66. Poppenbüttel

»Ich bin gegen Bolek«, sagte Rosa, »das ist doch makaber, dann tut man doch so, als ob diese Meerschweinchen total austauschbar wären. Wir werden doch wohl noch in der Lage sein, uns einen neuen Namen für ein Meerschweinchen auszudenken!«

»Finde ich auch«, sagte Holger. »Bolek geht auf keinen Falb«

»Bolek geht schon deshalb nicht«, sagte ich, »weil Bolek noch lebt!«

Wir waren wieder alle zusammen, aber statt noch eine Hafenrundfahrt zu machen, wie Ferdi eigentlich gewollt hatte, waren wir auf dem Weg nach Poppenbüttel, um ein neues Meerschweinchen zu besorgen, denn Ferdi sollte, wie Raimund es nannte, »mal lieber den Kopf unten und den Ball flach halten, denk an Schrankenhusen-Quatschel«, und alle hatten dem zugestimmt, »nie wieder Hafenrundfahrt« hatte Schöpfi gerufen, und alles, was Ferdi noch hatte anbringen können, war ein mauliges »Aber wenigstens hinterher nochmal Fisch essen« gewesen, was Raimund mit einem gönnerhaften »Vielleicht, mal sehen, wenn du brav bist, Ferdi« beschieden hatte, und so, wie sich die Fahrt nach Poppenbüttel hinzog, war schon mal klar, dass es ein spätes Fischessen werden würde, Hamburg hörte und hörte einfach nicht auf, wir fuhren und fuhren und fuhren durch Knatterwind und Regen einem Poppenbüttel entgegen, das lange Zeit nicht näherkommen wollte, und dort angekommen kurvten wir, immer schön den Stadtplan zurate ziehend, kreuz und quer durch die Vorstadthölle auf der Suche nach einer Straße namens »Grotenkniepen«, die nicht einfach zu finden war, jedenfalls nicht für uns, eine »Wagenladung verpeilter Raver, die von einem Halbirren gefahren« wurde, so hatte Sigi das in einem Anfall schlechter Laune genannt, als wir gerade das dritte Mal an der Kreuzung Henningstwiete und Kakenfleet landeten und der Stadtplan für das weitere Vorgehen von Basti an Raimund wechselte, der, wie er sagte, »der verdammten Folkloresauerei hier mal ein Ende machen« wollte. Schließlich klappte das auch und wir gelangten an ein Haus mit der richtigen Grotenkniepennummer und Raimund sagte zu Ferdi, dass es nun Ferdis verdammte Schrankenhusen-Wiedergutmachungspflicht sei, mit den anderen zusammen in das Haus zu gehen und ja nicht ohne ein Meerschweinchen wieder herauszukommen, wobei ich zu bedenken gab, dass man mit dem Züchter ja auch darüber verhandeln könne, ob er nicht lieber Bolek zu sich nehmen wolle, dann wäre Bolek ja nie wieder allein und könne dort sein Gnadenbrot kriegen, aber da war Holger dann dagegen, er wollte sich nicht noch einmal von Bolek trennen, beim letzten Mal habe er das schon fünf Minuten später bereut, irgendwie sei Bolek ja auch ein Stück Lebensgeschichte, und ich hielt ab da lieber die Klappe und ging auch nicht mit rein, ebensowenig wie Raimund, der zwar alle anderen mit den Worten: »Nun aber mal ein bisschen gemeinschaftliche Aktion, tut es für Bolek!«, aus dem Auto und in das Haus mit dem Meerschweinchenzüchter scheuchte, selber aber auf dem Beifahrersitz sitzenblieb. Und als er sah, dass sich Anja und Dubi auf der hintersten Rückbank versteckt hatten, wurde er grob und sagte, wer nicht mit zum Meerschweinchenholen gehe, würde später auch keinen Fisch bekommen, und als Anja erwiderte, dass sie Vegetarierin sei, konterte er das mit den Worten, sie solle das Meerschweinchen ja auch nicht essen, sondern aussuchen helfen, woraufhin die beiden widerwillig das Auto verließen und den anderen durch die Gartenpforte des Meerschweinchenzüchterhauses hinterherliefen.

»Endlich«, sagte Raimund, als wir allein waren. »Wollte mal in Ruhe mit dir reden, Charlie. Das ist doch alles scheiße!«

»Was alles?«, sagte ich.

