21. Backhendl

Rosa wollte zu einem kleinen Restaurant in der Nähe, sie sagte etwas von Backhendl und ob ich sowas mögen würde, und ich sagte »wer mag sowas nicht«, und sie sagte »Vegetarier vielleicht« und so ging das eine Zeitlang, ein freundliches Geblödel entspann sich zwischen uns, während wir durch die Straßen liefen, sie mit »auch mal was essen, was aus der Friteuse kommt«, ich mit »Folklore ist immer gut«, sie mit »sie sagen backen, aber sie meinen frittieren«, ich mit »das Hähnchen ist kein Napfkuchen«, und immer die schmalen Straßen entlang mit ihren kaputten, engen Gehwegen und kleinen Häuschen, die mich jetzt, wo es dunkel wurde, noch mehr an Bielefeld erinnerten, was mir ganz gut gefiel, vielleicht weil es eine so frühe Erinnerung war, Bielefeld war ja das verlorene Paradies meiner Kindheit, naja, jedenfalls hatte ich Bielefeld als Kind verloren und seitdem nicht wiedergesehen, das war hart gewesen, wir verließen Bielefeld damals, und das war es dann irgendwie gewesen mit der unschuldigen Kindheit, so erschien es mir jedenfalls in der Rückschau, und ähnlich diffus wie meine Erinnerung an meine Kindheit war auch die an Bielefeld, ich bin da ja nie wieder hingefahren, um so stärker jetzt das Déjà-vu-Erlebnis, das mich bielefeldmäßig überkam, und das mir irgendwie ein heimeliges Gefühl bescherte, jedenfalls bis zu dem Moment, an dem wir an eine große, mehrspurig in jede Richtung den Bielefeldquatsch durchschneidende Straße mit berlinmäßig großen Altbauten kamen, die allerdings zum Teil eingerüstet und zum Teil verfallen und zum Teil gleich ganz weggebombt waren; die überquerten wir und dahinter ging es dann gleich wieder bielefeldmäßig weiter, verwirrend, aber auch anrührend war das, irgendwie hatte ich plötzlich jedenfalls diesen akuten Anfall sentimentaler, ostwestfälischer Dorftrottelei, dem ich mich gerne hingab, weil sowas auch mal sein musste, wie ich erleichtert dachte, weil eine sentimentale Pseudo-Erinnerung an Bielefeld in meiner momentanen Verfassung wahrscheinlich besser war als ein Wiedersehen mit den Stätten meines früheren Wirkens bzw. Ravens bzw. Scheiterns in Kreuzberg und Schöneberg, mit den hohen alten Häusern, den breiten Gehwegen, Straßenschluchten und Gaslaternen und dem Urban-Krankenhaus, in dem alles geendet hatte. Als wir an einem Geldautomaten vorbeikamen, hielten wir kurz an und ich probierte Ferdis Sparkassenkarte aus. Sie funktionierte tadellos und ich holte mir gleich mal vierhundert Mark aus der Hauswand.

Der Laden, in den Rosa wollte, hieß »Zum Backhendl« und wir waren die einzigen Gäste. Wir setzten uns an einen Tisch und bestellten Backhendl, Rosa eins auf Wiener, ich eins auf steirische Art. Und dann saßen wir eine Zeitlang so herum und warteten und rauchten Zigaretten, bis sie irgendwann sagte: »Und du warst in der Klapsmühle?«

