31. Boot Camp
»Das wird kein großes Ding«, sagte Ferdi auf dem Weg zum Club. »Hauptsache, wir halten den Plan ein, dann kann auch nichts passieren.«
Dagegen war nichts zu sagen. Was mich beunruhigte war, dass er das nun schon zum fünften Male sagte, die alte Unke, das hatte dann schon was von Pfeifen im dunklen Walde. Wir gingen voraus, Ferdi und ich, und mit einem kleinen Abstand kamen die anderen, die hatten jeder eine Plattentasche zu schleppen, nur Schöpfi hatte eine Kiste mit Rädern untendran, die er hinter sich herziehen konnte, und Anja hatte noch einen Instrumentenkoffer dabei, da war ihr Saxofon drin, das sie live spielen wollte, Dubi hatte die Platten für beide zu schleppen und ein kleines Keyboard zusätzlich um den Hals gehängt, und er keuchte noch lauter als alle anderen und irgendwann rief Rosa: »Nun wartet doch mal, wir können nicht so schnell!«
Ferdi und ich blieben stehen und warteten auf sie. »Ist es noch weit?«, fragte Ferdi.
»Keine Ahnung«, sagte ich und faltete den Stadtplan auseinander. Wir waren ins Studentenviertel gegangen und hatten uns verlaufen, peinlich aber wahr, ich kannte die Gegend zwar noch aus der Zeit, als ich hier mal mit Freddie Lehmann gewesen war und seinen Bruder Frankie kennengelernt hatte, guter alter Frankie, was der jetzt wohl machte, aber das war lange her und ich erkannte nichts wieder, das war schon wieder so eine Altona-Kiste hier mit kleinen Häusern und kleinen, krummgebogenen Straßen, das war Ottensen galore und wir waren schon zweimal falsch abgebogen, das mit Freddie und Frankie Lehmann in Bremen, wie lange war das jetzt her, fünfzehn Jahre ungefähr, nicht zu fassen, kein Wunder, dass man sich da verlief, wer hat so ein gutes Ortsgedächtnis, ich jedenfalls nicht, das war schlecht, aber irgendwie auch gut, da war wenigstens keine Zeit für Frank-Lehmann-Sentimentalitäten, und während ich jetzt den Stadtplan auseinanderfaltete und die drei kleinen Straßen suchte, an deren Gabelung wir standen, stellten die anderen ihre Plattentaschen auf dem Gehweg ab und schimpften auf mich ein und ich kämpfte mit der bescheuerten Falkpatentfaltung und versuchte, mit dem Feuerzeug in der Hand die winzigen Straßen auseinanderzuhalten und die Stelle zu finden, an der Bauernstraße, Blumenstraße und Kreftingstraße aufeinandertrafen, »Von wegen nicht weit!«, »Ja, von wegen um die Ecke!«, »Ich dachte, du kennst dich aus!«, so schnatterten sie durcheinander, das nervte, aber es machte auch frisch, es war wie die Tasse Kaffee, die im Fluxi-Hotel nicht zu bekommen gewesen war, Kaffeemaschine kaputt oder sowas, »Wozu haben wir denn das Auto?«, »Entschuldigung mal, aber ab jetzt immer lieber fahren!«, »Mein Rücken!«, sie gackerten durcheinander wie Hühner bei Gewitter, bis Ferdi die Hände hob und sagte: »Hauptsache, wir halten den Plan ein, mal ein bisschen zusammenhalten jetzt, verdammt noch mal!«, da waren sie still und fingen an zu rauchen, das gab mir ein bisschen Ruhe für das Kartenstudium.
Wie sich herausstellte, mussten wir nur über die große Straße am Ende der Blumenstraße und dann war es nicht mehr weit, ein bisschen geradeaus, ein bisschen links-rechts und wir waren da oder wären da gewesen, denn als wir auf die große Straße, den Ostertorsteinweg, kamen, hatten alle Hunger und wir steuerten unter Raimunds Führung, der mit den Worten »Jetzt weiß ich auch wieder, jetzt weiß ich wieder, ich kenn mich hier auch aus!« voranpreschte, nach links auf eine große Kreuzung zu, die auch mir wieder bekannt vorkam und wo es »Gyros und so Zeug gibt, mit Kraut und so!«, wie Raimund rief, der zu rennen anfing, nachdem er das gesagt hatte und der Rest der Herde im Schweinsgalopp hinter ihm her, sodass Ferdi und ich plötzlich ganz hinten waren.
