36. Zeit
Im Fluxi wollten alle erstmal zum Frühstück, außer Schöpfi, der wollte ins Bett, er habe schon gefrühstückt, sagte er, und er wollte, dass ich mitkomme und ihm sein Bett zeige, nicht dass es später Probleme gebe, er wolle sich auf keinen Fall in das falsche Bett legen, und es brachte gar nichts, dass ich ihm mehrmals versicherte, dass es da keine Probleme geben könne, weil mein Bett das Zustellbett war und in einem anderen Bett Dubi lag und schnarchte, er also sein Bett, das dann ganz klar kein Zustellbett und ohne Dubi sein müsse, gar nicht verfehlen könne, ihm war das alles, wie er mehrfach sagte, »nicht geheuer, so mit drei Mann in einem Zimmer«, da wollte er auf Nummer sicher gehen, und weil ich nun schon mal mitkam, trug ich ihm auch gleich seinen Plattenkoffer hinterher, bei dem die Räder auf seinem Heimweg mit Dubi irgendwie kaputtgegangen waren, was ihn extrem nervte, wie er mehrmals wiederholte, wie er überhaupt jetzt, im fahlen Licht des Morgens, einen abgeschabten und gereizten Eindruck machte und auf alles schimpfte, was nicht rechtzeitig in Deckung ging, der Elch am Fahrstuhl war schlecht, das Fluxi sowieso, Bremen auch, die ganze Technosache im Grunde total abgefuckt, alles Idioten überall, so ging das die ganze Zeit. Als wir im Fahrstuhl waren und er damit anfing, dass der Fahrstuhlfirmenname Flohr Otis ja nun wohl der letzte Scheiß sei, sagte ich zu ihm: »Wenn du nicht gleich die Klappe hältst, Frank Specht, dann knall ich dir eine.«
Er schaute mich überrascht an. »Echt mal?«
»Auf jeden Fall.«
»Stark!«
Im ersten Stock öffnete ich das Zimmer, drückte ihm seinen Koffer in die Hand und wollte gerade wieder gehen, als er sagte: »Siehst du, hab ich ja gesagt.«
Ich schaute ins Zimmer. Im einen Bett lag Dubi und schnarchte, im anderen Bett lag Anja und schnarchte und frei war nur das Zustellbett.
»Ich nehm alles zurück, Schöpfi.«
»Wo soll ich denn jetzt schlafen?«
»Du könntest natürlich das Zustellbett nehmen. Da hab ich aber schon drin geschlafen.«
»Irgendwie hätte ich schon lieber ein Bett mit frischem Bettzeug.«
»Ja, versteh ich.«
»Lass uns mal zu den anderen gehen.«
Wir gingen runter in den Frühstücksraum. Dort saßen Holger, Basti, Raimund, Ferdi, Sigi und Rosa um einen runden Tisch herum, schlürften Kaffee und starrten den Frühstücksmampf an, den sie sich auf ihre Teller getan hatten. Wir setzten uns dazu und gossen uns Kaffee aus einer Thermoskanne ein.
»Ihr sollt nicht so viel Kaffee trinken«, sagte Ferdi. »Das gilt für alle außer Charlie. Wenn ihr so viel Kaffee trinkt, könnt ihr doch überhaupt nicht schlafen. Der Plan sieht aber vor, dass ihr gleich schlaft, weil wir in Köln sofort in den Club gehen, da gibt’s vorher kein Hotel, wollt ihr alle bloß im Auto schlafen oder was? Da kriegt man doch voll den steifen Nacken von, was soll das denn?«
»Jetzt hör aber mal auf, Ferdi«, sagte Raimund, »wir sind hier doch nicht in der Jugendfreizeit.«
»Ich schlafe, wann ich will und ich trinke Kaffee, wann ich will«, sagte Rosa. »Ihr habt wohl den Arsch offen.«
»Denk an meine Worte, wenn du in Köln auf dem Zahnfleisch gehst!«, sagte Ferdi.
Sigi fing an zu weinen.
