58. Exit Lolek
Kurz vor Hamburg, am Maschener Kreuz, mussten wir an der Raststätte halten, weil Schöpfi und Holger und Dubi noch einmal unbedingt aufs Klo mussten, und Anja und Rosa und Sigi gingen gleich mit, was kaufen und vielleicht auch mal aufs Klo, wer weiß, und kaum waren sie weg, entschlossen sich Basti und Raimund, hinterherzugehen und nachzugucken, was die da so vorhatten, und so saß ich praktisch alleine im Auto, nur Ferdi lag oben auf dem Komabrett und schlief, und ich freute mich darauf, dass der Tag bald vorbei sein würde und ich ins Fluxi Budget Harbor Nobistor Hamburg einchecken und mich hinlegen konnte, mit allem anderen war ich durch, egal ob grüner Tee (Raststätte Kassler Berge), schwarzer Kaffee (Raststätte Klangheim), Kakao mit Sahne (Raststätte Niederburgen), Ananas in Stücken, frisch (Empfehlung von Ferdi »zur Entgiftung«, Raststätte Postenbüttel), Currywurst (Empfehlung von Raimund, »Ess ich hier immer!«, Raststätte Zweiklang), Hustenbonbons (Raststätte Froberge) oder Fernfahrerteller extra (Raststätte Freiwilde), ich hatte mein Konsumentenleben für diesen Tag gelebt und war mittlerweile so müde und zermürbt und abgenervt von den seit ihrer Frankfurter Apfelweinerfahrung immer noch fröhlicher werdenden Knalltüten hinter und neben mir, dass ich mich schon jetzt, im Schein gelber Parkplatzleuchten, eingerahmt von Lastwagen und Wohnmobilen, gerne hingelegt hätte, jedenfalls beneidete ich in diesem Moment Ferdi, dessen Schnarchen leise durch das Einstiegslock des Komabretts zu mir herunterschwebte.
Die erste, die zurückkam, war Rosa, und als ich sie näherkommen sah, schämte ich mich ein bisschen für meine schlechten Gedanken, jedenfalls, was Rosa betraf, du warst nicht gemeint, Rosa, dachte ich, du bist keine Knalltüte, du bist okay, und wenn doch Knalltüte, dann eine gute, und schon von weitem schwenkte Rosa wie zum Beweis ein paar Salatblätter, die hatte sie wohl für Lolek und Bolek ergattert, denn als sie am Wagen ankam, ging sie gleich nach hinten und öffnete die rückwärtige Tür.
»O«, hörte ich sie rufen. »O Gott, Charlie, komm mal schnell.«
Ich stieg aus und ging zu ihr nach hinten. Sie zeigte auf den Käfig.
»Schau mal, der rührt sich nicht.«
Lolek lag auf dem Käfigboden und rührte sich allerdings nicht. Bolek stand dabei und mümmelte ohne Begeisterung an einem Salatblatt.
Ich steckte die Hand in den Käfig und holte Lolek raus. Er war tot. Ich hielt ihn in der Hand und wusste nicht weiter.
»Was soll ich denn jetzt tun?«, fragte ich ratlos. »Zurücklegen?«
»Nein, das wäre ja fies!« Rosa nahm Bolek aus dem Käfig und streichelte ihn. Bolek fiepte ein bisschen, aber das tat er ja immer.
»Aber irgendwo muss er ja hin. Ich kann ihn ja nicht wegschmeißen, bevor wenigstens Holger zurück ist, das wäre irgendwie nicht richtig«, gab ich zu bedenken.
»Da kommt er ja!«, sagte Rosa. Holger, Basti und Raimund kamen durch die Nacht getänzelt, sie waren gut drauf, das war mal sicher.
»Holger, komm mal«, rief ich.
Sie kamen alle drei herüber.
»Hier«, sagte ich, und hielt Holger den toten Lolek hin. »Der ist tot.«
»O Scheiße, Mann«, sagte Holger und nahm mir den toten Lolek aus der Hand. Er hielt ihn sich in dem trüben, orangenen Licht vor die Augen und streichelte ihn ein bisschen. »O Mann«, sagte er, und seine Stimme klang zittrig. »Scheiße.«
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Schau dir das an«, sagte Raimund. »Ist der einfach tot! Wie schnell sowas geht! Der war doch noch ganz munter vorhin!«
»Woher willst du das wissen?«, sagte Basti.
»Ich hab mir die vorhin mal angeguckt, bei der anderen Raststätte.«
»Hast du dem irgendwas zu fressen gegeben?«, sagte Basti.
Holger streichelte immer weiter den kleinen Lolek und drehte ihn hin und her und schaute ihm in die toten Augen.
