68. Tradition Spargelessen vs. Tradition Fischessen
Für die letzten fünfzig Kilometer bis zur Ruhr-Emscher-Halle in Essen brauchten wir anderthalb Stunden, und je näher wir der Stadt und der Halle kamen, desto größer wurde natürlich auch die Raverdichte, irgendwann waren um uns herum nur noch Autos mit Bummbumm-Beschallung und nickenden Köpfen und heruntergekurbelten Scheiben und wippenden Armen und bei uns im Auto wurden alle immer aufgeregter und zeigten und zappelten und plapperten durcheinander, nur Ferdi nicht, der saß mit verschränkten Armen neben mir und schwieg lächelnd und nickend vor sich hin, wenn er nicht gerade einen durchzog, und als Raimund sich neben ihn setzte und ihm auf die Schulter klopfte und »Mensch, Ferdi, gleich geht’s los!« sagte, zog er an seinem Joint und stellte kurz die Bummbumm-Kassette leiser, nur um für jedermann hörbar zu entgegnen: »Raimund, keine Verbrüderungen jetzt!«, woraufhin Raimund meinte, es sei doch alles geklärt und er habe Ferdis Entschuldigung doch angenommen, was Ferdi mit den Worten »Von einer Entschuldigung weiß ich nichts!« erwiderte, und einen kurzen Moment wurde es ganz still im Auto, auch hinten, alle hatten natürlich die Ohren gespitzt und Sigi rief: »Was ist denn los da vorne?!«, worauf Ferdi nur mit den Schultern zuckte und die Musik so laut drehte, dass die Scheiben zitterten, und dann krochen wir weiter Richtung Essen durch irgendwelche Städte und Straßen und irgendwann merkte ich, wie mir die Paranoia hochkam, meine Hände schwitzten so sehr, dass sie kaum noch das Steuer halten konnten, glücklicherweise gab es nichts mehr zu lenken, wir waren in Essen angelangt und auf den letzten paar hundert Metern zur Halle ging gar nichts mehr und ich wollte nur noch aus dem Auto raus und die Musikdröhnung im Auto machte es nicht besser, nichts gegen die gute alte Bummbumm-Musik, aber sie kann auch ein 1a-Paranoia-Verstärker sein, und die Musik runterzudrehen kam natürlich nicht in Frage, ich also schön die Hände vom Steuer genommen und an der Hose abgewischt und Ferdi nur so lächelnd und kiffend und ich fragte mich, ob ich vielleicht kontaktstoned war und Ferdis Hasch jetzt meine Paranoia anschob und ob es bei Ferdi vielleicht genauso aussah, ob also die Paranoia, die bei mir langsam aber sicher Oberwasser kriegte, nur eine Zwillingsschwester von einer ähnlichen Paranoia bei Ferdi war, denn Ferdi lächelte nicht mehr, er kiffte und kiffte zwar, aber er lächelte nicht, genauer gesagt guckte er ziemlich schlechtgelaunt, wenn nicht gar panisch aus der Wäsche, und vielleicht war es auch umgekehrt, vielleicht ging die Urparanoia von mir aus und Ferdi war bei mir kontaktparanoid, vielleicht ging die Sache auch im Dreieck, sein Hasch brachte mir die Paranoia und ich steckte ihn wiederum damit an, so dachte ich hin und her, was man halt so tut, wenn man sich von der Paranoia ablenken will, denn wenn die Paranoia erstmal anmarschiert, ist einem ja jeder Ablenkungsgedanke recht, und Ferdi, das war mal klar, war auch nicht glücklich, als wir da mitten in Essen im Stau steckten wie der Stiel im Eis, er drückte den Joint aus und öffnete sein Hemd, er trug ja als einziger immer Hemden, der gute alte Ferdi, und immer bis oben zugeknöpft, das war schon ganz früher so gewesen, als wir noch zusammen in der Band gespielt hatten, immer Hemd an, nie T-Shirt oder sowas und das Hemd immer bis ganz oben zugeknöpft, der alte Zwangscharakter, und jetzt passierte also etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, Ferdi machte den obersten Knopf seines Hemds auf und dann sagte er: »Lass uns mal gucken, dass wir hier aus der Scheiße rauskommen, das nervt doch!«, und ich nahm den Anfahrtsplan, da war ein fotokopiertes Stück Stadtplan dabei, in das sie mit dickem Edding eine schwarze Linie für die Anfahrt zur Halle und zum Hotel hineingemalt hatten, so dick, dass man die dazugehörigen Straßennamen natürlich nicht mehr lesen konnte, sehr sinnig, aber die Querstraßennamen eben schon, deshalb reimte ich mir irgendwie zusammen, wo wir waren, und bog in eine Seitenstraße ab und versuchte es durch ein Wohngebiet hindurch, links, rechts, links, Sackgasse, Einbahnstraße, rechts, Einbahnstraße, links, rechts, bis wir wieder auf die Straße kamen, von der wir ursprünglich abgebogen waren, nur ein paar Meter weiter hinten, und die Autos standen dort lustig herum und die Raver waren ausgestiegen und tranken Sportgetränke und Bier und johlten und zuckten und da waren wir nun und Ferdi sagte: »Wie weit noch, das kann doch nicht mehr weit sein?!«, und ich sagte: »Höchstens ein paar hundert Meter!«, und Raimund sagte: »Dann gehen wir eben zu Fuß, sonst kriegen wir das nicht mehr rechtzeitig auf die Reihe mit dem Spargelessen!«, und so fuhr ich wieder zurück in das beknackte Wohngebiet und suchte nach einem halbwegs anständigen, jedenfalls nicht gemeingefährlichen Parkplatz, was einige Zeit dauerte, zumal wir nicht die einzigen waren, die auf diese Idee gekommen waren, doch dann klappte es irgendwie und gerade noch rechtzeitig, denn Ferdi war schon ziemlich mit den Nerven runter und schrie, als ich den Wagen irgendwo hineingequetscht hatte, wo es wahrscheinlich Geld kosten, aber wenigstens zu keinen Abschleppereien kommen würde, Ferdi also schrie: »Alle raus, und weg vom Auto, bevor die Bullen kommen!«, und er sprang aus dem Auto und lief los und alle anderen hinterher, aber Raimund brüllte ganz laut: »Halt! Taschen mitnehmen!«, und sie beruhigten sich und holten ihre Sachen unter den Sitzen hervor und vom Komabrett herunter, während ich solange den Meerschweinchenkäfig versorgte und gegen die Sonne, die jetzt herausgekommen war, mit Alufolie abdeckte.