»Na alles. Vor allem Schrankenhusen-Dingsda! Ich wollte mal in Ruhe mit dir reden, Charlie. Schau dir den an!« Schöpfi kam durch die Gartenpforte und lief den Grotenkniepen in die andere Richtung hinunter, weg vom Auto. »Wo der wohl hinwill? Heute ist echt der Wurm drin, die sind ja drauf wie Hühner bei Gewitter!«

Ich hörte mir das an und dachte mir nichts dabei, ich war einfach nur froh, dass alle wieder zusammen waren, in Schrankenhusen-Borstel hatte ich mich ziemlich allein gefühlt und mich noch den ganzen Morgen geärgert, dass ich die Sache mit den Rollstuhlfahrern nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, das hätte ich gerne miterlebt, nicht aber Raimund: »Schrankenhusen-Borstel, grausam! Ferdi baut ab, da müssen wir doch nicht drüber reden. Schau dir den mal an, der wird doch alt. Der geht ja schon wie ein alter Mann und dann die dünnen Beine!«

»Was haben denn dünne Beine damit zu tun?«

»Das sind irgendwie so Altmännerbeine!«

»Jetzt hör aber mal auf.«

»Und hast du gemerkt, wie Sigi drauf ist?«

»Ja klar«, sagte ich, »die meckert mich immer so an. Ich frag mich schon die ganze Zeit, was ich ihr eigentlich getan habe!«

»Das musst du doch wissen, sowas weiß man doch.«

»Das einzige, was ich weiß, ist, dass wir vor Jahren mal Sex hatten«, gab ich zu, »aber das ist ja schon ewig her.«

»Wann denn?«

»Weiß nicht mehr, irgendwann in den Achtzigern. Aber so schlecht war das eigentlich gar nicht, und deshalb ist man doch nicht …«

»Quatsch«, sagte Raimund, »wegen Sex in den Achtzigern ist man doch nicht sauer auf einen! Was soll daran denn falsch sein? Außerdem ist sie zu allen gleich scheiße. Sie kann ja nicht mit jedem was gehabt haben. Oder doch? Ich glaube auf jeden Fall, sie hat was mit Ferdi, sie guckt ihn immer so an oder nee, besser: sie guckt ihn immer extra nicht an. Und redet auch nie mit ihm. Und wir werden immer alle von ihr ausgeschimpft, nur Ferdi nicht, mit dem redet sie gar nicht. Ich glaube, da läuft was.«

»Kann sein.«

»Ich glaube, da läuft was, und Ferdi will das geheim halten, wegen mir!«

»Wieso wegen dir?«

»Weil ich mit Sigi mal zusammen war, und jetzt hat sie was mit Ferdi, und Ferdi will nicht, dass das zwischen uns steht, also zwischen ihm und mir jetzt, also dass das Folgen hat für BummBumm, und darum können sie zu ihrer Liebe nicht stehen, darum müssen sie sie geheimhalten, nur der Mond ist Zeuge und so, voll der Kitschroman! Voll das Goldene Blatt!«

»Bist du denn eifersüchtig?«

»Ich doch nicht!« Raimund steckte sich eine Zigarette an. »Das ist doch alles Groschenromanstheiße!«

»Und was soll das dann?«

»Mein ich ja: Ferdi wird alt. Guck dir nur seine Beine an, wie der läuft, wie ein alter Mann, so o-beinig und so unelastisch, der ist schon über fünfzig, wusstest du das?«

»Ja. Merkt man ihm aber eigentlich nicht an.«

»Du musst nur auf die Beine achten.« Raimund schaute aus dem Fenster und rauchte wie wild. »Nur auf die Beine achten.«

»Habt ihr euch denn jetzt wieder vertragen?«

»Ja, Hand gegeben, warst du doch dabei. Und er hat sich entschuldigt. Für Schrankenhusen-Borstel. Immerhin!«

»Ich finde das nicht richtig, Raimund. Wegen sowas sollte man sich nicht entschuldigen müssen.«

»Entweder sind wir Hippies, dann hätte er auf die Mehrheit hören sollen, oder wir sind keine Hippies, dann ist das auch nicht Magical Mystery.«

»Sehe ich anders. Das ist doch gerade Magical Mystery, ich meine, ihr geht auf so eine Tour und fahrt zu einer Dorfdisco und dann legt ihr da für Rollstuhlfahrer den BummBumm-Sound auf, das ist doch …«

»Kratzbombe. Eigentlich sollte das ein Kratzbomben-Ding sein, aber das hat doch bis jetzt überhaupt nicht funktioniert, das ist doch noch bei niemandem angekommen, Kratzbombe nicht und Magical Mystery eigentlich auch nicht, das ist ja auch so ein Problem. Weil keine richtige Promo gelaufen ist.«

»Dann wird sich das eben herumsprechen!«

»Da spricht sich nicht viel herum. Heute noch Hamburg und morgen dann die Springtime, das war’s dann, mit dem Magical-Mystery-Ding können wir höchstens auf der Springtime angeben, aber was da erzählt wird, hat doch eh nichts zu bedeuten!« Raimund stopfte seine Zigarette in den Aschenbecher. »Bei der Springtime zählen nur harte Fakten: Wer’s bringt und wer’s nicht bringt. Die scheißen auf Magical Mystery. Weißt du eigentlich, dass Ferdi Dave gefeuert hat?«