»Ja, das kann man so sagen.«

»Wegen Drogen?«

»Schwer zu sagen. Vielleicht. Da gingen die Meinungen auseinander.«

»Wieso, sowas weiß man doch …«

»Drogen nehmen viele Leute, aber nicht alle werden verrückt, also müssen es auch dann, wenn man Drogen genommen hat, nicht unbedingt die Drogen gewesen sein, die einen verrückt gemacht haben, meistens ist es doch so, dass man auch sonstwie noch einen Hau weg hat, und das dann zusammen mit den Drogen dann, was weiß ich, dass man irgendwie halt das eine oder das andere, oder jedenfalls beides zusammen …« – ich begann zu schwitzen. Das war gefährliches Terrain. Sie hatten mich ziemlich früh als Multitox-Problemfall eingestuft, das ging schon im UKE los, kaum war ich da eingetroffen, schon war ich Multitoxfreak, aber manchmal glaubte ich, dass das nur aus Ratlosigkeit geschehen war, einen richtigen Entzug hatte ich ja nie durchmachen müssen, da ist es schon komisch, wenn man mit Klaus-Dieter und Astrid in einer Kategorie landet, da war die Psychiatrie wohl doch nicht ganz die exakte Wissenschaft, als die sie von den Dr. Selges dieser Welt gerne gesehen wurde, und bei der Multitoxsache hatte wohl auch meine Mutter ordentlich nachgeholfen, ich war zwar noch irre, aber nicht mehr völlig blöd gewesen, als ich in Ochsenzoll eingesessen hatte, und ich hatte von den Gesprächen meiner Mutter mit den behandelnden Ärzten dort mehr mitbekommen, als sie geahnt haben mussten, sonst hätten sie ja den ganzen Kram nicht so oft in meinem Beisein verhandelt, meine Mutter hatte jedenfalls dauernd von den Drogen angefangen, Drogen hier, Herr Doktor, Drogen dort, Herr Doktor, und später wurde mir klar, dass sie mich nur, wenn sie das Drogending nach vorne brachte, in einer der Clean-Cut-WGs dieser Welt unterbringen konnte, sie wollte mich lieber bei den Drogenfreaks untergebracht sehen und mir einen Drogen-Reha-Job bei Dr. Selge zuschustern, die gute alte Sozialbehördenmutti, als mich in einer WG für Halbbescheuerte oder in einem Heim mit ganz Irren vor die Hunde gehen zu lassen, und das war sicher nicht dumm gedacht, so ein Drogending hat da im Vergleich Vorteile und schaden kann’s nicht, AA-Meetings oder Clean-Cut-Plenums oder Plena oder gar »Plenata«, wie Klaus-Dieter immer gesagt hatte, sind immer noch besser, als mit den Schizos abzuhängen und auf die Pillen und aufs Ende des Tages zu warten, und auch von der äußeren Anmutung her ist ein Drogensohn besser zu verkraften als ein Psychopathensohn, da beißt die Mutterherzmaus keinen Imagefaden ab, ein Drogensohn, bei dem sind ja wohl vor allem die Drogen schuld, ein Psychopathensohn, da steht auch gleich die Mutter schlecht da, und kaum war ich in Hamburg, also erst im UKE und später in Ochsenzoll, schon ging es mütterlicherseits nur noch Drogen hier, Drogen da, so sah ich das mittlerweile, wenn ich gründlich darüber nachdachte, und das ging hier, im »Zum Backhendl«, ganz gut, weil es zum einen ewig dauerte, bis das Essen kam, denn obwohl nicht viel los war und obwohl der Kellner, der unsere steirisch-wienerische Backhendlbestellung aufgenommen hatte, die ganze Zeit immer nur in der Nähe herumstand und aus dem Fenster schaute, wir also genauer gesagt die Einzigen in dem Laden waren, kam und kam das Essen nicht, und weil es zum anderen so war, dass ich Rosa gegenübersitzen und mitten im Satz abbrechen und über das Gesagte nachdenken konnte, ohne dass es peinlich war, sowas hatte ich noch nicht erlebt, sie ließ mich einfach in Ruhe nachdenken, fragte nicht, was los sei, wurde nicht unruhig, sie trank nur ihr Wasserglas aus, schaute sich ein bisschen im Lokal um und rauchte eine, ohne sich auch nur zu räuspern. Erstaunliche Frau.

»Schwer zu sagen«, begann ich schließlich von neuem. »Ich glaube nicht, dass es nur an den Drogen lag. Oder an der Drogenmischung, oder was es da sonst noch so an Meinungen gab. Okay, das Saufen hat auch nicht geholfen, aber ich weiß auch nicht, ob ich Alkoholiker war, das kann man wahrscheinlich so gar nicht sagen, auf jeden Fall gab es noch andere Sachen, die dazugekommen sind. Ich weiß eigentlich gar nicht, ob das mit dem Multitox …«

