35. Kontaktstoned
Um sieben Uhr kam der Weckruf, aber ich hatte schon lange wachgelegen, als das Telefon klingelte, zum Glück war es ein Weckruf mit einer automatischen Ansage, da musste ich mit keinem reden. Irgendwo im Raum schnarchte Dubi leise vor sich hin und irgendwo im Raum war auch das dunkle Gefühl, und wenn ich wollte, konnte ich mir vorstellen, dass es das dunkle Gefühl war, das diese leisen röchelnden Geräusche machte, das gab der Sache wenigstens was Dramatisches, ansonsten war alles grau, innen wie außen, und ich hatte vor dem Weckruf dagelegen und mir nicht vorstellen können, jemals aufzustehen, aber liegenbleiben war auch die Hölle und da war das Telefon mit seinem automatischen Weckruf natürlich eine Erlösung, es zwang einen zum Aufstehen und man musste trotzdem mit keinem reden, nur eine Stimme vom Band wünschte einem einen guten Morgen, das hatte die nötige zwischenmenschliche Kälte und wenn man erstmal stand, war das ja schon die halbe Miete. Ich duschte und zog mich mechanisch an, manchmal ist Routine die letzte Rettung, »Zur Not einfach weitermachen!«, auch das war eine von Werners Weisheiten und nicht die schlechteste.
Ich ging runter zum Frühstücksraum und aß was, obwohl ich keinen Hunger hatte. Sie hatten ein Buffet mit Kram und Mampf, ich nahm mir irgendwelche blassen Wurst- und Käsescheiben und graues Brot und Butter und was weiß ich was, daraus bastelte ich mir ein Sandwich, das ich mit Tee runterspülte. Ein paar Salatblätter waren als Garnitur auf den Wurst- und Käseplatten drapiert, die nahm ich beim Rausgehen für die Meerschweinchen mit.
Als ich die Seitentür vom Auto öffnete, begrüßten mich Lolek und Bolek mit einem Zwitschern. Im ganzen Auto müffelte es nach Kinderzoo. Ich öffnete ihre Plastikbox und nahm sie beide heraus, das war gar nicht so einfach, die Biester streckten die Beine von sich und waren kaum durch die Öffnung zu kriegen. Ich setzte sie auf meinen Schoß und gab ihnen die Salatblätter. Sie mümmelten sie weg wie nichts, während ich sie ein bisschen streichelte. Dann nahm ich sie nacheinander hoch und checkte sie durch, so wie ich es von Herrn Munte bei den Kaninchen gelernt hatte, kurz bevor er ins Gras gebissen hatte, ich prüfte ihre Augen, ihre Krallen und ihr Fell, sie sahen ganz gesund aus, aber auf Dauer war der Käfig natürlich viel zu klein und jetzt auch total verdreckt, ich musste was Größeres finden und Heu und Streu und Trockenfutter und Gemüse und all das besorgen, das war schon mal gut, da war schon mal was zu tun. Als ich sie wieder unter dem Sitz verstaut hatte, ging es mir besser und ich konnte zum Club fahren.
Mit Hilfe des Stadtplans fand ich meinen Weg in die kleine Straße, in der der Club lag, und bei Tageslicht erkannte ich die Gegend auch besser wieder, das war altes Frankie-Lehmann-Terrain, das war fünfzehn Jahre her, und einerseits freute ich mich über die schöne Erinnerung, andererseits aber wollte ich eigentlich lieber nicht daran denken, weil da so viel dranhing, Frankie vor allem, aber auch Freddie, sein Bruder, die Kunst, die ganzen Hoffnungen damals und was für ein komischer Freak Frankie gewesen war, viel komischer als ich und ich war schon komisch gewesen und alles hatte irgendwie viel größer und bedeutender ausgesehen, als wir hier angekommen waren damals, Freddie und ich, weil Freddie irgendeine Ausstellung in einem Bremer Krankenhaus machen sollte und das mal vorchecken wollte und ich immer hinter Freddie her, der war mein anderes großes Vorbild gewesen, noch vor Schlumheimer oder jedenfalls gleichauf, so zu sein wie Freddie, mehr hatte ich eigentlich nie gewollt, aber am Ende hatte es nicht gereicht, für mich nicht und für Freddie auch nicht, Freddie ist ja auch nie wie Freddie gewesen, jedenfalls nicht wie der Freddie, den ich in ihm gesehen hatte, aber das hatte ich erst viel später kapiert und das letzte, was ich von ihm gehört hatte, war, dass er in New York Heizungen repariert, und da lobe ich mir doch Schlumheimer, der ist wenigstens tot, da brennt nichts mehr an, der wird immer das bleiben, was er in meinen Augen war, das ist beruhigend, dachte ich, als ich nun doch an all das dachte und aus dem Auto stieg, das ich recht und schlecht hundert Meter vom Club entfernt eingeparkt hatte, das macht den Gedanken an den Tod irgendwie leichter, dass dann wenigstens nichts mehr schiefgehen kann, dachte ich, als ich auf den Club zustiefelte, Schlumheimer hatte rechtzeitig ausgecheckt und also auch in dieser Hinsicht alles richtig gemacht, wie überhaupt immer.