»Hauptsache, wir halten den Plan ein«, sagte Ferdi.
Ich sagte: »Ferdi, was ist das mit dem Plan? Warum muss der unbedingt eingehalten werden?«
»Ich war dagegen, das sind hier so Leute, wo wir gleich spielen, das geht dann ewig oder was, außerdem ist das ein komischer Laden, das ist so ein Raimund-Ding, das musste unbedingt sein, auf jeden Fall Bremen, das sind so Kumpels von ihm oder jedenfalls denkt er das, wegen mir hätten wir das ruhig auslassen können, ich meine, hast du dir den Plan mal angesehen?!«
»Ja. Hab aber nicht alles verstanden.«
»Das hat keiner. Das ist ein weltweit neues Experiment, Rave als Rocktournee, könnte man sagen. Oder umgekehrt. Und das ist das Problem: Sowas klappt ja nur, wenn man den Plan einhält.«
Wir waren im Gyros-Imbiss angekommen und Raimund stand am Tresen, wo ein Mann mit einem ratternden Moulinex-Messer von einem Gyrosspieß Fleischfetzen heruntersäbelte und zusammen mit Krautsalat in aufgeschnittene Schrippen stopfte, und Raimund nahm jede Gyrosschrippe einzeln mit beiden Händen entgegen wie ein Samuraischwert und reichte sie mit großer Geste weiter, »hier und hier und hier«, das ging so eine Weile und dann mampften wir alle Schrippen mit Gyros und Krautsalat, während Raimund uns einen Vortrag darüber hielt, dass das das Beste überhaupt sei und das Gyrosbrötchen eigentlich der Urdöner und dass alle gleich noch mal eins essen sollten.
Ferdi zog mich zur Seite, um mir weiter von seinen Sorgen zu erzählen: »Das ist ja alles gut und schön mit Magical Mystery, aber man muss auch den Plan einhalten, sonst läuft uns das völlig aus dem Ruder, das wollte ich mit dir sowieso noch mal besprechen, Charlie, du musst uns morgen früh um acht Uhr auf jeden Fall abholen und darfst nicht lockerlassen, am besten kommst du mit dem Auto und sperrst sie da alle wie du sie findest rein, bis du alle zusammen hast, mich auch, sonst schaffen wir das nicht, wir müssen doch alle noch chillen und pennen, bevor wir weiterfahren, diese Typen, die den Club machen, die sind gnadenlos, da sind auch ein paar Journalisten, da können wir uns nicht als Weicheier outen, die um acht Uhr morgens schon ins Bett gehen, nur weil es wieder hell wird oder was, das ist ja das Problem, das ist ja hier der Magical-Mystery-Kick-off, Charlie, ich meine, hier geht’s los, ausgerechnet!«
»Verstehe ich nicht so richtig, Ferdi!«
»Das ist ein Image-Problem, Charlie, das läuft hier alles über Gigantic E, das sind so Macho-Raver, da sehen wir wie Spaßbremsen und Partypuper aus, wenn wir morgen früh schon gehen, verstehst du? Dabei ist bloß nicht genug Zeit auf dem Plan, aber erklär denen das mal! Wir hätten Bremen einen Tag früher machen müssen, bloß dass die auf Montagabend keinen Bock hatten, was weiß ich, warum, und in Köln haben wir ja nicht einmal ein Hotel, bevor wir in den Club gehen oder was.
»Ja, das wollte ich noch fragen«, sagte ich, »wo soll ich da in Köln eigentlich schlafen?«
»Das klären wir schon noch, aber jedenfalls ist das anstrengend, das geht nur, wenn wir morgen früh um acht alle da weggehen. Aber wie sieht das denn aus? Und wenn dann auch noch irgendwelche Journalisten dabei sind, dann steht die ganze Magical-Mystery-Sache gleich von Anfang an mit dem falschen Fuß auf, verstehst du?«
»Ja, das ist dann peinlich für euch!«
»Für uns, Charlie!«
»Okay, peinlich für uns.«
»Genau, deshalb brauchen wir einen, der den Arsch macht! Einen, der uns da koste was es wolle und zur Not auch gegen unseren Willen rausholt, so ledernackenmäßig, verstehst du?«
»Ich soll den Arsch machen und euren guten Raverruf retten, indem ich euch da morgen früh gewaltsam raushole?«
»Ja, so könnte man das sagen, wenn man es gerne direkt ausdrückt, Charlie.«
»Und was sagen die anderen dazu? Hast du ihnen gesagt, dass ich das auf deinen Wunsch mache?«
»Ja klar habe ich denen das gesagt, aber ich weiß nicht, ob die das kapiert haben, ist ja auch egal, die kommen doch gegen dich sowieso nicht an, Charlie. Nicht mal alle zusammen.«
»Willst du da eine Discoschlägerei, so gummistiefelmäßig, oder was?«
»Nein, sowas doch nicht. Okay, ich sag denen das noch mal.«
»Ich habe keine Lust, da jetzt schon voll der Arsch zu sein, Ferdi, ehrlich mal!«
»Hört mal alle zu!« Ferdi hob sein Gyrosbrötchen und im Imbiss wurden alle still, auch die, die nicht zu uns gehörten, das waren außer dem Gyrosmann noch zwei Junkies, die am Tresen standen und ihr Kleingeld sortierten.
