dr. Selge, ein zischendes Tuscheln war das und sie guckten dabei immer öfter zu mir rüber, die trauten sich was, einen Halboder Ex-Irren oder was ich gerade für sie darstellte, so anzustarren, aber wahrscheinlich war bei Dr. Selge das Wort »Paranoia« nicht auf meinem Anamnesebogen angekreuzt!
»So Karl, und Sie könnten doch einfach mal eben mit mir in mein Büro kommen«, sagte Dr. Selge schließlich mit einem Blick auf mich. Seit ich sie nicht mehr Tante Marianne nannte, baute sie, wenn sie mit mir sprach, immer so komische Sätze, ich war sicher nicht ihr Wunschpatient, sie wollte wohl nur meiner Mutter eine beste Freundin sein, die alte Seelenklempnerseele. Ich folgte ihr in ihr Büro und schloss die Tür hinter mir und wir waren unter uns.
Irgendwie mochte ich an Dr. Selge, dass sie immer einen weißen Kittel anhatte, das hatte Stil und Klasse, es schaffte zugleich Distanz und Vertrauen, es war ein schönes Zeugnis dafür, dass sie eben doch mehr Psychiaterin als Analytikerin war, von Heimleiterin ganz zu schweigen, eine Couch hatte sie auch nicht in ihrem Büro, als Analytikerin war sie nur zu Hause unterwegs, im Hauptberuf teilte sie Pillen aus und legte Elektroden an die Schläfen, naja, Letzteres wohl nicht mehr, das war aus der Mode, und die meiste Zeit verbrachte sie wohl sowieso damit, das Kinderkurheim Elbauen stümperhaft zu verwalten, aber mir gefiel der Gedanke, dass sie insgeheim eine von diesen Horrorfilmpsychiatern war, so doktormabusemäßig, wie sie mit blutverschmiertem Kittel Schädel öffnete und darin herumfuhrwerkte und Frau Schmidt nebenbei qualmend elektroschockte, das war zwar ziemlicher Quatsch, aber es half einem über die Zeit hinweg, in der man in ihrem Büro abhängen und darauf warten musste, dass sie sich endlich an ihren Schreibtisch gesetzt hatte, einem endlich einen Stuhl angeboten hatte, endlich die nötige Akte aufgeschlagen hatte, endlich unter Seufzen und Stöhnen ein paar Seiten darin umgeblättert hatte, sich endlich die Brille abgenommen, die Augen gerieben und die Brille wieder aufgesetzt hatte, sie machte es gern spannend, denn gespannt war ich, da musste man sich nichts vormachen, dies war nicht eine der regelmäßigen Kontrollsitzungen, in denen sie meine Entwicklung ohne die Pillen kontrollierte, das musste nämlich »engmaschig« geschehen, wie sie es immer nannte, »engmaschige Kontrolle des Verlaufs«, das war ihr Ding, aber dafür war es zu früh in der Woche, so engmaschig schossen die Verlaufskontrollpreußen dann doch nicht, »diese Substanzen bauen sich langsam ab, das dauert«, hatte Dr. Selge beim letzten Mal gesagt und wenn ich mich richtig erinnerte, war die nächste Verlaufskontrolle erst in zwei Tagen fällig. Es sah auch nicht so aus, als wollte sie mir gleich den Blutdruck messen und den ganzen anderen Kram machen, mit dem sie sonst immer die Verlaufskontrollsause eröffnete, sie hatte ja auch viel zu viel mit Augenreiben zu tun, das war nicht ihr Tag, das konnte man gleich sehen, nur äußerstes Pflichtgefühl hielt sie bei der Stange. Wahrscheinlich hatte sie vom Vortag noch einen sitzen, vielleicht hatte sie eine kleine Rotweinsitzung mit meiner Mutter unternommen, ihr Weinkeller war legendär, jedenfalls bei mir, eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen war eine Unterhaltung meiner Eltern über den Weinkeller von Tante Marianne, und nun fing sie endlich an zu reden, mein Gott, inzwischen dürfte sogar Rüdigers Kaffeemaschine, die im Keller an ihrer zweiten Runde arbeitete, in die Zielgerade eingebogen sein.