Die Tür zum Club war geschlossen und kein Lebenszeichen drang nach außen. Ich glaubte aber, wenn ich genau hinhörte, ein ganz leises Bummbumm zu hören, eigentlich war es nicht mal zu hören, nur in den Fußspitzen zu fühlen, aber so wie ich drauf war mit den nekrophilen Schlumheimergedanken und dem ganzen sentimentalen Quatsch mit Freddie und Frankie, war das vielleicht bloß Einbildung und damit schon der Vorbote von was Schlimmerem, erst kommt das dunkle Gefühl, dann sentimental werden, dann Bummbumm in den Fußspitzen fühlen, dann Stimmen hören, dann tanzen die Blumen und Blätter und dann hallo Ochsenzoll, da klingelte ich lieber, um die Sache zu verifizieren, ich klingelte und klingelte, aber keiner machte auf. In der Ferne lärmte eine Straßenbahn und oben auf dem Gehweg schlurften Leute vorbei, wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit, aber hier unten, im Souterrain vor der Clubtür, tat sich gar nichts.
Ich nahm Raimunds Telefon aus der Jackentasche, was einige Zeit dauerte, es war so groß und klobig, dass es sich in der Tasche verkantet und verklemmt hatte, ich fummelte und fummelte und meine Jacke ging auch ein bisschen kaputt dabei, aber dann hatte ich den Knochen in der Hand und aktivierte Ferdis Nummer im Kurzwahlspeicher. Es tutete zwei, drei, vier Mal, dann war plötzlich Bummbumm-Musik zu hören und Stimmengeschrei und jemand rief: »Wem gehört das Ding hier? Geil!«, und dann: »Hallo, hallo?!«
»Ferdi?«
»Gib mal her, Finger weg! Hallo?«
»Ferdi?«
»Hallo, hallo? Wer spricht?« Es war Sigi.
»Charlie. Mach mal die Tür auf!«
»Welche Tür?«
»Die vom Club.«
»Wo ist die denn?«
»Wo du reingekommen bist, Sigi. Charlie hier. Wo ist Ferdi?«
»Charlie, was machst du denn hier?«
»Ich bin am Telefon, Sigi. Seid ihr im Club?«
»Natürlich.«
»Ich meine, seid ihr in dem Club, wo wir hinwollten?«
»Hä? Wie bist du denn drauf?«
»Mach mal die Tür auf, Sigi!«
»Moment!«
Die Tür ging auf und Sigi stand vor mir.
»Charlie, da bist du ja!«
»Hallo Sigi!«
»Charlie!« Sie breitete die Arme aus und schlang sie um meinen Hals. »Guter alter Charlie!«
Ich hob sie hoch und ging mit ihr in den Club. Als die Tür hinter uns zufiel, war es dunkel. Es gab eine zweite, dick gepolsterte Tür, die ich nur ertasten konnte, aber ich fand die Klinke nicht, diese Tür war mir zuvor auch gar nicht aufgefallen, wahrscheinlich hatte sie am Abend offengestanden, jetzt war sie verschlossen und wir standen im Dunkeln. Ich stellte Sigi ab, aber sie ließ meinen Hals nicht los und kicherte.