Ich kam wieder ins Grübeln, und das war auch gut so, denn wenn ich vorher gedacht hatte, dass die Multitoxsache vielleicht bloß eine unbewiesene Behauptung der ganzen Sozial- und Psychiatrieklempner aus dem Einflussgebiet meiner Mutter war, mit denen sie sich selbst beruhigen und den Diagnoseweg abkürzen wollten, weil der Drogenentzug nun mal die eierlegende Wollmilchsau der psychiatrischen Diagnose- und Therapiewelt war, zusammen mit Sport, Bastelstunden und happy hardcore Downerpillen, wenn ich das also so gesehen hatte, dann war das natürlich schon der erste Schritt auf dem Weg zurück zum ersten Bier des Tages und zum Warum-nicht-auch-mal-eine-Pille-wenn’s-einem-danach-besser-geht, warum dann nicht doch bei der Party immer schön dabei sein und ein Sektchen auf die Charts kann nicht schaden und später eine Nase auf dem Frauenklo, denn das war natürlich auch richtig, dass das genau die Gedanken sind, diese Meine-Mutter-hat-sich-das-bloß-ausgedacht-mit-den-Drogen-Gedanken, die man sich als im Trockendock liegende Ex-Spaßguerilla so zurechtlegt, um einen schönen Grund zu haben, wieder mit allem anzufangen, was Freude macht und einem nicht bekommt, eine typische Junkie-Strategie, wie sie Werner immer so findig ausgemacht und an den Pranger gestellt hatte, wenn einer im Plenum auf die Spur der Verschwörungstheorien und des Selbstmitleids ausscherte, das hatte immer was Religiöses gehabt, auch in der Drogentherapie gab es einen Teufel, der einem die sündigen Gedanken einflüsterte, und der kam nur selten durch die Vordertür, aber hinten, an der Kellertreppe, hatte immer Werner gestanden, vor allem bei Klaus-Dieter, der immer richtig Freude daran gehabt hatte, wenn Werner ihm bei dem ganzen Quatsch, den er auf den Plenums oder Plena oder eben, wie Klaus-Dieter selbst ja immer sagte, »Plenata«, wenn Werner ihm also bei dem ganzen Quatsch, der da immer so bei den Plenums aus ihm rausknatterte, mal wieder einen typischen sündigen Drogengedanken nachwies, ein Gedankenverbrechen nach Art des Hauses Clean Cut 1, und kaum, dass Werner ein »Da ist es ja wieder, da ist es ja wieder« anstimmte, um ihm gleich darauf genauestens nachzuweisen, dass er schon wieder dabei war, die Schuld auf die anderen und von sich selbst und seinem Drogending wegzuschieben, dass er geistig schon wieder auf der schiefen Bahn saß und im Begriff war, das Geländer loszulassen, strahlte er, also Klaus-Dieter, schon wieder über beide Backen und nickte und sagte Dinge wie: »Da sagst du was, Werner!« Es war Montagabend, fiel mir bei diesen Gedanken ein, und es war ungefähr die Zeit des Plenums in Altona. Und in St. Magnus machten sie wahrscheinlich gerade Wassertreten.

Im »Zum Backhendl« war jetzt aber die Zeit des Backhendls, irgendwo klingelte es und der Kellner riss sich vom Fenster, durch das er die ganze Zeit melancholisch auf die Straße gestarrt hatte, los und holte unser Essen, und als er wiederkam, hatte er in jeder Hand einen Teller mit einem Drahtkörbchen drauf und darin lagen irgendwelche Hähnchenteile.

»Wer hat das steirische?«, fragte er.

Ich meldete mich. Er stellte mir das eine Körbchen hin, Rosa das andere. Die Körbchen sahen genau gleich aus und die Hähnchenteile auch. Dann brachte er uns eine große Schüssel Kartoffelsalat und stellte sie in die Mitte.

»Das ist für euch beide«, sagte er, »die kommen beide mit Kartoffelsalat, das teilt ihr euch einfach mal schön.«

»Was ist der Unterschied?«, fragte ich.

»Wovon?«

»Was ist der Unterschied zwischen dem steirischen und dem Wiener Backhendl?«

»Das steirische Backhendl ist vom steirischen Huhn«, sagte der Kellner.

»Und das Wiener vom Wiener?«

»Nein, beim Wiener Backhendl kann das Huhn von irgendwo sein. Da muss das nicht aus Wien sein. Ich weiß gar nicht, ob die da Hühner haben in Wien, das ist ja mehr was für auf dem Lande.«

»Und das macht einen Unterschied?«, sagte Rosa.

»Keine Ahnung. Könnt ihr ja ausprobieren. Ihr habt ja die Möglichkeit, einen Vergleich vorzunehmen«, sagte der Kellner.

»Aus Österreich bist du aber nicht?!«, sagte ich auf gut Glück.

»Nein, ich bin aus Paderborn«, sagte er. »Das ist in Ostwestfalen.«

»Ich weiß«, sagte ich.

Er machte kurz den Mund auf, um noch was zu sagen, aber dabei fiel sein Blick auf Rosa, die ihn stirnrunzelnd ansah, da schwieg er und ging weg.

Rosa löffelte mir Kartoffelsalat auf den Teller.

»Also was jetzt?«, sagte sie. »Bist du wegen den Drogen irre geworden oder nicht?«

»Schwer zu sagen«, sagte ich und nahm eine Keule aus dem Körbchen. »Warum?«

»Nur so, wahrscheinlich egal«, sagte sie. »Obwohl andererseits«, fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu, »wenn du wegen Drogen irre geworden bist, dann kannst du das ja für die Zukunft vermeiden. Wenn sonstwie, dann ist das schon schwieriger.«

»Die Zukunft ist eine dumme Sau«, sagte ich. »Man weiß nie, womit sie als Nächstes um die Ecke kommt!«

»Ja. Ich glaube, das ist keine gute Idee, wenn wir jetzt irgendwas anfangen«, sagte sie und stapelte alle ihre Hähnchenteile auf dem Teller. »Es ist echt besser, wenn man sich erstmal noch ein bisschen näher kennenlernt.«

»Auf jeden Fall«, sagte ich.

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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