69. Lasst hundert Blumen blühen
Völlig erschöpft kamen wir beim Fluxi an, es wuchs aus einem Anbau der Ruhr-Emscher-Halle heraus wie ein amorphes Geschwür und es gab eigens dafür eine Extrazufahrt, die weiträumig gesperrt worden war, wie uns der Portier, als wir eincheckten, wortreich und stolz erklärte. Das frustrierte Raimund, »Das fängt ja gut an!«, sagte er ein ums andere Mal und ermunterte den Portier damit nur zu immer neuen Erklärungen. Ferdi hatte es eilig, deshalb brachte ich nach der Eincheckprozedur schnell meine Sachen aufs Zimmer, das für mich wie ein alter vertrauter Freund war, es war genau wie das in Hamburg und das in Unterschleißheim und das in Bremen auch, ich wurde richtig sentimental, als ich es sah, das gute alte Fluxi-Einzelzimmer, ich stellte meine Tasche ab, atmete tief durch und wäre gern dageblieben, naja, Gewohnheit, die alte Sau, sie lässt einen nicht im Stich.
Ferdi wartete schon ungeduldig an der Rezeption auf mich und bei ihm standen einige Leute, Hans und Leute von anderen Labels, die Ferdi mir hektisch vorstellte, hier der und der von Magnetic, da die und die von Knatter Records und so weiter und so fort und ich immer nur Hallohallojasuper, ich wurde nervös, Ferdis Hektik war ansteckend, da hatte ich keinen Sinn für das Anknüpfen neuer Bekanntschaften und Ferdi brach das auch gleich wieder ab, »Wir gehen mal rüber, bis denn, haut rein!«, rief er und lief mit mir los und Hans hinterher, er trug einen Karton vor dem Bauch, in dem die bemalten Leinenlappen lagen, die ich in Köln schon gesehen hatte, und ich fragte, ob ich ihm helfen solle, aber er sagte nein, das sei eine Frage der Ehre, bloß dass er das Gaffa Tape vergessen habe, das sei bitter, da müsse man dann mal gucken, da könne ich ihm vielleicht später doch noch helfen blablabla, und so liefen wir zu dritt durch den Verbindungsbau vom Fluxi zur Halle und Hans redete immer weiter über das Gaffa Tape, ohne das nun gar nichts ginge, und wir gelangten in den äußeren Ring der Halle, in dem die Leute im Tageslicht im Kreis liefen, alle im Uhrzeigersinn und alle auf der Suche nach irgendwas, während von hinter der Wand aus der Halle das Bummbumm herausdrang wie aus einem Maschinenraum. Ferdi führte uns einige Treppen hoch zu einem zweiten und dann einem dritten Ring, und der war für das allgemeine Publikum gesperrt, wir mussten die Ausweise, die Ferdi an der Rezeption verteilt hatte, vorzeigen, um überhaupt auf die Treppe dahin zu kommen. Von diesem oberen Ring gingen die Lounges ab, »Da wollen wir doch gleich mal sehen«, sagte Ferdi und studierte die Nummern über einigen Türen und schloss dann die Nummer 12 auf und dahinter roch es säuerlich nach Bier und kaltem Rauch wie in jeder normalen Eckkneipe, und so sah der Raum auch aus, es war ein Festival der Hässlichkeit, ein Furniermöbel-, Linoleum-, Ziegelwand- und Terrakottafliesen-Albtraum, aber auf einer Seite waren große Fenster und die gaben den Blick frei in die Halle und das erste, was Ferdi machte, war, zu einem der Fenster zu gehen und es aufzuschieben und rauszugucken und Hans und ich hinterher, und so schauten wir eine Weile auf die große Fläche in der Mitte der Halle, in der es langsam losging, es waren schon Leute da unten, vielleicht ein paar tausend, das war in dieser Halle nicht viel, und die zuckten sich schon mal in Fahrt und es waberte und blitzte und bummbummte und Ferdi schrie gegen das Bummbumm, das direkt und wörtlich frischen Wind in die muffige Sportlerkneipe brachte, weil mit jedem Beat ein Schwall Raverluft zu uns hereinwehte, Ferdi schrie jedenfalls gegen das Bummbumm an: »Wartet nur, bis das richtig voll ist!« Dann schob er die Scheibe wieder zu und sah sich um.
»Okay«, sagte er, »das sieht scheiße aus. Zeig mal, was du am Start hast, Hans!«
»Ich brauche aber Gaffa Tape«, sagte Hans. »Oder was Ähnliches. Hab ich vergessen.«
»Jetzt zeig schon!« sagte Ferdi.
»Ich geh mal Gaffa Tape suchen«, sagte ich, denn irgendwie wollte ich nicht dabei sein, wenn Hans seine Bilder bzw. Lappen oder wie man das nennen sollte, zeigte, das hatte ich schon immer schlimm gefunden, darunter hatte ich, als ich noch selber mit Kunst zugange war, am meisten gelitten, dieser Moment, wo man einem, der dazu was sagen sollte, einer, von dem man was wollte oder was auch immer, wenn man so einem also aus irgendeinem Abhängigkeitsding heraus sein Werk zeigte, das hatte mich immer fertig gemacht, weil selbst die, die es gut meinten und das Werk mochten, immer das Falsche sagten, naja, jedenfalls sah ich zu, dass ich nicht dabei war, wenn Hans Ferdi seine Lappen zeigte, also ging ich hinaus aus der BummBumm-Lounge und schaute mich draußen ein bisschen um.