»Was hast du denn, Sigi?«
»Weiß auch nicht.« Sie schaute zu mir rüber. »Ach Karl«, sagte sie. »Ach Karl.«
»Was gibt’s, Sigi?«
»Weiß auch nicht. Du bist immer so … Das ist alles so …«
»Schon okay, Sigi«, sagte ich. Sie nickte. In die Runde sagte ich: »Anja ist wieder da. Sie liegt oben in Schöpfis Bett. Wo soll Schöpfi denn jetzt schlafen?«
»Anja schläft eigentlich bei mir«, sagte Rosa. »Aber da kannst du nicht pennen«, fügte sie an Schöpfi gewandt hinzu.
»Ich könnte doch …«
»Nein!«
»Aber ich mach ja auch …«
»Nein!«
»Schöpfi kann mein Bett haben«, sagte ich, »aber dann braucht er neues Bettzeug, dann tausche ich einfach das Bettzeug aus, das ist nur fair, ich nehme das frische Zeug von Anjas Bett und tue das auf mein Bett beziehungsweise Schöpfis Bett und tue mein Bettzeug dann auf Anjas Bett oder was weiß ich, kompliziert.«
»Easy, Charlie«, sagte Ferdi. »Immer ganz easy, das wird schon.«
»Ich könnte dir helfen«, sagte Schöpfi.
»Nein, bleib mal sitzen, ich mach das schon«, sagte ich.
»Ich komm mit hoch«, sagte Rosa, »mich deprimiert das hier!«
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sagte sie: »Und du? Du hast dann ja überhaupt kein Bett mehr oder was?«
»Ich hab ja schon geschlafen. Ich bleibe wach und kümmer mich um die Meerschweinchen.«
»Wenn du dich trotzdem hinlegen willst, dann kannst du das ruhig bei mir im Zimmer machen, damit hab ich kein Problem, nur mit Schöpfi, den will ich da nicht haben, der ist mir irgendwie zu Blick. Und du musst ja irgendwo bleiben, wann fahren wir?«
»Um vier Uhr.«
»O Mann, das sind noch …« – sie schaute auf ihre Uhr – »… sieben Stunden. Wie willst du denn sieben Stunden ohne Zimmer in dieser Stadt bei diesem Wetter rumbringen?«
»Kein Problem. Ich hab noch ordentlich zu tun.«
In ihrem Zimmer nahm ich Kissen, Bettdecke und Laken vom zweiten Bett und brachte sie in das andere Zimmer. Dort bezog ich damit das Zustellbett und brachte Kissen, Decke und Laken vom Zustellbett in das Zimmer von Rosa. Als ich klopfte, machte sie im Pyjama auf.
»Ich bring das nur eben hierher, damit das keine Verwirrung bei den Fluxileuten gibt.«
»Immer schön korrekt, ja?«
»Auf jeden Fall.«
Ich tat die Sachen auf das freie Bett.
»Ich bezieh das dann«, sagte sie, »für den Fall, dass du dich doch noch hinlegen willst.«
»Du musst das doch nicht machen!«
»Wieso, wenn du das für Schöpfi machst, kann ich das doch auch für dich machen.«
Ich bezog die Matratze mit dem Laken und legte dann Kissen und Decke obendrauf.
»Schon gemacht.«
»Bring mal lieber auch deine anderen Sachen rüber, wer weiß, was die da drüben noch alles anstellen.«
»Vielleicht später.«
»Ja«, sagte sie. »Ich leg mich dann mal hin.«
»Ja, gute Nacht«, sagte ich und ging zur Tür. »Schlaf gut.«
»Was machst du denn jetzt alles?«
»Ich kümmere mich erstmal um die Meerschweinchen. Und um das Auto.«
»Na dann viel Spaß.«
»Werd ich haben.«
»Du kannst dich ruhig da hinlegen, ich meine später.
Wenn du willst. Ich tu dir nichts.«
»Klar.«
»Sieht so aus, als würden wir dauernd zusammenwohnen.«
»Ja.«
Ich ging wieder hinunter zum Frühstücksraum. Auf dem Weg kam mir Schöpfi entgegen. Er hob eine Hand zum Gruß wie ein Indianer im Film und zwinkerte mir dabei zu.
»Hähä, ihr beide … Ich hab nichts gesehen.«
»Schon gut, Schöpfi!«
Im Frühstücksraum waren alle weg bis auf Sigi. Ich goss mir noch einen Kaffee ein.