»Hört mal alle zu: Morgen früh um acht ist das hier zu Ende, sonst schaffen wir Köln nicht, und Köln ist wichtiger als Hamburg …«
»Bremen!«, warf ich ein.
»Bremen, ist ja egal, jedenfalls um acht Uhr muss Schluss sein und da müssen sich dann im Fluxi alle hinlegen und schlafen, damit wir rechtzeitig nach Köln kommen, und Charlie hier macht das klar, dass sich da auch alle dran halten und das ist voll auf meinen Wunsch, also er ist nicht der Arsch, wenn er sich morgen euch gegenüber wie ein Arsch benimmt.«
»Versteh ich nicht«, sagte Raimund.
»Siehst du«, sagte Ferdi zu mir. »Das meine ich. Und Raimund ist mein Partner und einer der Chefs oder was weiß ich.«
»Wir sollen morgen früh um acht alle mitkommen«, rief Schöpfi, »ist doch ganz einfach!«
»Schöpfi, mon amour!«, rief Ferdi. »Schöpfi, bei dir hat sich alles gelohnt, ehrlich mal, jede Minute, die ich dir gewidmet habe, hat sich gelohnt!«
Schöpfi lächelte geschmeichelt und hob eine Hand und winkte in die Runde.
»Ach so, das«, sagte Raimund. »Da hatten wir doch schon neulich drüber gesprochen, das ist doch klar. Da hätte ich übrigens noch eine Idee, jetzt wo wir Charlie dabei haben: Wenn er morgen früh kommt, dann könnten wir uns doch alle ein bisschen widersetzen, dass das so extrahart rüberkommt, so Magical Mystery, aber als Boot Camp, ich hab da neulich sowas mal im Fernsehen gesehen, so mit ja Sir, jawohl Sir und so.«
»Nein«, sagte Ferdi, »kein Boot Camp, das ist doch krank, Raimund, jedenfalls wollte ich nur sagen, dass wir um acht alle mitgehen, echt mal.«
»Aber kommt das nicht ein bisschen spießig rüber?«, warf Rosa ein. »Ich meine, erst Magical Mystery und high sein frei sein und dann gehen alle um acht nach Hause?«
»Und wenn einer früher ins Hotel will?«, rief Basti. »Ist das hier so Mitmachfaschismus? Müssen wir immer zusammenbleiben oder was?«
»Das ist ja gerade der Widerspruch«, sagte Ferdi, »das ist ja gerade das Experiment, da sind ja schon die Beatles dran gescheitert, dass die so Freaks sein und gleichzeitig eine Tournee machen wollten, versteht ihr? Tournee ist eben so Gruppenscheiß und Mitmachfaschismus und alle gleichzeitig aufs Klo und was weiß ich was, aber beim Hippiefreak regiert die Liebe und die Freiheit, und das ist das Spannungsfeld, und Charlie kriegt das schon irgendwie hin. Und wenn einer vorher ins Hotel will, dann kann man das sowieso nicht ändern.«
Ich ging zum Tresen und ließ mir eine Cola geben. Ich öffnete die Colabüchse und nahm einen langen Schluck. Die anderen schauten mich erwartungsvoll an. Das war irgendwie rührend, wie sie da so standen, mit ihren Plattentaschen und Gyrosbrötchen.
»Wie sieht’s aus, Charlie?«, sagte Ferdi.
»Kein Ding«, sagte ich. »Wer morgen früh um acht nicht mitkommt, kriegt den Arsch versohlt!«
Da freuten sie sich, die kleinen Partygranaten!