20. Bing
Ferdi stand auf und zog mich mit, ich wäre lieber sitzengeblieben und hätte mir das von Weitem angeschaut, die vielen Leute machten mich nervös, ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal außerhalb der Hamburger S-Bahn mit so vielen Leuten in einem Raum gewesen war, aber Ferdi zog mich ohne Gnade mit und warf sich ins Gewühl, da riss ich mich dann von ihm los, das war nichts für mich, hier mitten unter die Leute zu gehen, die jetzt Sachen wie »Was ist mit TXF« oder »Sind wir noch drin« riefen, während ich am Rand des sinnlosen Geschehens oder jedenfalls sinnlos am Rand des Geschehens stand wie ein Voyeur, während Ferdi sich zum Zentrum des Geschehens durchkämpfte, und dann schien mir dieses Am-Rand-Stehen ein Vorgeschmack auf das zu sein, was mich bei der Magical-Mystery-Tour erwartete, nämlich dabei zu sein ohne drin zu sein, mitzuhelfen ohne mitzumachen, was mich jetzt wieder an Schlumheimer erinnerte, dabeisein ohne drinsein, das war der Titel der ersten Schlumheimer-Installation gewesen, die ich je gesehen hatte, das war Ende der Siebziger gewesen, in der »Zone« in Westberlin, damals hatte er seinen Installationskram noch wahllos irgendwo ausgestellt, Hauptsache es gab Platz dafür und er konnte einigermaßen sicher sein, dass das, was er sich installationsmäßig so zusammenschusterte, für ein paar Wochen unbehelligt herumstehen würde, das alte Quatschgenie, mit den Bildern hatte er damals schon verdient, aber die Installationen, die Schlumheimer für mich immer gottgleich und unerreichbar gemacht hatten, standen noch einfach irgendwo herum und so auch diese, dabeisein ohne drinsein, das war schon toll gewesen, ein richtiges Aha-Erlebnis, Schlumheimers Installationen waren, wenn man selber Kunst machen wollte, das Ermutigendste und Inspirierendste, was es gab, sie waren einfach da wie gerade gelandete Aliens, die sich erst noch ein bisschen von der Reise ausruhen mussten, und man sah sie an und dachte, wie einfach das ist und wie toll aber auch, wie banal und wie unerreichbar gut, und man wusste, dass man bei sowas Tollem dabei sein wollte und mir wurde ein bisschen wehmütig zumute, als ich zusah, wie Ferdi sich zum Faxgerät durchkämpfte, einem Mädchen, das dort mit Zetteln stand, diese aus den Händen riss, damit zum Kopierer, der gleich in der Nähe stand, ging und sie drauflegte, sich Kopien von den Zetteln machte und dann die Originale dem Nächstbesten, der neben ihm stand, in die Hände drückte und mit den Kopien zu mir zurückkam und mit mir und den Kopien, die er in der Hand über den Kopf hielt wie eine Trophäe beim Indianerspiel, zu seinem Schreibtisch zurückging, dabeisein ohne drinsein, das war meine erste Schlumheimer-Installation gewesen, und sie hatte genau die Energie versprüht, die auch hier den ganzen Raum erfüllte, dabeisein ohne drinsein war ein Versprechen gewesen, das ganze Leben betreffend, keine Ahnung, wie Schlumheimer das gemacht hatte, dass von einem Haufen aufeinandergeschichteter Stühle und Tische so eine Energie ausging, bloß Stühle und Tische, um die herum er im Abstand von etwa zwei Metern mit Pylonen und rotweißem Flatterband eine Absperrung gezogen hatte wie um sicherzustellen, dass man sich nicht daran verbrannte, eine Absperrung, von der man nicht wirklich wissen konnte, ob sie zur Installation dazugehörte oder einfach nur eine Absperrung war wie im Museum, schließlich stand das Ding in der Zone, ich hatte ihn dazu mal befragt, das war heikel gewesen, er redete mit uns Kleinen ja nicht und wir trauten uns auch kaum, ihn anzusprechen, davon kam nur Ärger, entweder war er besoffen und kindisch oder verkatert und überheblich, jedenfalls hatte ich ihn mal in einem übermütigen Moment gefragt, ob das Absperrding nun fest dazugehörte oder nur für die Zone gemacht war, um die ganzen Penner da fernzuhalten, und er hatte gelacht und mich angeguckt, als ob ich bescheuert wäre, dabei hatte ich die Frage eigentlich ziemlich gut gefunden, man muss doch über sowas mal reden können, hatte ich gedacht, jedenfalls hatte Schlumheimer gelacht und mich angeguckt wie einen Deppen, und dann war er wortlos weitergegangen, der blöde Wichser, und später hatte er das Ding in Essen noch einmal ausgestellt, und ich hatte mir den Katalog besorgt, und siehe, die Absperrung war noch dabei, das hätte er doch sagen können, dass die fest dazugehörte, der Arsch.
Ferdi saß mittlerweile wieder hinter seinem Schreibtisch und am Nebentisch saß immer noch Dave und im Hintergrund wurde ein Kühlschrank aufgemacht, da holten die Leute Sektflaschen raus und gossen sich Papierbecher mit dem schaumigen Kram voll und stießen damit an und jemand drehte auch endlich mal die Bummbumm-Musik, die schon die ganze Zeit gelaufen war, lauter, und ich musste rufen, als ich fragte: »Wie sieht’s aus, Ferdi?«
»Wir sind auf zwei, fünf, sechs, neun, fünfzehn und achtundzwanzig«, rief Ferdi. »Maischa, die alte Pottsau, ist immer noch der auf Eins, ich hasse das! Aber rate mal, wer auf der Fünfzehn ist?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Hosti Bros!« Er lachte. »Holger und Basti. Mit Hosti Brosti!«
Im Hintergrund nahm die Party Fahrt auf, analog zum Lauterwerden der Musik drehten auch die Gespräche auf, das ganze Haus bebte vom Bummbumm und es war auch nicht mehr so loungiges Zeug, das da gespielt wurde, irgendjemand hatte was anderes aufgelegt und noch lauter gemacht und die kleinen Spaßvögel zwitscherten lustig umeinander und ich hatte sie plötzlich, während ich sie betrachtete, ziemlich lieb, weiß auch nicht, wo das plötzlich herkam, ich kannte sie ja gar nicht.