»Mensch, Charlie, altes Pferd!«
»Mensch, Sigi! Wo schläfst du eigentlich?«
»Das willst du wohl wissen?«
»Nein, ja, aber nicht so, wie du denkst, Sigi.«
»Soso, wie denke ich denn?«
»Alles klar, Sigi. Wir fahren um sechzehn Uhr los.«
»Brauchst gar nicht einen auf superschlau machen, Charlie. Ich durchschau dich schon lange.«
Ich trank schnell meinen Kaffee aus und stand auf.
»Bis später, Sigi.«
»Ich durchschau dich schon lange, Karl Schmidt!«
Ich ging aus dem Fluxi raus und fuhr mit dem Auto weg. Am Abend zuvor war mir am Autobahnzubringer eine Tankstelle aufgefallen, die hatte ich mir gemerkt, zu der wollte ich jetzt hin. Denn das war eine der Regeln, die ich von Rüdiger, dem Hausmeisterholiker von Othmarschen, gelernt hatte: Nie fragen, außer an Tankstellen. An den Tankstellen wissen sie alles, daran hatte er fest geglaubt, und als wir einmal nach Maschen in ein Gewerbegebiet mussten wegen irgendeinem Scheiß für den Tierpark und wir uns prompt verfahren hatten, hatte er mit mir um zehn Mark gewettet, dass sie uns an der nächsten Tankstelle weiterhelfen würden, und er hatte gewonnen.
Die Tankstelle am Autobahnzubringer war dann weiter weg, als ich in Erinnerung hatte, ich war schon fast wieder draußen aus der Stadt, als sie endlich kam, und neben ihr war ein McDonald’s. Dort trank ich erst einmal einen Kaffee, um das richtige Arbeitstags- und Rüdigergefühl aufkommen zu lassen, dann tankte ich an der Tankstelle den Wagen voll, checkte den Reifendruck und das Öl, füllte Wasser für die Scheibenwischanlage nach, und als ich mit alldem fertig war, war es 10.30 Uhr.
Ich fragte den Tankwart nach dem nächsten Zoogeschäft und er verwies mich auf ein nahe gelegenes Einkaufszentrum, und dort unterhielt ich mich erst einmal lange mit der Verkäuferin über Meerschweinchen, bevor ich für Lolek und Bolek einen großen, doppelstöckigen Käfig kaufte, nicht ohne zwischendurch in einem Werkzeuggeschäft einen Zollstock gekauft und damit ausgemessen zu haben, ob der auch hinten ins Auto reinpassen würde. Der Käfig hatte eine Rampe, auf der die beiden rauf und runter laufen konnten, das war auch gut für die Abnutzung ihrer Krallen, die Rampe hatte dafür extra einen besonders rauen, sandpapierhaften Belag, wie die Frau mir erklärte. Außerdem kaufte ich Streu, Heu, Nippelflaschen, zwei Heuraufen, zwei Futternäpfe, Trockenfutter und eine Abdeckung, unter der die paranoiden Nagerfreaks verschwinden und sich sicher fühlen konnten. Ich ging mit dem ganzen Geraffel zum Auto und baute im hinteren Teil des Wagens, hinter der letzten Sitzreihe, wo bisher die Koffer gewesen waren, unter den misstrauischen Blicken vorbeilaufender Rentner ein Meerschweinchenparadies auf, bedeckte den Boden mit Streu, füllte Heu in die Raufen und Trockenfutter in die Näpfe und setzte Lolek und Bolek in ihr neues Heim. Dann ging ich zurück in das Einkaufszentrum und in einen Supermarkt, wo ich eine Flasche stilles Mineralwasser kaufte, außerdem Karotten, Stangensellerie, Fenchel, Chicorée und Römersalat. Damit ging ich zurück zum Parkplatz. Ich befüllte die Nippelflaschen mit dem Wasser und warf einiges von dem Salatzeug in die obere Etage vom Schweinchenschloss. Dann ging ich zurück zum Zoogeschäft und kaufte eine Schaufel und einen Eimer für später, wenn ich den Käfig würde saubermachen müssen. Außerdem drehte mir die Frau noch einen kleinen Noppenball, einen Nagestein, einen Beutel getrockneten Löwenzahn und zwei Meerschweinchenleinengeschirre mit Leinen an, die, wie sie sagte, garantiert nichts mit Tierquälerei zu tun hätten. Das brachte ich alles ins Auto, bevor ich noch einmal zum Supermarkt ging und einen Beutel Dreißig-Liter-Mülltüten holte, die würde ich ja auch noch brauchen. Als ich damit zurück am Auto war, war es 11.30 Uhr und immer noch viereinhalb Stunden bis zur Abfahrt nach Köln, da musste man jetzt durch oder, wie Rüdiger in seinen letzten guten Tagen immer so gern gesagt hatte: Hauptsache nicht mit den Händen in den Hosentaschen erwischen lassen!
