60
Ein Rettungswagen brachte Abby ins UCLA Medical Center, wo sie untersucht und dann entlassen wurde. Vor dem Untersuchungszimmer warteten zwei Detectives auf sie. Sie baten sie, mit ihnen zur Polizeiwache West Los Angeles zu kommen. Zu ihrer Erleichterung hieß keiner der beiden Cahill.
Das erste Verhör war nur kurz. Sie war so müde, dass sie nur eine grobe Beschreibung der Ereignisse abgeben konnte, wobei sie einiges geflissentlich aussparte. Aber sie hatte ein Geschenk für die beiden Detectives: die Kassette aus ihrem Diktafon. Sie hatte kurz vor Travis‘ Auftauchen in Westwood die Kassette gewechselt. Diese hier enthielt nichts außer seinem Geständnis.
Um acht Uhr abends ließ die Polizei sie gehen. Sie hatte ihre Wohnung schon seit einer Woche nicht mehr bei Tageslicht gesehen. Sie schlief bis zwei Uhr mittags und machte sich dann etwas zu essen. Um drei meldete sich einer der Wachmänner aus dem Foyer, weil zwei Polizisten zu ihr wollten.
Diesmal erzählte sie den beiden die ganze Geschichte und hielt sich dabei fast an die Wahrheit. Durch die Müdigkeit fiel ihr das Lügen leichter. Als wäre sie zu erschöpft, um die Stresssignale auszusenden, die ein Lügendetektor oder ein erfahrener Beobachter erkennen würde.
»Travis hat mich engagiert, um Hickle zu überwachen. Ich bin nebenan eingezogen und habe sein Kommen und Gehen beobachtet. Er wollte sich einen Eindruck von Hickles normalem Tagesablauf verschaffen. Oder zumindest hat er mir das erzählt. In Wirklichkeit war es eine Falle. Travis hat Hickle gesagt, dass ich ihn ausspioniere, und daraufhin ist der vollkommen durchgedreht. Er hat versucht Kris umzubringen, aber es hat nicht geklappt. Anschließend hat Travis ihm meine Adresse in Westwood gegeben. Und was dann passiert ist, wissen Sie ja.«
Sie fragten, warum sie in das Bürogebäude eingedrungen sei. Sie erwiderte, sie habe Travis nicht mehr getraut. Sie habe schon den Verdacht gehabt, dass er Hickle auf sie angesetzt hatte, deshalb habe sie sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft umgesehen und bemerkt, dass sich jemand am Tor der Baustelle zu schaffen gemacht hatte. Sie habe geahnt, dass Hickle sich in dem leer stehenden Gebäude aufhielt.
»Aber warum haben Sie denn nicht die Polizei gerufen?«, fragte der ältere der beiden Polizisten in fast väterlichem Ton.
»Ich war nicht sicher, ob Travis wirklich etwas im Schilde führte. Ich wollte Beweise. Deshalb auch das Diktafon.«
Der jüngere Detective, weniger verständnisvoll als sein Kollege, wies darauf hin, dass ihre Worte auf der Aufnahme und die Tatsache, dass Howard Barwoods Waffe manipuliert worden war, bewiesen, dass sie in seinen Bungalow eingebrochen war und sich an seinem Eigentum zu schaffen gemacht hatte.
Abby gab zu, dass es so war. »Es steht Mr Barwood natürlich frei, Anzeige zu erstatten.« Sie setzte ein liebliches Lächeln auf, vor allem für den älteren Cop. »Meinen Sie, das tut er?«
»Ma’am, da Sie Mr Barwood in mehreren Fällen entlastet haben, wird er ihnen die verdammte Waffe wahrscheinlich schenken. Und den Bungalow noch dazu.«
Aber der jüngere Detective gab nicht auf. »Der Tonbandaufnahme zufolge machte Mr Travis sie anscheinend für Devin Corbals Tod verantwortlich. Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Travis hatte mich engagiert, um Sheila Rogers zu überwachen, Corbals Stalkerin. Und an dem Abend habe ich sie aus den Augen verloren. Ich wusste nicht, dass sie ins Lizard Maiden gegangen war, wo Corbal sich gerade aufhielt. Deshalb konnte ich Travis‘ Leute auch nicht warnen. Er hat mir das nie verziehen.«
»Aber in dem Moment, als Mr Corbal zu Tode kam, waren Sie nicht anwesend?«, fragte der Jüngere.