Es war noch nicht viel los, aber ich sah ein paar Leute, die Polohemden trugen, auf denen »Event Gastro Essen« stand, und einen davon sprach ich an und fragte ihn, ob er mir ein bisschen Gaffa Tape leihen könne, falls er sowas habe, und ob er mir außerdem schon mal erklären könne, wie das hier mit dem Bier für die Lounges liefe, und er war ein netter Kerl und erklärte mir alles und lief derweil mit mir herum und fragte überall für mich nach Gaffa, bis mir jemand in Loge 8, der Lounge von Magnetic, eine Rolle Gaffa schenkte, er gab es mir mit den Worten »Für BummBumm tu ich doch alles!«, und damit ging ich zurück zur BummBumm-Lounge, wo Hans mittlerweile auf allen möglichen Stühlen und Tischen und auch auf dem Boden seine Lappen ausgebreitet hatte und Ferdi sich mit den Händen durch die Haare fuhr und nicht glücklich aussah.
»Natürlich Magical Mystery!«, sagte er gerade, als ich dazukam. »Was denn sonst? Ich meine, das mit dem viermal Bumm ist in Ordnung und die Dynamitstangen sind auch okay, aber was hat das mit Magical Mystery zu tun?«
»Hör mal, ich bin kein Schildermaler«, sagte Hans, »ich dachte, wir machen hier die BummBumm-Lounge, da hab ich …«
»Hans!«, sagte Ferdi streng und hielt dabei einen Lappen hoch, auf dem ein Hund eine Dynamitstange apportierte. Darüber war das Wort »Bumm« gepinselt. »Du warst doch mit uns unterwegs! Wir haben doch die ganze Zeit Magical Mystery gemacht! Da ist doch klar, dass das auch das Motto für unsere Lounge ist! Wir haben doch darüber gesprochen! Sogar in Köln noch! Du wolltest dir doch was überlegen wegen Magical Mystery!«
»Magical Mystery? Das ist doch von den Beatles«, sagte der Magnetic-Mann, der mir das Gaffa geliehen hatte und der in diesem Moment dazukam. Er lachte und haute zugleich Ferdi auf den Rücken. »Wie oft haben die Leute das schon zu dir gesagt, Ferdi? In den letzten zwei Wochen jetzt? Ich hab über euch ja wilde Dinge gehört.«
»Nicht so oft, wie man denken würde«, sagte Ferdi. »Das mit den Beatles haben eigentlich nur wenige gesagt, man wundert sich. Kennst du Charlie? Das ist Charlie, das ist Shorty von Magnetic.«
»Jaja«, sagte ich. »Vorhin schon gesehen.«
»Karl Schmidt«, sagte Shorty. »Jetzt weiß ich wieder! Du bist Karl Schmidt! Ich habe damals deine Kisten bei Haut der Stadt gesehen, das war neunundsiebzig oder achtzig oder so. Die waren super. Ohne Scheiß.«
»Ja,«, sagte ich. »Fand ich auch!«
»Aber mal ehrlich, Ferdi, Magical Mystery, ist das nicht ein bisschen sehr retro?«, wechselte Shorty wieder das Thema.
»Euer Motto ist doch noch viel mehr Retro«, sagte Ferdi. »Was ist das denn für ein Springtime-Motto, Lasst hundert Blumen blühen?! Ich meine, das ist aus den Fünfzigern, Shorty! Und von Mao!«
»Echt?« Shorty war ehrlich überrascht. »Shit, das war Barbaras Idee, ich dachte, das ist so ein Frauenscheiß!«
»Und ich dachte, du wärst so ein großer Intellektueller, Shorty«, sagte Ferdi. »Seit wann prüfst du sowas nicht nach?«
»Hatte keine Zeit, ich war die ganze Zeit unterwegs«, sagte Shorty. »Um die Springtime hat sich diesmal Barbara gekümmert. Wieso Mao?«
»Was weiß ich, das war halt so«, sagte Ferdi. »So, und nun zu dir«, sagte er und drehte sich zu Hans um. »Häng du das mal schön auf, während ich mich mit Charlie hier um das Bier und die Becher kümmere und was weiß ich nicht alles, mein Gott, gleich kommen die ganzen Leute!«
»Das mit dem Bier habe ich schon klargemacht«, sagte ich. »Ich hab einen Gastromann gesprochen. Du musst dem nachher nur irgendwie bestätigen, dass ich das quittieren darf, dann kann ich mich für den Rest des Abends darum kümmern, der bringt gleich schon mal ein paar Fässer vorbei.«
»Ein paar Fässer?«, sagte Ferdi. »Letztes Mal hatten wir zehn, und am Ende waren alle sauer, weil nichts mehr da war, da waren die Gastrotypen plötzlich weg, da mussten wir zu Magnetic rüber, peinlich!«
»Und ob«, sagte Shorty, »Magical Mystery, Ferdi!«
Hans nahm die Rolle Gaffa Tape, riss einzelne Stücke davon ab und klebte sie sich lose an den Arm. Dann ging er mit seinen Lappen herum und heftete sie überall an die Wand.
»Ich glaub’s nicht«, sagte Ferdi. »Ich glaub’s nicht. Ist der die ganze Zeit mit uns unterwegs und hat nur Bummbumm gemacht und nichts mit Magical Mystery!«
Ich sagte nichts. Ich schaute Hans hinterher und war neidisch. Ich hätte Ferdi gerne ein Magical-Mystery-Kunstding gemacht, wenn es das war, was er wollte. Alles, was ich gebraucht hätte, wären ein kaputter Stuhl, ein abgebrochenes Stuhlbein, ein Einkaufskorb voller Glühbirnen und ein Klosauger gewesen. Und ein paar Pylone und Flatterband. Aber ich war nicht der Künstler, Hans war der Künstler. Und der hängte jetzt gerade vier Lappen nebeneinander, auf denen »Bumm« stand.