Ich ging also zurück ins Einkaufszentrum und in die dortige Sparkassenfiliale. Dort zählte ich noch einmal das Geld nach, das Raimund mir am Morgen gegeben hatte, und zahlte es aufs Konto ein. Dann fuhr ich ins Studentenviertel und ging dort in eine Eisdiele, die mir am Morgen auf dem Weg zum Club aufgefallen war. Ich ließ mir einen Kaffee geben, holte meine ganzen Quittungen und Belege und einen Reparaturzettel vom Kinderheim aus der Jacke und machte auf dessen Rückseite eine vorläufige Buchführung mit Kontobuch und Kassenbuch und was weiß ich nicht noch allem, alles sehr rüdigerhaft mit krakeligen Buchstaben und freihändigen Tabellenlinien und so weiter, ich nahm mir vor, später ein Heft dafür zu kaufen. Als ich damit fertig war, war es 12.15 Uhr. Ich trank noch einen Kaffee und blätterte in einer Zeitung namens »Weser Kurier«, aber ich merkte schon bald, wie sich beim Lesen dieser dann doch sehr für Bremen und die Bremer gemachten Zeitung das dunkle Gefühl anschlich, mit jedem Artikel über die Renovierung eines Einkaufszentrums oder die Pläne für eine Umgestaltung der Fahrradwege kam es näher, bis es direkt hinter dem Zeitungspapier lauerte, ich spürte, wie es mir den Atem abschnürte und die Panik kalt den Nacken hochkroch, ich musste da raus, Eisdiele mit »Weser Kurier« war definitiv das falsche Ding, also ging ich um die Ecke in eine Pizzeria und aß eine »Pizza Lupara« mit Knoblauch und Tintenfischringen, und dazu trank ich eine große Cola, um wachzubleiben, denn das war mir schon klargeworden, dass ich mein übliches kleines Nickerchen, das ich in der Regel im Sitzen in Rüdigers altem Schaukelstuhl im Kinderzoo durchzog, seit Herr Munte bei den Gänseblümchen lag, jedenfalls am heutigen Tag würde abschreiben können, und als ich damit durch war, war es noch keine dreizehn Uhr und mir fiel absolut nichts mehr ein, was ich hätte machen können, außer mir ein kleines Heft und einen neuen Kugelschreiber für die Buchführung zu kaufen, was ich dann auch gleich tat, in einem Schreibwarenladen, an dem ich auf dem Weg zum Auto vorbeikam, das dauerte natürlich, ich trödelte am Regal mit den Schulheften herum, bis eine misstrauische Verkäuferin mich fragte, was ich denn um Himmels willen bloß so lange suchen würde, was ihnen denn in ihrem Sortiment bloß fehlen würde, dass ich so ratlos vor den Schulheften stehen könnte, eine Unverschämtheit eigentlich, die ich mit den Worten »DIN-A6-Heftchen mit Karos, aber ohne abgerundete Ecken« parierte, was die Sache nur unwesentlich hinauszögerte, schließlich ging auch dieser Arbeitsschritt seinem Ende entgegen und nach der anschließenden Übertragung meiner vorläufigen Reparaturzettelbuchführung in das gekaufte Heft inklusive dem zusätzlichen Verbuchen der Kosten für ebendieses Heft, zwei Handlungen, die ich in einem kleinen Omacafé in der Nähe vornahm, wozu ich auch noch zwei Tassen Filterkaffee, den sie dort noch kannten, zu mir nahm, war ich fix und fertig mit allem, gab es absolut nichts mehr zu tun, nicht einmal mehr vorgeschobene Ersatzhandlungen zu verrichten, dabei waren es noch zwei und eine dreiviertel Stunde bis zur Abfahrt nach Köln und ich war dann doch, während ich mir im Omacafé am zweiten Kaffee, der definitiv nicht mehr funktionierte, der mich nicht mehr dafür entschuldigen konnte, dort noch immer zu sitzen, bei dem es mir schon, während er gerade erst gebracht wurde, die Kehle zuschnürte, weil ich eigentlich nur noch raus und weiter und