»Wieso?«

»Weil er nicht nach Schrankenhusen-Borstel gefahren ist. Der ist einfach mit Hans in Hamburg geblieben und hat Party gemacht, da hat Ferdi Hans von Schrankenhusen-Borstel aus angerufen und der ging im Fisch-Club an sein Handy, der Depp! Und das erste, was er gesagt hat, war: Du willst sicher Dave sprechen. Da war natürlich alles klar! Und Ferdi schmeißt ihn gleich am Telefon noch raus. Kann man nichts machen. Ich kann ihm bei sowas nicht in den Rücken fallen. Aber das ist doch Altersstarrsinn! Wegen Schrankenhusen-Borstel!«

»Und Hans?«

»Hans kann er ja nicht feuern. Außerdem macht der uns die Lounge. Der hängt da die Lappen auf. Wir sind die einzige Lounge, wo einer Kunst aufhängt. Das ist doch Ferdis großes Ding, Hans ist doch voll sein Liebling!« Raimund schwieg und dachte nach. »Jedenfalls ist Dave jetzt weg. Und wir brauchen einen, der Daves Arbeit macht.«

»Wieso Daves Arbeit, was soll das denn für Arbeit sein?«

»Bis jetzt war das nicht so wichtig, aber bei der Springtime, da sollte Dave sich um die ganze Gastro kümmern.«

»Welche Gastro?«

»Du kennst die Springtime überhaupt nicht, oder?«

»Nein.«

»Mann, Charlie, das ist in der Ruhr-Emscher-Halle. Weißt du eigentlich, wie groß die ist? Die ist riesig. Da kommen über zwanzigtausend Leute. Das macht Magnetic, die haben sich das ausgedacht.«

»Ja gut, aber dann muss Dave doch wohl nicht für alle die Gastro machen!«

»Nein. Aber alle coolen Labels, jedenfalls die, die Geld haben, haben doch da ihre Lounges. Wir auch. Die kann man mieten. Das sind so ‘ne Art Kneipen, so Logen, die sehen innen aus wie Prollkneipen, aber du kannst durch so Fenster in die Halle gucken und die auch aufmachen. Und wir sagen natürlich nicht Loge, wir sagen Lounge!«

Er machte eine kurze Pause und sah mich erwartungsvoll an, also sagte ich: »Okay.«

»Und dann mit Bier und so«, fuhr Raimund fort. »Und alle müssen mithelfen, Bierzapfen und so, vor allem die Praktikanten, ist ja klar, Bier umsonst für alle, die reinkommen, also nur die coolen Leute, die von den anderen Labels und so, das ist dann sowas wie eine Mega-Backstage, da sind alle, die da auflegen und die Label-Leute und was weiß ich wer noch. Und einer muss sich da um alles kümmern, bei uns in der BummBumm-Lounge jetzt, also alle müssen mithelfen, aber einer muss sich kümmern, dass genug Bier da ist und dass neues Bier geliefert wird und dass keiner Scheiß baut und was weiß ich nicht alles, und einer muss doch auf die kleinen Mauken achten, sonst laufen die doch total aus dem Ruder!«

»Und das sollte Dave machen?«

»Ja klar, der ist doch so ein Spießer! Der hätte das dann schon irgendwie hingekriegt, der ist ja sogar auf Drogen noch voll der Klarsichthüllenfreak, weißt du doch.«

»Und jetzt sucht ihr einen neuen Klarsichthüllenfreak?«

»Ach was, du bist doch kein Klarsichthüllenfreak, Charlie. Aber du bist Charlie, ich meine, wenn einer sowas drauf hat, dann ja wohl du. Und nüchtern bist du auch noch. Du bist da genau der richtige Mann für, Charlie. Viel besser als Dave. Guck dir die an!«

Draußen kamen die anderen im Gänsemarsch durch die Gartenpforte, und ganz vorne war Holger, der trug eine Happy-Meal-Schachtel von McDonald’s und kämpfte sich damit gegen den Wind zum Auto.

»Guck dir die an! Haben die sich da einen Cheeseburger geholt oder was?« Raimund lachte.

Holger ging ans Heck des Autos, wo Bolek in seinem Käfig wohnte. Er öffnete die Hecktür.

»He Leute«, rief er zu uns herein. »Wir haben eins gekriegt. Und wir haben auch schon einen Namen dafür.«

»Na super«, sagte Raimund.

»Springtime«, rief Holger, während alle anderen sich hinter ihm drängelten, um Zeuge der großen Meerschweinchen-Begegnung zu werden. »Es heißt Springtime.«

»Siehst du«, sagte Raimund. »Da hast du’s: Sie nennen es Springtime, die undankbaren Mauken. Als ob sie bei Magnetic auf dem Label wären!«

»Wie hätten sie es denn nennen sollen?«, sagte ich.

»Kratzbombe natürlich! Oder BummBumm.« Raimund dachte kurz nach. »Oder wenigstens Magical Mystery!«

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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