32. Der Junge mit dem weißen Pferd

Der Club war ziemlich klein und hatte keinen Namen draußen dran, er war im Souterrain eines kleinen Hauses mitten im Studentenviertel und er erinnerte mich an das Hinterzimmer in den Achtzigern, er hatte dieselbe trashige Sperrmülleinrichtung, und in einer Ecke ganz hinten gab es eine kleine Bühne für das DJ-Pult. Ich ging mit rein und kaum waren wir alle drin, war der Laden auch schon so gut wie voll, obwohl sonst keiner da war, nur zwei Leute vom Club, kein Wunder, es war ja auch erst halb elf oder so, aber Raimund wurde trotzdem nervös. »Was ist denn hier los, habt ihr die Plakate nicht geklebt oder was?«, sagte er, worauf die Leute vom Club nur sagten: »Hallo Raimund«, und dann gingen sie mit allen in die Backstage, damit sie dort ihre Taschen hinbringen konnten, nur Ferdi und ich blieben am Tresen und Ferdi ging hinter die Theke und holte dort zwei Flaschen Bier hervor und schob mir eine rüber. Es waren Flaschen mit Schnappverschluss und ich stellte meine ungeöffnet ab und steckte die Hände in die Jackentaschen, während Ferdi seine aufploppen ließ und mir zuprostete.

»Ich geh dann mal«, sagte ich zu Ferdi, »ihr kommt ab jetzt ja wohl alleine klar.«

»Ja, und hol uns hier morgen früh bloß raus, sonst schaffen wir Köln nicht, ehrlich mal!«

Aus dem hinteren Teil kam Gelächter und dann drang das erste Bummbumm nach vorne, mal lauter, mal leiser, wahrscheinlich eine Art Soundcheck. Höchste Zeit zu gehen; noch ein paar Minuten länger und ich würde die Bierflasche aufmachen, das war klar, ich merkte schon, wie die Lust, mich an den Tresen zu setzen und das Bier zu trinken und eine zu rauchen und einfach immer weiter sitzen zu bleiben und dabei zu sein, während alle immer lustiger wurden und Scheiß bauten, wie diese Lust also in mir aufstieg und auch gleich von überall die Stimmen mit den hilfreichen Argumenten kamen, die inneren Party People, die sofort loslegten, als der Gedanke, sich zu setzen und noch kurz zu bleiben, erstmal gedacht war, da standen sie gleich auf der Matte und legten los, denn das war ja Quatsch, wenn man schon mal hier war, dass man das nicht auch gleich noch ein bisschen auskostete, was war denn schon dabei, es musste ja nicht gleich Bier sein, es ginge ja auch erstmal eine Cola, mal nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten, auch mal lockerlassen und überhaupt, wer weiß, ob ich überhaupt jemals ein Multitox gewesen war, und nur mal so eine halbe Stunde Bummbumm, solange noch keiner da ist, das kann ja wohl nicht das Problem sein, und Bier ist ja wohl sowieso noch nie das Problem gewesen, dann eben einfach mal Koks und Schnaps und Speed und E und all das weglassen, das kann ja wohl nicht so schwer sein, ist doch bloß das Multi das Problem beim Multitox, so kam es von allen Seiten, aber irgendwo war auch der gute alte Werner, der um sich schlug und die Party People in den Arsch trat und pausenlos »Aufhören, aufhören, zur Not einfach weglaufen« rief, der war auch nicht faul, der gute alte Werner, und ich dachte an den Witz, wo zwei Leute vor dem Richter stehen und jeder gibt ihm einen Umschlag, und in jedem Umschlag sind hundert Mark Schmiergeld drin und der Richter nimmt beide Umschläge und guckt rein und sagt: »Dann kann ich ja unparteiisch entscheiden!«, so ging es mir in diesem Moment auch, es stand unentschieden, mir gefielen die Party-People-Stimmen nicht besonders, ich wusste ja, dass sie unrecht hatten, aber ich hatte auch keine Lust, Werners Ermahnungen einfach so nachzugeben, es musste doch bessere Argumente fürs Gehen geben als nur, dass Werner wie immer recht hatte und dass ein Hierbleiben zu gefährlich war, das reichte nicht, das war mir zu negativ, es konnte ja nicht sein, dass man überhaupt keinen Spaß mehr im Leben hatte und von einem der Supervision unterworfenen Altonafreak auf ewig ferngesteuert wurde, und außerdem hatte ich keine Lust, alleine in die Nacht hinaus und zurück zum Fluxi-Hotel zu gehen, wo auf mich ein Zimmer mit Zustellbett und ein Elch warteten, und so stand ich da unentschlossen herum, bis es noch ein Argument gab, das mir gerade noch rechtzeitig einfiel, während ich da am Tresen stand mit dem geschlossenen Bier und den Händen in den Jackentaschen, ein Argument, das in letzter Minute um die Ecke kam, wie der Junge mit dem weißen Pferd, doof, aber hilfreich, nämlich das professionelle Argument, einfach professionell sein und den Job machen und deshalb jetzt gehen, so sah’s aus, der Job war ja klar definiert, nüchtern bleiben und morgen früh um acht Uhr alle hier rausholen, dafür wurde ich bezahlt und nicht dafür, dass ich mit Ferdi am Tresen saß, deshalb sagte ich zu Ferdi, der fröhlich auf seinem Hocker kippelte und am Bier nuckelte: »Bis denn, Ferdi!«

»Mach’s gut Charlie, hau rein.«

Aus der Tiefe des Raums kam Raimund angeflitzt. Er hielt sein Funktelefon hoch.

»Hätte ich fast vergessen«, rief er gegen die Bummbumm-Musik an, die plötzlich lauter wurde. »Hätte ich fast vergessen, Charlie, hier, der Knochen!« Er hielt mir das Telefon hin.

»Für mich?«

»Ja, nimm das. Falls was ist. Oder wir dich erreichen müssen. Ferdi hat auch eins.«

Ferdi nickte und zog ein Handy aus der Tasche. Es war eins wie das von Schöpfi, er hielt es hoch und klappte es auf und zu und rief: »Aber meins ist nicht aus der Steinzeit!«

Ich nahm Raimunds Knochen entgegen, er überreichte ihn mir mit ähnlich feierlicher Geste wie zuvor das Gyrosbrötchen. »Auf keinen Fall fallen lassen«, sagte er. »Das Ding war arschteuer.«

»Aber jetzt nicht mehr!«, sagte Ferdi. »Das alte Prollbrikett!«

»Ich habe aber Ferdis Nummer nicht«, sagte ich zu Raimund.

»Die ist da drin. Da sind zehn Kurzwahlspeicher drin, hier!« Raimund zeigte mir, welche Tastenkombinationen ich drücken musste, um Ferdis Nummer zu wählen.

»Und nicht fallen lassen!«

»Kein Ding, Raimund.«

Ich ging aus dem Club raus. Als die Tür hinter mir zufiel, war die Bummbumm-Musik weg. Ich schwitzte. Draußen nieselte es. Ich machte meine Jacke auf, verstaute das Handy in einer Innentasche und ging zurück zum Fluxi.

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt
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