»Wieso sollte ich dem was zu fressen gegeben haben, Basti? Was ist das überhaupt für eine Frage?«
»So einer stirbt doch nicht einfach so«, sagte Basti. »Da hat dem doch irgendeiner was Falsches zu fressen gegeben.«
»Ich hab dem gar nichts gegeben. Wie bist du denn drauf?! Außerdem wissen diese Tiere doch ganz genau, was sie fressen dürfen und was nicht. Hast du doch neulich selber erzählt, dass er zum Beispiel die Karotte gefressen hat, die Petersilienwurzel aber nicht. Hast du selber gesagt!«
»Ich habe gesagt, dass man ihnen den Lauch nicht geben darf, der da bei dem Suppengrün dabei war. Das habe ich gesagt! Du wolltest denen den Lauch auch noch geben, so sieht’s aus, Raimund! Da kann man schon mal nachfragen, wenn der tot ist, ob du dem vielleicht irgendwas Falsches gegeben hast!«
»Ich finde das nicht in Ordnung, dass du hier so einen Aggro reinbringst, Basti«, sagte Raimund. »Das ist ziemlich uncool jetzt, da hab ich keinen Bock drauf.«
»So einer stirbt doch nicht einfach so«, sagte Basti.
»Doch«, sagte Holger, während er Lolek weiter streichelte. »Die beiden sind schon ziemlich alt. Acht Jahre oder so, ich hab die mit zwölf bekommen.«
»Wieso du? Ich dachte, die sind von deiner Schwester!«, sagte ich.
»Nein, ja, ich hatte ihr die geschenkt, als ich zu Hause ausgezogen bin«, sagte er. »Ich dachte, die sind besser bei meiner kleinen Schwester aufgehoben. Aber eigentlich sind sie natürlich meine, ich meine, man darf doch was nicht weiterverschenken, was man selber geschenkt bekommen hat, ich hab das nur so gesagt, damit sie sich kümmert. Und jetzt ist der erste schon tot. So schnell geht das.« Jetzt liefen richtige Tränen seine Wangen hinunter.
»Ja«, sagte Raimund, »daran merkt man, dass irgendwie die Kindheit vorbei ist.«
Alle schauten ihn an. Er hob abwehrend die Hände. »Ich mein ja bloß.«
Holger gab mir den toten Lolek zurück und wischte sich mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht. Dann holte er ein gebrauchtes Tempotaschentuch aus der Hosentasche und schnaubte hinein.
»Vorsicht, du hast doch jetzt Leichengift an den Händen«, sagte Basti. »Du solltest dir erstmal die Hände waschen gehen!«
»Quatsch«, sagte Holger.
»Klar«, sagte Basti. »Da kann man von draufgehen.«
»Soso«, sagte ich. »Und ich? Bei mir ist das egal, oder was?«
»Ihr müsst euch die Hände waschen. Mein Vater ist Arzt!«
»O Mann«, sagte Holger und schaute auf seine Hände.
Jetzt kamen auch noch Dubi, Anja und Sigi dazu.
»Was ist denn los?«, wollte Sigi wissen.
»Das Meerschweinchen ist tot«, sagte Rosa.
»Hab ich mir schon gedacht, dass das nicht gutgeht«, sagte Sigi.
»Das ist ganz schlecht«, sagte Dubi. »Die dürfen doch auf keinen Fall allein sein! Dann gehen die ein. Oder werden jedenfalls traurig. Die dürfen auf keinen Fall allein sein. Das gilt als Tierquälerei, wenn die allein sind. Die müssen immer mindestens zu zweit sein.«
»Wusste ich gar nicht«, sagte Holger. »Das haben die mir damals nicht gesagt.«
»Vielleicht wusste man das damals noch nicht«, sagte Dubi, »aber die müssen immer mit anderen zusammen sein.«
»Was sollen wir denn jetzt machen?« sagte Holger verzweifelt und hielt dabei seine Hände in die Höhe wie ein Chirurg, der auf die Gummihandschuhe wartet.
»Vielleicht sollten wir erstmal Lolek begraben«, sagte ich und hielt ihn hoch. »Oder willst du ihn mitnehmen, Holger?«
»Nein, den müssen wir begraben.«
»Aber wo denn?« Ich schaute mich um. Um uns herum standen LKWs und Wohnmobile und es gab zwar gelegentlich kleine Beete auf Verkehrsinseln zwischen den Parkplatzabschnitten, aber die waren dicht mit dornigen Büschen bepflanzt.
»Also mitnehmen können wir den auf keinen Fall, das ist ja irgendwie eklig«, sagte Sigi.
»Hat jemand eine Schaufel?«, fragte Raimund.
Keiner meldete sich.