irgendwie weg von dem wollte, was mich von innen heraus zu zerreißen drohte, sodass ich mir die Zunge verbrannte, als ich ihn hastig austrank, denn hier machten sie nicht nur Filterkaffee, sie wussten sogar, wie man ihn heiß in eine Tasse kriegte, immerhin, jedenfalls war ich dann doch, während mir die Schmerzen im Mund für kurze Zeit Erleichterung brachten, weil sie mich ablenkten von dem dunklen Ding, jedenfalls war ich dann doch nicht mehr ganz so überzeugt, dass es richtig gewesen war, St. Magnus auszulassen, jetzt, wo ich merkte, wie sehr ich mich nach Bewegung sehnte, um mit ihr das dunkle Gefühl zu verscheuchen, das nun nicht mehr hinter der Zeitung oder in einer Ecke des Raumes saß, sondern ganz klar in den Knochen, in den Beinen vor allem, die ich, während ich an dem kochendheißen Kaffee schlürfte und mir den Mund dabei verletzte, um die Stuhlbeine geschlungen hatte, so fest, dass ich merkte, wie diese Stuhlbeine langsam nachgaben und abzubrechen drohten und ich sah mich schon mit einem dreibeinigen Stuhl unterm Arsch zwischen die Omas kippen und dabei dachte ich, dass Sport jetzt wahrscheinlich wirklich eine Lösung sein könnte, eine Sehnsucht nach Bewegung überkam mich, ein Drang, das dunkle Gefühl irgendwie durch Bewegung aus den Knochen zu schütteln, was mich gleich mal an St. Magnus und den dortigen Sportfanatismus erinnerte, Werner war ja kein Idiot, Werner kannte seine Pappenheimer, Werner wusste, wo einer wie ich hinmusste, wenn er Urlaub hatte, und ich sah zu, dass ich zahlte und die Beine vom Stuhl löste und aufstand und mitsamt Heft und Quittungen und Buchführung rauskam aus der Schwarzwälderkirschtortenhölle.
Nachdem ich das Omacafé verlassen hatte, ging es wieder einigermaßen, das dachte ich jedenfalls zuerst, es war halb zwei, und es regnete und ein anständiger Wind pfiff um die Ecke, als ich Richtung Auto ging, aber falsch, wie ich nach einiger Zeit merkte, ich hatte die Richtung völlig verpeilt und war einfach durch den Regen und gegen den Wind die große Straße entlanggegangen, auf der die Straßenbahn fuhr, ich hatte sie wohl mit einer ähnlichen Straße in Bielefeld verwechselt und darüber vergessen, dass ich zum Auto wollte, so erklärte ich mir das, ich hatte jedenfalls ganz klar ein Bielefeldgefühl zu dieser Straße und hatte irgendwohin gewollt, wusste aber, als ich merkte, dass ich auf dem falschen Dampfer war, nicht mehr, wo das gewesen sein sollte, die Lage war kritisch, ganz klar eine kritische Lage, so hatte Astrid das mal genannt, als sie beim Plenum davon erzählt hatte, wie sie völlig mechanisch und ohne nachzudenken, einfach nur aus einem Gewohnheitsflash heraus Heroin am Bahnhof Altona gekauft hatte, kritische Lage, sowas hatte ich jetzt auch, als ich auf der großen Straßenbahnstraße stand und nicht mehr genau wusste, wo das Auto war und also schon mit dem Gedanken spielte, zurück zum Omacafé zu gehen und von dort aus noch einmal neu anzufangen, und dann merkte ich, dass ich am ganzen Körper zu zittern begonnen hatte, die Sache wurde also schlimmer und irgendwas musste ich tun, einfach nur weiter durch dieses Studentenviertel, das hier, wo ich jetzt stand, gar nicht mehr nach Studentenviertel aussah, wie weit war ich eigentlich gelaufen, ich war bei einer Art Park oder was, Grünanlagen, was weiß ich, da führte jetzt die Straßenbahnstraße durch, wenn das überhaupt noch die gleiche Straßenbahnstraße war, also jedenfalls einfach diese Straße weiter