2. Supervision
»Was ist los, Werner?«, sagte Klaus-Dieter. »Du siehst irgendwie geschafft aus.«
Werner hatte bis dahin während des Abendessens, das aus belegten Broten und Hagebuttentee ohne Zucker bestand, noch kein Wort gesagt, kein aufmunterndes und kein ermahnendes, kein scherzendes und kein drohendes Wort, er starrte nur vor sich hin und kaute mit leeren Augen an einem mit Corned Beef belegten Brot herum, genau wie Astrid, bei der das aber keinen wunderte, denn Astrid war Ex-Junkie, nicht aber Werner, Werner war Sozialpädagoge und erfolgreicher Unternehmer im, wie Gudrun es nannte, Sozialscheißbereich, da konnte man sich schon mal Sorgen machen, wenn so einer mit leeren Augen auf einer Corned-Beef-Stulle herummümmelte wie ein Tattergreis auf Valium.
»Was soll schon los sein?« Werner schaute in die Runde, auf mich, auf Klaus-Dieter, auf Astrid und schließlich auf Henning, den Uralt-Süffel, der auf die siebzig zuging und gar nichts aß, wahrscheinlich hatte er sein Gebiss nicht drin. Dann wanderte sein Blick zurück und blieb an mir hängen. »Du isst ja gar nichts, Karl Schmidt!«
»Du kannst das Pferd auf die Weide führen, Werner, aber du kannst es nicht zum Fressen zwingen«, sagte ich.
»Soso«, sagte Werner. »Warst du schon wieder im Romantica?«
»Kommst ‘n darauf?« Ich nahm mir ein Salamibrot. Astrid machte immer Brote, wenn sie mit dem Abendessen dran war, und sie tat immer saure Gürkchen drauf, obwohl Werner dagegen war, »Solche Sperenzchen machen bloß abhängig«, sagte er dann, und keiner wusste, ob das ein Scherz oder doch irgendwie Teil einer Rückfallpräventionsstrategie war.
»Ich doch nicht«, sagte ich und wurde rot dabei, das war damals noch so, ich war ja noch nicht lange runter von den Pillen und dementsprechend labil, aber Werner bohrte nicht weiter nach, er war nicht er selbst, er nahm einen Schluck Hagebuttentee und klappte seine Stulle auf, um zu gucken, was drin war, Corned Beef und ein kleines, längs halbiertes Gürkchen, er nahm das Gürkchen in die Hand, hielt es hoch und steckte es kommentarlos in den Mund.
»Ich bin demnächst mal für eine Weile weg«, sagte er. »Ich muss mal raus. Ich brauch Supervision.«
»Ab wann?«, sagte Astrid.
»Ab nächste Woche«, sagte Werner.
»Für wie lange?«
»Drei Wochen.«
»Drei Wochen Supervision?«
»Quatsch. Ich hab auch mal Urlaub, Astrid Hagenauer, falls du schon mal was davon gehört hast, ich hab auch mal Urlaub, auch Leute wie ich kriegen mal Urlaub, falls das neu für dich ist.«
»Nein, ich weiß«, sagte Astrid. Ironie perlte an ihr ab wie Wasser an der Ente, sie hatte keinen Sinn dafür, so wie andere Leute nicht singen oder nicht Schach spielen können. »Aber du hattest Supervision gesagt und nicht Urlaub, da hab ich mich gewundert.«
»Wir kriegen nie Urlaub«, sagte Klaus-Dieter.
»Wieso kriegst du keinen Urlaub? Du hast doch neulich erst Urlaub gehabt!«, sagte Werner.
»Ja, von der Arbeit«, sagte Klaus-Dieter. »Aber nicht von Clean Cut.«
»Und wie soll so ein Urlaub von Clean Cut bei dir aussehen, Klaus-Dieter Hammer? Mit einem Beutel voll Klebstoff und der Tasche voll Hasch im Stadtpark eine Flasche Rotwein verhaften, oder was? Oder eine Butterfahrt nach Helgoland mit zollfreiem Schnapseinkauf?« Werner war offensichtlich verrückt geworden: Er ging auf Klaus-Dieter los!