»Hab ich mir schon gedacht. Was meinst du denn, Holger?«
»Keine Ahnung, ich hab damit doch keine Erfahrung, begraben, also ich würde schon ein Loch buddeln, aber was bringt das?«
»Sollen wir ihn einfach in einen Mülleimer schmeißen?«
Holger kämpfte mit den Tränen. »Ich weiß nicht«, presste er hervor. »Das ist doch irgendwie scheiße!«
»Ich frag mal Ferdi«, sagte Raimund. »Ferdi muss das mal entscheiden, okay?«
Holger nickte.
»Was Ferdi sagt, wird gemacht, okay?«
Holger nickte. Und alle anderen auch.
Raimund verschwand im Auto. Nach einer Weile kam er wieder.
»Ferdi sagt: Wegschmeißen.«
»Das ist irgendwie fies«, sagte Rosa.
»Ja, sagt Ferdi auch. Das klingt fies, sagt Ferdi, aber Meerschweinchen brauchen keine feierliche Bestattung, sie selber würden es auch nicht anders machen.«
»Was ist das denn für eine bescheuerte Argumentation.«
»Die Meerschweinchen würden ihn einfach liegenlassen, sagt Ferdi«, sagte Raimund, »deshalb sollte man ihn, wenn man ihn nicht liegenlassen kann, meerschweinchengerecht wegschmeißen.«
»Das hat Ferdi gesagt?«
»Das hat Ferdi gesagt.«
»Na dann …«
Wir packten Lolek in eine Tüte und warfen ihn in den nächsten Mülleimer. Dann gingen Holger und ich uns die Hände waschen. Bis wir zurück waren, ging es ihm schon wieder besser. Die anderen standen immer noch vor dem Auto und streichelten am armen kleinen Bolek herum.
»Und mit dem hier?«, sagte Rosa. »Was machen wir mit dem hier?«
»Man könnte ein neues Meerschweinchen kaufen, dann wären es wieder zwei«, schlug Dubi vor.
»Ach scheiße, und dann stirbt Bolek und dann habe ich wieder nur eins, ich meine, wenn Lolek jetzt an Altersschwäche gestorben ist, dann hat Bolek auch nicht mehr lange«, sagte Holger.
Sigi fing an zu weinen.
»Was ist denn mit dir los, Sigi?«, sagte Raimund.
»Du bist doch voll der Arsch, Raimund!«
»Also bitte, jetzt reiß dich mal zusammen, Sigi, ich meine, wie bist du denn drauf?! Was ist denn hier überhaupt los? Ich meine, freut euch doch lieber, dass Bolek noch am Leben ist, auch mal das Positive sehen!«
»Ja, aber wir brauchen ein zweites Meerschweinchen«, ließ Dubi nicht locker. »Sonst ist das Tierquälerei. Oder warte mal: …« Er hob einen Zeigefinger. »Wir kaufen einfach zwei neue Meerschweinchen. So junge Meerschweinchen. Dann kann Bolek in Ruhe sterben und die anderen beiden können einfach weitermachen.«
»Dann habe ich ja immer und ewig Meerschweinchen am Hals«, sagte Holger. »Ich kann doch nicht mein Leben lang immer wieder Meerschweinchen dazukaufen, da kannst du ja ewig warten, dass die genau gleichzeitig sterben, das ist doch Quatsch!«
»Dann weiß ich auch nicht«, sagte Dubi. »Auf jeden Fall ist das Tierquälerei. Da muss jetzt auch immer einer bei dem dabeibleiben, den darf man jetzt nicht alleine lassen, das sind ganz gesellige Tiere sind das.«
»Ich nehme ihn bis Hamburg erstmal so mit«, sagte Rosa.
»Ja, oder ich«, sagte Anja, »ich nehme den auch mal gerne. Der Arme!«
»Ich habe eine Idee«, sagte Raimund. »Wir bringen ihn auf einen Kinderbauernhof. Die haben doch immer so Meerschweinchen und Kaninchen und so.«
»Nicht alle«, sagte Dubi, der mir langsam auf die Nerven ging. »Nicht Meerschweinchen. Die meisten haben nur Kaninchen. Eigentlich sind Meerschweinchen ja keine Bauernhoftiere. Oft nehmen die keine Meerschweinchen!«
»Was ist los mit dir, Dubi?«, sagte Raimund. »Bist du heimlich im Tierschutzbund? Bist du so ein Tierschutzbund-Raver?«
»Meine Mutter arbeitet auf einem Kinderbauernhof«, sagte Dubi.
»Ich weiß, was wir machen können«, sagte ich. »Ich weiß, wo wir ihn hinbringen können.«
»Der gute alte Charlie«, sagte Raimund. »Wohin denn?«
»Ich habe in Hamburg eine Connection«, sagte ich. »Zu einem Kinderzoo in Othmarschen!«