»Sigi, lass los!«
»Ach, Charlie! Du bist doch echt irgendwie ein ganz schön toller … – was weiß ich!«
»Schon gut, Sigi.«
»Kommst du jetzt, um uns abzuholen oder was?«
»Ja. Ich hab’s doch versprochen!«
»Ach, Charlie!« Sie seufzte. »Ich finde ja echt, dass du ein bisschen fett geworden bist, aber du siehst trotzdem noch ganz gut aus, auch dass du so groß bist!«
»Groß war ich immer, Sigi«, sagte ich, während ich an der zweiten Tür, durch die leise die Musik drang, weiter die Klinke suchte. Schließlich nahm ich mein Feuerzeug zu Hilfe, während Sigi von hinten die Arme um meinen Bauch schlang und mich befummelte.
»Überall Fett!« Sie kicherte. »Aber auch Muskeln.«
»Sigi, hör auf mit dem Scheiß, wir sind hier nicht auf dem Viehmarkt!«
Ich fand die Klinke und drückte die Tür auf. Heiße Luft und Geschrei und über allem fette Bummbumm-Musik schlugen mir in einem Riesenschwall entgegen. Der Laden war mir sehr klein vorgekommen, als er leer gewesen war, jetzt, proppenvoll, war er riesig, ich kam so langsam voran, dass alles unendlich weit weg war, ich versuchte in den hinteren Teil zu kommen, zum DJ-Pult, und das war eine Weltreise, Sigi behielt ich gleich bei mir, ich nahm sie in den Arm und trug sie durch die Leute. Hier war eindeutig Party und ich merkte, wie das dunkle Gefühl und der sentimentale Scheiß in dem Gedränge aus mir rausgedrückt wurden wie Zahnpasta aus der Tube, mit jedem Schritt durch das Gewühl kriegte ich bessere Laune, es war Party und ich war mittendrin, sogar mit Frau im Arm, auch wenn es Sigi war, die alte Quatschmadam, egal, ich hatte sie plötzlich sehr lieb, was soll man machen, wenn Party ist, dann darf man nicht wählerisch sein, und das dachte Sigi wohl auch, denn sie knabberte an meinem Ohr, während ich sie durch die Leute Richtung DJ-Pult schob, und dann sagte sie: »Karl Schmidt, was machst du mit mir?!« Ich stellte sie ab, bevor die Sache außer Kontrolle geriet, ich war ja schon leicht kontaktstoned. Bis zum Pult waren es noch etwa drei Meter und am Pult standen Basti und Holger und legten auf und warfen dazu die Arme in die Luft.
»Komm, Charlie, wir trinken erstmal was!«, rief Sigi in mein Ohr.
»Ja, bleib mal einen Moment hier, ich komme gleich wieder!«
»Du alter Esel!«, rief sie und lachte.
»Bis gleich, Sigi!«
Unten an der Bühne stand Rosa.
»Weißt du, wo Ferdi und Raimund sind?!«
»Da hinten!« Sie zeigte auf eine Tür in der Nähe. »Da sind die drin!«
»Wir fahren dann bald!«, sagte ich.
»Ist mir recht«, sagte sie. »Aber nicht drängeln.« Ihre Haare kitzelten mich im Gesicht.
»Ich drängel nicht, ich nehm euch einfach mit«, sagte ich.
Sie nickte. Ich ging auf die kleine Bühne oder Erhöhung oder was immer das war, auf dem das DJ-Pult stand, und stellte mich zwischen Holger und Basti. Die ließen sich davon nicht stören und warfen weiter die Arme in die Luft und drehten sich um sich selbst, das war lustig anzusehen. Ich nahm beide in den Arm, drückte ihre Köpfe zusammen und sagte: »In fünf Minuten ist Schluss für euch. Fünf Minuten. Ab jetzt.« Sie guckten mich mit großen Augen an.
»Fünf Minuten.«
Das hatte ich von Hartmut, dem Erzieher, gelernt. »Du musst ihnen immer eine Vorwarnung geben«, hatte er mir mal bei einem Kaffee aus Rüdigers Kaffeemaschine gesagt. Er hatte eine neue Glühbirne gebraucht und sie selber abgeholt und bei der Gelegenheit einen Kaffee mitgetrunken und als ich jetzt über ihn nachdachte, so da oben stehend und mit Bastis und Holgers Köpfen in den Händen, war ich von einem Gefühl der Liebe und Dankbarkeit für ihn erfüllt, aber auch das war nur ein weiteres Symptom dafür, dass ich kontaktstoned war, »Du musst ihnen immer ein paar Minuten vorher Bescheid sagen, damit sie sich drauf einstellen können, am besten fünf Minuten«, hatte Hartmut gesagt, »fünf Minuten, aber dann auch einhalten, sonst schlecht!«
»Nur noch dieser Track«, sagte Holger.