hinunterzulaufen kam nicht infrage, das war prekär, wenn nicht gar kritisch im astridschen Sinne und außerdem wurde der Regen stärker, wenn ich jetzt völlig durchnässt wurde, wo sollte ich dann meine Klamotten wechseln, vor Anja, Dubi und Schöpfi in Zimmer 163 oder vor der pyjamabekleideten Rosa in Zimmer 148, das Wasser kam vom Himmel runter, als ob einer den Hahn aufgedreht hatte, und ich stellte mich beim nächstbesten Haus unter, einem klassizistischen, weißen Gebäude mit säulengetragenem Vordach, dort stand ich und schaute auf die ungeheuren Wassermengen, die da von oben heruntergerauscht kamen und den Blick auf die andere Straßenseite verwischten, durch den Regen sah alles auf der anderen Straßenseite aus wie in einem Bild von Achim Klumm, den ich ja nie besonders gemocht hatte, wie mir einfiel, als ich mir das so ansah, bei Klumm war ich immer voll dagegen gewesen, aber jetzt, als ich so über die Straße sah, wusste ich nicht mehr genau, warum.
Das Dach, unter dem ich stand, gehörte zur Bremer Kunsthalle, wie ich erst bemerkte, als ich wieder einigermaßen bei Sinnen war. Es war viertel vor zwei, und um vier war Abfahrt nach Köln, und der Regen hörte nicht auf. Also tat ich etwas, was ich in den letzten Jahren absichtlich vermieden hatte, obwohl Werner mich immer wieder dazu ermuntert hatte, nämlich in ein Museum zu gehen oder jedenfalls in eine Ausstellung oder so, dazu hatte Werner mich immer überreden wollen, so sehr, dass er das immer gleich als Ausflug für alle festgelegt hatte, so Altonaer Museum statt Hagenbeck oder was, das war sein Anliegen gewesen, mich da irgendwie hinzukriegen, das hatte er dauernd versucht, so wie er mich auch immer zum Basteln hatte ermuntern wollen, was genauso ausgeschlossen gewesen war, man kann nicht als Künstler aufhören und dann mit dem Basteln anfangen, so hatte ich das immer gesehen und man kann nicht als Künstler aufhören und damit abschließen und ein für alle Mal das ganze Kunstding aufgeben und dann lustig in die Hamburger Kunsthalle oder das Altonaer Museum für Kunst und Kulturgeschichte gehen und sich da ansehen, wie andere Typen vor und während und nach einem frisch, fromm, fröhlich, frei damit weitergemacht hatten, so ging das nicht, ich hatte Angst vor was weiß ich was, dass ich da neidisch wurde vielleicht, nein, nicht neidisch, auch nicht einfach nur traurig, schlimmer als das, es war auch nicht bloß das Wiedererkennen der ganzen Niederlage, es war mehr als das, es war wie wenn Astrid in den Bahnhof Altona ging, ich hatte Angst davor, rückfällig zu werden, und da konnte Werner tausendmal sagen, dass die Kunst ja nun wohl nicht schuld sein konnte, dass ich da ja wohl ganz klar die Verantwortung abwälzen wollte, das war zu einfach, Werner verstand das nicht, und ich, wenn ich ehrlich war, verstand das irgendwie auch nicht, aber ich hatte mich immer dagegen gewehrt, von Werner in sowas reingezogen zu werden und mir auf sein Betreiben im Altonaer Museum den Kram von anderen anzugucken, in der Kunstsache konnte Werner nicht mitreden, da war er nun wirklich nicht kompetent, und gottseidank hatte ich irgendwann die Idee gehabt, Werner an eine seiner Regeln zu erinnern, die lautete: »Wenn du kein gutes Gefühl bei etwas hast, dann lass es lieber!