Auf dem Weg zum Fluxi Messe Ruhr-Emscher-Halle Essen, das direkt neben der Halle stand, der unsere Gruppe mit viel Gestöhne und Gemecker entgegenstrebte, fragte ich Raimund, was nun eigentlich Sache sei, und er sagte: »Erst mal Spargelessen, da freu ich mich am meisten drauf, immer zur Springtime ess ich das erste Mal Spargel im Jahr!«, und Ferdi, der gleich hinter uns lief, sagte: »Aber diesmal nicht, Raimund, die anderen meinetwegen, aber wir nicht, wir müssen uns um die Lounge kümmern, ich meine, guck mal auf die Uhr!«, und Raimund protestierte, weil das Spargelessen zur Springtime bei BummBumm Tradition sei, und Ferdi sagte nur »Tradition, da scheiß ich drauf, da haben wir keine Zeit für, Raimund!«, und Raimund wurde ganz hysterisch und rief laut und immer weiterlaufend, dass er die Schnauze voll davon habe, dass Ferdi hier jetzt einen auf Chef mache und ihm, Raimund, Arbeit reindrücke, nur um ihm das Spargelessen und damit den ganzen Spaß kaputtzumachen, und Ferdi sagte, dass Raimund sich das ja auch mal früher hätte überlegen können, denn die Sache mit dem Fischessen direkt vor dem Auflegen im Fischclub in Hamburg hätte Raimund dann mal lieber nicht sabotieren und verspotten sollen, denn wenn einer Tradition Spargelessen will, dann darf er Tradition Fischessen nicht verspotten, es sei Raimund ja wohl auch total scheißegal gewesen, dass ein Fischessen für ihn, Ferdi, immer und grundsätzlich Pflicht war, bevor er im Fischclub auflegte, dabei sei das auch sprachlich logisch, weil es ja auch Fischclub heiße, im Gegensatz zu Springtime und Spargelessen, es heiße nämlich aus gutem Grund Springtime und eben gerade nicht Spargeltime, und Ferdi blieb stehen und wir dann auch alle, und Ferdi keuchte und schwitzte, so wie wir alle, und um uns herum liefen die Leute Richtung Ruhr-Emscher-Halle und manche hatten Ghettoblaster dabei, aus denen Bummbumm-Musik kam, und manche schauten uns neugierig an, aber wir hatten genug mit uns selbst zu tun, denn nun erwiderte Raimund, dass er dann aber schon mal ganz pragmatisch fragen wolle, wieso er denn bitte mitkommen solle in die Lounge, um alles fertigzumachen, wenn dafür doch wohl eigentlich Dave vorgesehen gewesen sei, den Ferdi aber rausgeschmissen habe, und zwar ganz alleine und ohne Absprache, und wenn Ferdi nun also der Meinung gewesen sei, dass Dave nicht gebraucht würde und Raimund vor Daves Entlassung auch nicht gefragt werden müsse, dann könne Ferdi nun ja wohl auch schön mal alles alleine vorbereiten, denn in den letzten Jahren sei es eben immer so gewesen, dass Dave und Ferdi alles vorbereitet hätten, Raimund aber mit den anderen beim Spargelessen war, Springtime hin, Spargeltime her, Spargelessen vor der Springtime, das sei ja wohl auch Corporate Identity, und dann blieb dieses Wort Corporate Identity in all seiner Blödheit in der Luft hängen, denn Raimund war fertig und Ferdi wusste offensichtlich nicht, was er dazu sagen sollte, und das war dann der Moment, in dem ich mich genötigt sah, einzugreifen, denn ich merkte, dass das hier sonst nicht gut enden würde, also sagte ich, dass ich mit Ferdi in die Halle und in die Lounge gehen würde, um alles vorzubereiten, und Raimund in der Zwischenzeit sein Spargelessen durchziehen könne.
»Aber«, sagte ich zu Raimund, »wenn ihr beide mal wieder in Hamburg seid, musst du mit Ferdi Fisch essen gehen!«
Darauf konnten sich die beiden einigen.