»Fünf Minuten, Holger. Wieviele Tracks das auch immer sind.«
»Der geht nur noch eine Minute.«
»Fünf Minuten, Holger.«
»Der geht aber nur noch eine Minute. Das ist unser letzter!«
»Dann spiel halt noch einen. Ich bin in fünf Minuten wieder da!«
Dann ging ich auf der anderen Seite der Bühne runter und durch die Tür, die Rosa mir gezeigt hatte. Dahinter war ein kleines Büro mit einem kleinen Tisch, an dem saßen Ferdi und Raimund und einer, den ich nicht kannte. Auf dem Tisch waren Geldscheine und etwas Koks, das der, den ich nicht kannte, gerade wegrüsselte. Als ich durch die Tür kam, zuckten Raimund und Ferdi zusammen und drehten sich nach mir um. »Mensch Charlie, jetzt hast du mich aber erschrocken«, sagte Raimund.
»Erschreckt«, sagte Ferdi. »Ich hab mich erschrocken, aber du hast mich erschreckt. Mal Tüte Deutsch kaufen, Raimund! Außerdem hatte ich doch gesagt, du sollst abschließen!«
»Wir rechnen gerade ab«, sagte Raimund zu mir. »Soll ich dir das Geld mal gleich geben?«
»Was soll ich denn damit machen?«
»Auf die Bank bringen. Auf das Konto einzahlen, wo da die Karte von ist, die du hast«, sagte Ferdi.
»Selber Tüte Deutsch kaufen!«, sagte Raimund.
»Ja, gib mal her«, sagte ich.
»Ja, nimm das bloß weg, sonst baut Raimund da nur Scheiße mit. Bin froh, dass du da bist, Charlie!«
»Ja, her mit dem Geld. Passt auf, Leute, wir gehen jetzt. Ihr auch. Auto steht draußen.«
Ferdi schob die Geldscheine auf dem Tisch zusammen machte ein Bündel draus und gab sie mir rüber. »Wir sind eigentlich gerade wieder frisch«, sagte er.
Ich zählte das Geld nach und steckte es ein. »Selber schuld«, sagte ich, »jetzt ist es acht Uhr und wir gehen. Aus die Maus!«
»Ich bin übrigens Heino«, sagte der Dritte am Tisch und winkte mir zu. »Hab schon gehört, dass du Charlie bist und die alle wegholst, die reden schon seit einer Stunde über nichts anderes, bald kommt Charlie hier, bald kommt Charlie da, irgendwie crazy.« Er lächelte schief. »Wenn ich dich jetzt so sehe, verstehe ich das.«
»Ja«, sagte ich, »vielen Dank. Ist das dein Laden?«
»Wir machen das zu dritt!«, sagte er.
»Hast du jemanden, der die Hosti-Bros-Jungs am Pult ablösen kann?«
»Weiß ich nicht, muss ich erstmal gucken.«
»Ja. In vier Minuten hole ich die da weg. Dann sollte jemand anderes da sein, sonst wird’s langweilig.«
»Kein Ding«, sagte Heino. »ich mach das gleich selbst, hab ich jetzt eh Bock drauf, ich bin eh dran, glaube ich, wie spät ist es jetzt?«
»Acht.«
»Dann bin ich eh dran, warte mal, ich hab hier irgendwo den Zettel, das hat sich alles verschoben, eigentlich war ich um sechs dran, aber …«
»Super. Und kannst du mir einen Schlüssel geben? Für die Eingangstür? Nur bis ich alle draußen habe? Kriegst du wieder.«
»Ja klar.« Er zog ein großes Schlüsselbund hervor und fummelte einen Schlüssel davon runter. »Aber wiedergeben, das ist mein einziger.«
»Auf jeden Fall«, sagte ich. »Dann kommt mal alle mit raus!«
»Ich hab’s dir doch gesagt«, sagte Raimund zu Heino. »Voll das Ledernackending, das Charlie durchzieht.«
»Ja geil«, sagte Ferdi. »Voll Dissidenz ohne Chance. Magical Mystery!«
Sie umarmten beide Heino und folgten mir zum Pult. Als wir auf die Bühne stiegen, wackelte es ein bisschen und die Nadel sprang, aber das spielte keine Rolle, es bummbummte und die Leute zuckten und Holger war gerade damit beschäftigt, an einer Nebelmaschine herumzufummeln und den Raum zum Verschwinden zu bringen, während Basti eine neue Platte auflegte.