«, da hatte er dann damit aufgehört, und jetzt also die Bremer Kunsthalle, ich war ausgerechnet unter dem Vordach der Bremer Kunsthalle gelandet und hatte zwei Stunden Zeit totzuschlagen und irgendwie war’s mir dann auch egal, vielleicht haben sie ja auch etwas, wo man einen Kaffee kriegt, dachte ich und ging rein und kaufte mir eine Karte für ihre aktuelle Ausstellung, die hieß irgendwas mit Worpswede und noch was und dann ging ich da durch und bremste mich dabei regelrecht aus, zwang mich gewaltsam, das Tempo rauszunehmen und die Bilder zu betrachten, und ich betrachtete und betrachtete und siehe, da ging nichts, das sagte mir alles gar nichts, das war erleichternd und enttäuschend zugleich, so wie wenn man nach längerer Zeit wieder mit dem Rauchen anfängt und dann merkt, dass es nicht ganz das große Ding ist, als das es einem in der Zeit, in der man damit aufgehört hatte, erschienen war, und ich wollte es nicht glauben, war ich denn wirklich schon so sehr abgestumpft? Waren das die Spätfolgen der Tabletten? War ich wirklich so ein flacher Hausmeisterstiesel geworden, dass ich an diesen ganzen Bildern von Bäuerinnen und Moortümpeln und krummen Birken an geraden Wegen oder was immer sie da alles gemalt hatten, vorbeigehen und völlig abgestumpft und leer an nichts anderes als ans Zeittotschlagen und wo man einen Kaffee herbekam denken konnte? War ich wirklich ein Drogenwrack? Hatte ich mir im guten alten Hirn ein paar Synapsen zuviel weggeschmurgelt? Sicher, es war Ölmalerei, nicht gerade mein Ding, sie hatten auch ein paar Skulpturen dazugestellt, aber die waren wirklich doof, das sah man gleich, da musste ich mir nichts vorwerfen, das war höchstens Kunsthandwerk, das Zeug, wie sie es in den fünfziger Jahren vor jeder Grundschule aufgestellt hatten, aber dass auch alles andere, aber auch wirklich alles andere auch so egal war, das irritierte mich dann doch, das war hier doch das Kunstding, es konnte doch unmöglich sein, dass ich das wirklich alles, alles schlecht fand! Ich setzte mich auf eine Bank in der Mitte des Raumes, in dem ich gerade war, und glotzte grübelnd auf das Bild gegenüber, das einen kleinen Jungen zeigte, der einen Apfel in der Hand hielt, und alles irgendwie schief und grob gemalt, ich weiß nicht, von wem, ich war zu müde, um aufzustehen und auf dem kleinen Schild daneben nachzugucken, jedenfalls schaute ich den kleinen Jungen an und der kleine Junge schaute auf seinen Apfel, und dann schaute ich auch auf den Apfel und dann wieder auf den Jungen und das ging ziemlich lange so. Und je länger ich da saß und auf das Bild und den Jungen und den Apfel schaute, während der Junge immer weiter auf den Apfel schaute, desto mehr mochte ich den Jungen, er hatte es nicht leicht, das konnte man sehen, er war wohl ein Bauernjunge und barfuß und 19. Jahrhundert und was weiß ich nicht alles, die Stube, in der er stand, war eine von armen Leuten aus dem 19. Jahrhundert, wie ich sie aus dem Museumsdorf Detmold kannte, da war ich als kleiner Junge mal gewesen, mit meinen Eltern, und ich hatte ungefähr das Alter von dem Jungen gehabt, und dieser Junge schaute also den Apfel an und fand den Apfel offensichtlich gut und stand da und blieb da und wenn er ein reales Vorbild gehabt haben sollte, einen wirklichen Jungen in Worpswede, dann war der mittlerweile tot, aber der hier nicht, der blieb da und schaute auf den Apfel, und ich spürte, dass ich labil wurde und kurz vorm Heulen war. Ich riss mich gerade noch rechtzeitig zusammen und stand auf und ging.
Als ich draußen war, hatte es aufgehört zu regnen und es war viertel nach drei. Zeit für eine Rückkehr ins Fluxi. Zeit für die Fahrt nach Köln.