»Das ist mir jetzt unangenehm, Karl, aber ich habe erst jetzt bemerkt, dass Sie noch vier Wochen Urlaub aus dem letzten Jahr übrig haben. Sie haben ja überhaupt keinen Urlaub genommen im letzten Jahr. Ich weiß gar nicht, wie Herr Wieczorek das übersehen konnte.«
Das war gelogen, sie wusste ganz genau, wie der liebe Rüdiger das übersehen konnte, er konnte es genauso übersehen, wie er alles andere übersehen konnte, das nicht auf Flaschen gezogen war.
»Das ist nach dem BAT, nach dem Sie ja hier eingestellt sind, eigentlich schon mal überhaupt nicht zulässig. Das sind zwanzig Urlaubstage, das ist ja Ihr ganzer Jahresurlaub!«
Sie sah mich erwartungsvoll an und ich nickte, um die Sache voranzubringen.
»Das geht natürlich nicht, dass Sie Ihren Urlaub nicht nehmen, und jetzt bin ich in einer schwierigen Lage, denn den müssen Sie jetzt gleich nehmen, weil es, das glaube ich jedenfalls, zwar in außergewöhnlichen Situationen die Möglichkeit gibt, dass …« – sie redete weiter und ich hörte zu, ohne zu verstehen, und ihre Sätze wurden auch immer verschraubter, »… man einen Urlaubsanspruch in das darauffolgende Kalenderjahr verschiebt, aber das kann man nur insoweit verrechnen und nur so lange, als man die überschüssige Urlaubszeit dann …« – das ging so weiter und weiter und meine Gedanken wanderten anderswohin, da konnte ich gar nichts dagegen tun, ich dachte zum Beispiel an das erste Jahr in Clean Cut 1 und in diesem Job hier, und wie ich damals Urlaub gehabt hatte, und wie ich in Clean Cut 1 herumgehangen hatte wie bestellt und nicht abgeholt, bis Werner mich schließlich für den Rest der Zeit und ab da jedes Jahr wieder in eine Reha-Klinik geschickt hatte, wo sie mich unter Kontrolle hatten und Sport treiben ließen, denn in den Heilstätten St. Magnus in der Lüneburger Heide hatten sie noch eine hohe Meinung von dem guten alten Mens-sana-in-corpore-sano-Ding, Gymnastik, Yoga, Dauerlauf, Wassertreten, Ballspiele, Hauptsache der Körper war beteiligt, das war schon beeindruckend in seiner geistlosen Konsequenz, das war so hartnäckig stumpf gewesen, das es schon wieder gut gewesen war, aber nur als Idee, als Urlaub war es die Hölle gewesen, vielen Dank auch, Werner, du alte Sozialhaubitze – »… nur gut, dass wir endlich einen neuen Hausmeister bekommen.«
»Was?«
»Na, den neuen Hausmeister.«
»Was für einen neuen Hausmeister? Was ist denn mit Herrn Wieczorek?«
»Herr Wieczorek ist krank, lieber Karl, das habe ich doch eben gesagt, und das kann doch auch Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass Herr Wieczorek gesundheitliche Probleme, Sie haben doch die ganze Zeit die Arbeit für ihn mitgemacht, es ist ja nicht so, dass das hier nicht bemerkt wurde, wenngleich mir ja nie klar gewesen ist, dass …«
»Was denn für gesundheitliche Probleme?«, stellte ich mich doof.
»Das wissen Sie doch, und Sie wissen doch auch, dass ich Ihnen sowas nicht sagen darf, ich bin doch die Leiterin hier, und dann die Schweigepflicht, aber es kann ja nicht sein, dass Sie nicht wissen, was ich meine, Sie wissen doch, was ich meine, oder etwa nicht, kann es denn sein, dass Sie nicht …«
»Wann kommt denn der neue Hausmeister? Ich meine, egal eigentlich, ich könnte doch …« Ich fing an zu schwitzen. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war ein neuer Hausmeister. Die letzten zwei Jahre war ich hier der Hausmeister gewesen, da konnten sie doch nicht einfach einen neuen Hausmeister einstellen, als wenn ich gar nicht da wäre.