»Okay, Jungs, raus!«
»Warte, meine Platten!« Basti packte seine Platten ein. »Die da muss auch noch mit«, rief er und zeigte auf die Platte, die sich gerade auf dem Teller drehte. »Ohne die geh ich nicht weg, das ist mein neuer Lieblingstrack!«
»Wartet mal, ich hol mal eben meine Platten«, rief Heino und verschwand wieder in Richtung Büro.
»Und wir gehen jetzt«, sagte ich zu Raimund und Ferdi.
Ich nahm sie an der Schulter und schob sie hinter Holger vorbei zum Bühnenrand. Holger schaute kurz von der Nebelmaschine hoch.
»Holger, mitkommen!«
»Ich muss noch meine Platten einpacken!«
»Ich bin gleich wieder da!«
Ich schob Raimund und Ferdi von der Bühne runter.
»Komm, wir gehen!«, sagte ich zu Rosa.
»Meine Jacke ist noch in der Backstage. Und meine Tasche!«
»Meine Tasche auch«, rief Raimund.
»Dann mal los!«
Ich schob alle drei vor mir her durch die Menge. Sigi stand noch immer da, wo ich sie abgestellt hatte.
»Sigi, komm, wir gehen!«
Ich nahm Sigi bei der Hand und zog sie mit. In der Backstage suchten erstmal alle ihre Jacken und Plattentaschen, dann schob ich sie durch das dunkle Schleusensystem hinaus auf die Straße. Als die Tür zum Club zufiel schauten alle etwas blass und griesgrämig drein.
»Musste das denn sein?«, sagte Rosa. »Ich wollte eigentlich nochmal auflegen, als ich dran war, war ja noch kein Schwein dagewesen.«
»Tut mir leid«, sagte ich, »aber so war es verabredet!«
»Ich finde, Charlie ist ein Supertyp«, sagte Sigi.
»Nun hört mal mit Charlie auf, so super ist der gar nicht, das war alles meine Idee«, sagte Raimund. »Er macht ja nur, was ich ihm gesagt habe.«
»Und Holger und Basti? Und Anja?« Ferdi holte einen kleinen Joint aus seiner Jackentasche, zündete ihn an, nahm einen langen Zug und reichte ihn Raimund.
»Die hole ich gleich«, sagte ich. »Jetzt bringe ich euch erstmal zum Auto, dann könnt ihr euch da schon mal reinsetzen!«
»Super!«
Als die vier im Auto saßen, holte ich Lolek und Bolek aus ihrer Stinkebox. Es gab ein großes Hallo und Lolek und Bolek zwitscherten wie die Waldspechte, als ich sie Raimund und Ferdi auf den Schoß setzte.
»Passt mal auf die auf, dann müssen sie nicht in ihrem Dreck sitzen. Und nicht weggehen. Ich bin gleich wieder da!«
Ich ging zurück zum Club. Zum Glück hatte ich den Schlüssel. Holger und Basti warteten schon mit ihren Plattenkoffern auf der anderen Seite der Tür.
»Wir wollten rauskommen, aber dann haben wir uns verlaufen«, sagte Basti.
»Das ist total dunkel hier«, sagte Holger. »Plötzlich standen wir im Dunkeln.«
»Ja, kommt mal mit!«
Ich brachte sie zum Auto. Wisst ihr vielleicht, wo Anja ist?«, fragte ich sie auf dem Weg.
»In der Backstage war sie nicht«, sagte Holger. »Die hat sich voll mit Dubi gestritten, die haben gar nicht gespielt.«
»Trotzdem waren alle viel später dran als geplant«, ergänzte Basti. »Wenn die sich nicht gestritten hätten, wären wir gar nicht mehr drangekommen.«
»Echt auch mal Glück gehabt«, sagte Holger. »Nicht wie sonst.«
»Ja! Super Club! Bremen total geile Stadt! Waren wir noch nie!«
Wir kamen am Auto an.