Ferdi blätterte derweil in seinen Zetteln herum.
»Aber keine Alben«, rief er. »Einfach keine Alben. Die Leute von Magnetic können Alben, und die anderen auch alle, aber wir haben immer nur Singles und Compilations.« Ich beobachtete weiter die Party. Manche Leute umarmten sich, und sie stießen immer noch lautlos mit ihren Papierbechern an, einen sah ich, der dabei »bing« sagte, nicht dass ich es hörte, aber man sah es an seinem Mund, jedesmal, wenn er mit seinem Pappbecher mit irgendwem anstieß, dann sagte er »bing«, es war Holger von Hosti Bros. Er stieß mit den Leuten an und sagte »bing«. Irgendwie erinnerte mich das an den jungen Karl Schmidt, der hätte es genauso gemacht. Holger bingte sich durch die Leute, und dann fiel mir auf, dass er dabei immer zu uns rüberguckte, und ich schaute schnell weg, das Letzte, was ich hier sein wollte, war ein Voyeur des Par tyspaßes, ein Spanner beim Drogenkonsum anderer, wobei mir auffiel, dass ich überhaupt keine Lust hatte, jetzt ebenfalls Sekt zu trinken, das beruhigte mich dann doch, sonst hätte ich vielleicht auf Werner hören und schnell weglaufen müssen.
»Wir haben einfach keine Alben«, wiederholte Ferdi, »wir haben keine Alben, das ist ja auch der Grund für Kratzbombe, wir müssen das ganz neu aufstellen, Kratzbombe wird das Album-Label, darum haben wir da auch die Hosti Bros rübergeholt auf Kratzbombe, ich dachte, die beiden können einfach keine Hits, aber ich hab gedacht, da geht vielleicht was mit Alben, aber hier!« Er hielt mir seine Zettel hin. »Die sind noch nichtmal auf der Warteliste für die Albumcharts! Die sind noch nicht mal auf der Warteliste für die Warteliste!« Er lachte. »Stattdessen sind sie auf Platz fünfzehn der Single-Charts. Mit Hosti Brosti, die Spacken. Unglaublich! Und jetzt lass uns mal ein bisschen Party machen.« Er stand auf und diesmal folgte ich ihm ins Gewühl. Am Faxgerät war ordentlich was los, da wurden Basti und Holger gefeiert, und Ferdi stellte sich dazu und hielt den Leuten eine Ansprache über das Thema Singles und Alben und Hits und warum die Hosti Bros trotz Platz fünfzehn in den Single-Charts versagt hätten, »Komplettversager«, »totale Mauken«, das waren die Begriffe, die er verwendete, und es störte ihn dabei nicht im Mindesten, dass Holger und Basti dabeistanden. Und Holger und Basti störte es auch nicht, sie grinsten und nickten, während er das sagte, und als er ihnen sagte, dass sie nicht grinsen und nicken sollten bei sowas Ernstem, lachten sie ihn aus. Ich ging derweil zum Kühlschrank und schaute hinein. Er war voll mit Champagner, kein Sekt, nur Champagner, auch das Gemüsefach, nur in der Kühlschranktür gab es außerdem noch einen angebrochenen Tetrapak Milch und eine Tafel weiße Schokolade und im Eisfach war eine Flasche Wodka und eine Packung Schokoladeneis, aber nirgendwo Mineralwasser, keine Softdrinks, gar nichts. Ich nahm mir einen Pappbecher und füllte ihn mit Wasser. Als ich zu Ferdi zurückkam, stand Rosa bei ihm. Sie sah mich kommen und winkte. Sie hob ihren Pappbecher und wir stießen an.
»Bing«, sagte ich versuchsweise.
»Typisch BummBumm Records«, sagte sie. »Champagner trinken, aber zu faul zum Gläserspülen!«
»Ich versteh’s«, sagte ich. Ich zeigte auf ein Bündel Zettel, das neben uns auf dem Kopierer lag. »Bist du auch in den Charts?«, sagte ich.
»Nie im Leben«, sagte sie. »Ich bring jetzt was bei Kratzbombe raus, aber nur, weil die keine CD-Maxis machen.«
»Bist du sicher?«, sagte ich.
»Von meinen Sachen nicht.«
»Dann ist ja gut«, sagte ich.
»Kratzbombe macht keine CDs, wenn der Künstler das nicht will«, sagte Ferdi. »Nur dass Rosa die Einzige ist, die das nicht will. Aber jedes Label braucht so einen! Wir können ja nicht alle nur Kommerzschweine sein.« Er lachte und ging weg.
»Ich glaub, ich geh jetzt was essen«, sagte Rosa. »Kommst du mit?«
»Ja, gerne«, sagte ich.
»Aber nicht schon wieder in den Suppenladen«, sagte sie.
»Ist mir recht«, sagte ich.
Als wir rausgingen, hakte sie mich unter, dabei hatte ich keinen Schirm und es regnete auch nicht mehr.