»Nein, ich meine mal so wegfahren, sagen wir mal nach Mallorca oder so.«
»Ballermann6 oder was? Am besten die ganze Mannschaft gleich Ballermann 6 oder was? Mit Schlagerkaraoke und Sangria aus Eimern oder wie?«
Klaus-Dieter war kurz vorm Heulen, er plinkerte mit den Augenlidern und knetete mit beiden Händen seine Ohrläppchen, deshalb versuchte ich Werner abzulenken, denn ein Abend, an dem Klaus-Dieter zu heulen anfing, war kein Feierabend, wenn bei Klaus-Dieter erstmal die Schleusen geöffnet waren, kam keiner vor Mitternacht ins Bett.
»Ich war im Romantica«, sagte ich. »Ich geb’s zu. Aber nur auf einen Espresso ohne Zucker!«
Werner guckte mich an, aber nicht wie sonst, er war irgendwie desinteressiert. »Espresso ohne Zucker? Im Romantica? Wie bist du denn drauf?!«
»Weiß nicht«, sagte ich erleichtert, weil Klaus-Dieter mit dem Ohrläppchenkneten aufgehört hatte und überhaupt jetzt, wo ich der Arsch war, wieder ganz zufrieden aus der Wäsche schaute. »Hat sich so ergeben.«
»Wie oft habe ich euch gesagt, dass … – ach leckt mich doch am Arsch, macht doch, was ihr wollt.«
»Wieso das denn jetzt?«, sagte Astrid. »Ich meine, das ist Clean Cut, da kann doch nicht einer, der da arbeitet, sowas sagen, so mit was ihr wollt und so, einfach leckt mich am Arsch, das geht doch nicht, wir können doch nicht einfach machen, was wir wollen!«
»Einer der da arbeitet? Einer der da arbeitet?« Werner kam nun doch etwas in Fahrt. »Ich hab Clean Cut erfunden, oder wer sonst etwa?« Er schaute grimmig in die Runde. »Oder wer sonst? Und mein Haus ist das hier auch! Ha, der da arbeitet!«
»Und bei wem hast du Supervision?« Klaus-Dieter stellte die Frage, aber er sah nicht aus, als ob es ihn interessierte. Er wollte nur mit Werner geredet haben, Werner war sein Stadtpark und sein Ballermann 6, ein Tag, an dem Werner mit ihm geredet hatte, war ein guter Tag für Klaus-Dieter.
»Das geht dich gar nichts an, du bist ja sowieso nicht dabei, wäre ja auch noch schöner.«
»Wer kommt denn, wenn du weg bist? Wer betreut uns denn dann?«, fragte Astrid.
»Gudrun.«
Ein Stöhnen ging durch die Runde. Das war geheuchelt, wir stöhnten nur, um Werner eine Freude zu machen. Gudrun war seine Ex-Frau und sie hing in Clean Cut mit drin und die Häuser, die Werner an Clean Cut, also quasi an sich selbst, vermietet hatte, gehörten ihr auch zur Hälfte, da war es nur recht und billig, wenn er wenigstens bei uns der Einzige war.
»Ach du Scheiße, Gudrun«, sagte ich und konnte sehen, wie Werner aufblühte. »Drei Wochen! Wie soll das denn gehen?«
»Sie muss die 2 und die 1 gleichzeitig machen, geht ja nicht anders«, sagte Werner heiter. »Tut mir auch leid für euch, aber es geht nicht anders, den Urlaub muss ich nehmen, sonst verfällt der, das ist kurz vor knapp. Und was getan werden muss, muss getan werden, da beißt die Maus keinen Faden ab.«
»Ja«, sagte Klaus-Dieter, »und wenn die Maus satt ist, schmeckt das Korn bitter.«
»Da sagst du was«, sagte Werner. Und Klaus-Dieter strahlte.