11. Ihr Fahrplaner
Der Zug hielt in Nauen, und als er da wieder abfuhr, roch es schon irgendwie nach Berlin. Ich wurde unruhig, an Nauen konnte ich mich nicht erinnern, ich kannte das gar nicht, wusste gar nicht, wo das lag, aber es roch nach Berlin, als wir da rausfuhren, wobei riechen das falsche Wort ist, es war etwas Elektrisches, wahrscheinlich bloß Einbildung, eine Unruhe, die mich erfasste, jetzt geht’s los, dachte ich, jetzt geht’s los, aber viel ging da erstmal nicht, da kamen erst noch kleine Häuschen und kleine Straßen und dazwischen Felder und Gewerbe, das sah alles noch ziemlich nach Othmarschen aus, wenn auch in einer DDR-Version, also etwas abgeschabter, aber dann hörte das mit den Feldern und Wäldern ganz auf und wir fuhren nach Berlin rein, irgendwie Spandau oder sowas, und dann durch Charlottenburg und zwischen Kudamm und Kantstraße, und als wir uns dem Bahnhof Zoo näherten, kriegte ich Angst und überlegte, einfach sitzenzubleiben und gleich weiter bis Hauptbahnhof zu fahren, was immer das sein sollte, Hauptbahnhof, seit wann hatten die hier einen Hauptbahnhof, richtig schlau wurde man da nicht aus dem IC-Fahrplanblättchen, in dem ich die ganze Zeit zwischen Wittenberge und Nauen sinnlos herumgeblättert hatte, ein Umstand, dem ich wohl auch die Ahnung der Nähe Nauens zu Berlin zu verdanken hatte, wie mir jetzt auffiel, an dieser Ahnung war ja wohl nichts Mystisches und nichts Elektrisches gewesen, wenn man sich erstmal klarmachte, dass im Faltblatt »Ihr Fahrplaner«, das ich die ganze Zeit zwischen Wittenberge und Nauen völlig enthirnt von hinten nach vorne und von vorne nach hinten durchgeschmökert hatte, der Abstand zwischen Nauen und Berlin-Zoologischer Garten mit 34 km angegeben war, das war ja wohl das verdiente Ende jeder esoterischen elektrischen Vorahnungsbehauptung, aber Hauptbahnhof kam mir genauso esoterisch vor, deshalb fragte ich einen Schaffner, was es damit auf sich hatte, und der sagte nur »Ostbahnhof« und ging weiter, das sagte mir natürlich auch nichts, aber der Zug hielt laut »Ihr Fahrplaner« auch im Bahnhof Friedrichstraße, das fand ich gut, Bahnhof Friedrichstraße war ja nicht nur 1a-DDR-Scheiß, Bahnhof Friedrichstraße war schon der Bahnhof gewesen, auf dem die Oma und die Kusine auf Emil gewartet hatten, während Emil am Zoo ausgestiegen war, weil sie ihm sein Geld geklaut hatten, daran erinnerte ich mich noch, das ganze Emil-und-die-Detektive-Ding hatte mir als Kind immer gut gefallen, armer Emil, komplett beklaut, aber das konnte mir nicht passieren, mein Geld war noch da und meine Tasche auch und der Bahnhof Zoo konnte mich mal, ich hatte keine Lust auf den Bahnhof Zoo und das ganze Prä- und Post-Kudamm-Elend, und langsam fragte ich mich auch, wieso ich nicht früher auf die Idee gekommen war, mich mal ein bisschen damit zu beschäftigen, wo ich jetzt eigentlich hinmusste, ein bisschen geistige Leere zwischen Wittenberge und Nauen, nun gut, aber jetzt wurde es Zeit, den Informationsturbo einzulegen, also schlug ich die Adresse, die Ferdi mir am Telefon gegeben hatte, in meinem Stadtplan nach, ich kannte die Straße nicht, Sophienstraße, die lag im Osten, in der Nähe vom Marx-Engels-Platz, wie aus meinem alten Stadtplan hervorging, den ich die ganzen Jahre nicht weggeworfen hatte, und bei dem der Westen noch rot und der Osten blaugrau und dazwischen die Linie war, die die Mauer markierte.
Von der aber nicht mehr viel da war. Wir gurkten, nachdem wir den Bahnhof Zoo verlassen hatten, der nicht nur wegen Emil, Oma und Kusine, sondern auch wegen der Lage des Marx-Engels-Platzes die falsche Wahl gewesen wäre, langsam durch den Tiergarten und weiter in den Osten hinein und die Mauer war weg und das ganze Westgesummse dann auch bald und das kam mir gerade recht, ich hatte ja nicht umsonst Angst gehabt, gleich am Bahnhof Zoo in ein Déjà-vu-Ding reinzugeraten, man kann ja nicht fünf Jahre lang in Hamburg Klapsmühle und Reha und Drogen-WG gemacht haben und dann am Bahnhof Zoo aufschlagen, als wenn nichts gewesen wäre, dachte ich, und dann hielten wir auch schon im Bahnhof Friedrichstraße und ich stieg aus und kaufte mir im nächsten Zeitungsgeschäft einen neuen Stadtplan, aus dem auch gleich mal hervorging, dass der Marx-Engels-Platz jetzt Hackescher Markt hieß.
Bis zum Hackeschen Markt war es nur eine Station mit der S-Bahn und die Sophienstraße war nicht schwer zu finden. Sie sah verdächtig nach Hamburg-Altona aus, die Sophienstraße, kleine alte Häuschen mit zwei, drei Stockwerken, handtuchbreite Bürgersteige, Teestubengastroscheiß, das war fast schon Ottensen, nun gut, ich wollte in das Berlin, das ich nicht kannte, hier war es, und in einem von den Ottensenhäusern war BummBumm Records untergebracht, da hätte genausogut Clean Cut 1 dranstehen können, so altonamäßig sah das aus.
Ich rauchte erstmal eine, bevor ich klingelte.