»Schau mal, die Meerschweinchen!«, rief Holger, als ich die Seitentür aufmachte und Ferdi und Raimund die Meerschweinchen zur Begrüßung hochhoben. »Die hab ich ja ganz vergessen.«
»Mach dir keine Sorgen, ich kümmer mich um die Viecher«, sagte ich und schob die beiden ins Auto. »Aber wehe, ich komme gleich wieder und einer fehlt hier!«
»Voll das Ledernackending!«, sagte Raimund fröhlich. »Voll Arsch aufreißen!«
Ich schloss die Autotür und ging zurück in den Club. Als erstes checkte ich die Backstage. Da stand ein Koffer, der aussah wie der Saxofon-Koffer, den Anja am Abend zuvor dabeigehabt hatte, aber um sicherzugehen, machte ich ihn auf und tatsächlich, es war ein Altsaxofon drin. Ich machte ihn wieder zu und ging durch die Leute, aber Anja konnte ich nirgends finden.
Ich ging wieder zurück zum Auto. Sigi schlief, Rosa rauchte und die vier Jungs streichelten die Meerschweinchen.
»Weiß einer, wo Anja sein könnte? Hat sie einer zuletzt gesehen?«
»O nee, können wir mal fahren?!«, sagte Raimund. »Wir können doch nicht auf jemanden warten, der nicht da ist!«
»Wann habt ihr sie zum letzten Mal gesehen?«
»Nun lass sie doch, sie ist doch über achtzehn.«
»Ich hab sie zum letzten Mal vor ein paar Stunden gesehen«, sagte Rosa, »da war sie in der Backstage und hat geheult, wegen Dubi.«
»Ach du Scheiße, stell dir mal vor, da heult eine wegen Dubi.«
»Halt doch die Schnauze, Raimund Schulte, du blöder Sack.«
»Easy!«, rief Ferdi. »Immer schön nur die Liebe reinlassen, Leute. Magical Mystery! Ich finde aber, wir sollten jetzt fahren, das nervt hier draußen, das ist kalt und hässlich und ich hab Hunger, schön Fluxi-Hotelfrühstück jetzt!«
»Dann würde ich aber vorsichtshalber das Saxofon mitnehmen. Das steht da noch in der Backstage.«
»Und wenn sie wiederkommt und das ist nicht mehr da? Dann kriegt sie doch voll den Schreck«, sagte Rosa.
»Ich mach einen Zettel hin. Bin gleich wieder da!«
Als ich die zweite Tür zum Club öffnete, stand Schöpfi dort am Tresen und schrieb einer Frau mit Kugelschreiber etwas auf ihren Unterarm.
»Schöpfi, was machst du denn hier?«
»Der Typ vom Hotel hat mir diese Adresse gegeben. Konnte ja nicht ahnen, dass das derselbe Club ist. Konnte ja nicht ahnen, dass hier noch was abgeht, bis vorhin war hier doch total tote Hose. So!« Er strahlte die Frau an, die Frau strahlte ihren Unterarm an. »Das muss reichen.«
»Danke«, sagte die Frau und ging weg.
»Hast du vielleicht Anja gesehen, Schöpfi?«
»Ist alles nicht mehr wie früher«, sagte Schöpfi und sah der Frau hinterher.
»Wir fahren gleich, kommst du mit?«
»Ja, das bringt doch alles nichts!«
»Dann bleib mal hier stehen und warte auf mich, ich nehm dich mit!«
Ich ging in die Backstage und nahm den Saxofonkoffer. Ein Plattenkoffer war nirgends zu sehen.
Ich hatte einige Zettel und einen Kugelschreiber in der Tasche. Ich nahm einen der Zettel, es war ein Reparaturschein aus dem Kinderheim, schrieb eine Nachricht an Anja auf die Rückseite und legte ihn da hin, wo der Saxofonkoffer gestanden hatte. Dann ging ich raus, nahm Schöpfi, der melancholisch an der Theke lehnte und in die Menge guckte, bei der Hand und verließ mit ihm den Club.