»Ich habe doch« – ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte, »ich könnte doch einfach, ich meine, ich könnte doch der neue Hausmeister sein, ich hab doch die ganze Zeit …« Ich brach ab, es war lächerlich und Dr. Selge lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf und schloss auch noch die Augen dabei, gütig, milde, verständnisvoll, die gute alte Tante Marianne, fehlte nur noch, dass sie eine Tüte Salinos dabeihatte oder irgendeinen Hamburger Süßigkeitenfolklorequatsch, sie hatte oft so harte Bonbons mitgebracht, die hatten einen so dämlichen Namen gehabt, dass ich ihn als Kind vor Scham immer gleich wieder vergessen hatte.
»Das geht natürlich nicht, das ist natürlich nicht vorgesehen, das ist ja mit Wohnen im Hausmeisterhaus und mit den Schlüsseln und allem, das ist ja eine Sache der Qualifikation auch, das ist ja …«
»Und was wird aus Herrn Wieczorek?«
»Herr Wieczorek ist sehr krank.«
»Ja schon, aber was wird aus ihm?«
»Er ist in ein Programm aufgenommen worden, wo man ihm hilft, mehr sage ich nicht, da sage ich eigentlich schon zu viel, der neue Hausmeister fängt nächste Woche schon an. Wir haben ja in den letzten Wochen schon nach einem gesucht, das hat sich ja alles schon seit langem angekündigt, wir konnten bloß nicht früher, also ohne dass wir, können Sie den neuen Hausmeister denn nächste Woche ein bisschen vertraut machen mit allem? Nur ein, zwei Tage? Danach müssen Sie dann aber in den Urlaub gehen, das kann man beim besten Willen nicht länger hinauszögern, was meinen Sie, was ich da für Schwierigkeiten kriege?!«
Sie machte eine kleine Pause, aber ich sagte nichts.
»Das ist ein ganz netter Mann, Sie werden sich sicher gut mit ihm verstehen, wir hatten viele Bewerber und das ist ein ganz netter Mann und um einen neuen Tierpfleger kümmere ich mich als nächstes, ich habe das ja viel zu lange schleifen lassen, ich habe ja gar nicht gemerkt, dass Sie da ganz auf sich allein gestellt waren, am Ende bin ich wohl doch mehr Ärztin als Arbeitgeberin, also jedenfalls Leiterin, sicher, aber auch als Ärztin hätte ich da ja mal drauf achten können, warum haben Sie mir denn nicht erzählt, dass Sie das alles alleine machen? Und an den Wochenenden auch!«
»An den Wochenenden sind das ja bloß die Tiere, dass die gefüttert werden, und Herr Meining macht da ja auch noch mit, der macht ja auch Wochenenddienst.« Herr Meining war der Tiertherapeut, der löste mich jedes vierte Wochenende beim Tierfüttern ab, mehr war nicht drin gewesen, er hatte Familie, die war ihm heilig.
»Das ist ja höchste Zeit, ich habe das viel zu lange so laufen lassen, und das tut mir auch leid, ich habe mich da viel zu sehr auf Herrn Wieczorek verlassen, das geht ja nun wirklich nicht, dass Sie da für alle die Arbeit machen, auch das mit dem Tierpfleger, da kümmern wir uns als nächstes drum, das ist ja schon lange überfällig.«
Sie schaute mich erwartungsvoll an, aber ich wusste nicht, was sie jetzt von mir hören wollte, die alte Verwaltungspfuscherin. Ein neuer Hausmeister, ein neuer Tierpfleger und Urlaub. Und alles, ohne mich zu fragen. Wenn das hier so läuft, dachte ich, wenn das hier so läuft, wenn das hier so läuft, wenn das hier so läuft, wenn das hier so läuft, dachte ich, wenn das hier so läuft, dann …
Dann was?