»Nein.«
»Angenommen, wir finden Leute, die an dem Abend im Lizard Maiden waren, und zeigen denen ihr Foto … Was meinen Sie, was die sagen werden?«
»Wahrscheinlich, dass der Laden dunkel und voller Menschen war und dass die Sache schon vier Monate zurückliegt und sie sich nicht mehr richtig an alles erinnern können. Und so würde auch ein Verteidiger vor Gericht argumentieren, glauben Sie nicht auch?«
Darauf hatte der Jüngere keine Antwort und kurze Zeit später gingen er und sein Kollege. Aber vorher mussten sie Abby versprechen, ihren Namen aus den Medien herauszuhalten.
An den folgenden beiden Tagen kamen sie noch zweimal vorbei, um nach Einzelheiten zu fragen. Anfangs hatte Abby den Verdacht, sie würden ihr nicht wirklich glauben und insgeheim eine Anklage gegen sie vorbereiten, entweder wegen Travis‘ Tod oder wegen des Corbal-Falls. Aber dann kam sie zu dem Schluss, dass sie ihr wahrscheinlich nicht alles glaubten, aber keine Ahnung hatten, wie weit ihre Version von der Wahrheit abwich, und dass es sie im Grunde auch nicht interessierte.
Mittwochmorgen kamen sie ein letztes Mal vorbei, um ihr mitzuteilen, dass die Ermittlungen eingestellt würden. Ihr Name war nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. »Aber beinah«, sagte der jüngere Cop. Er war jetzt etwas freundlicher. Anscheinend mochte er sie mittlerweile sogar, zumindest ein wenig. »Channel Eight hat ihren Namen herausgefunden. Jemand aus unserer Abteilung hat wohl was durchsickern lassen. Sie wollten was in den Nachrichten bringen, aber dann wurde die Story gekippt. Man kann sich ja denken, wem Sie das zu verdanken haben.«
»Amanda Gilbert sicher nicht.«
»Die arbeitet nicht mehr dort. Aber Kris Barwood wohl.«
Den ganzen nächsten Tag faulenzte Abby, hörte sich sanfte Musik an und machte sich ab und zu eine Kleinigkeit zu essen. Sie änderte auch das Dekor ihrer Wohnung ein wenig. Nach kurzem Zögern nahm sie das Friedensreich von der Wand und verstaute den Druck im Schrank. Den Löwen, der sich an das Lamm schmiegte, fand sie nicht länger amüsant.
Freitagmorgen fuhr sie zu Travis‘ Haus.
Sie stellte ihren Mazda einen Block weiter ab, nahm einen kleinen Rucksack mit und lief zum Haus. Dort wartete sie ein paar Minuten, bis Kris in ihrem Lincoln vorfuhr. Sie saß selbst am Steuer. Einen Leibwächter brauchte sie nicht mehr.
»Abby«, sagte sie, als sie ausstieg. »Ich möchte nur sagen … also, ich meine, ich weiß, was Sie alles für mich getan haben … nein, vielleicht nicht alles, aber genug …«
»Schon okay, Kris.«
»Danke. Das wollte ich eigentlich sagen: Vielen Dank für alles.«
Abby lächelte. »Sie werden es wahrscheinlich nicht verstehen, aber ich habe das alles für mich selbst getan, nicht ihretwegen. Sie müssen mir also nicht dankbar sein.«
»Trotzdem danke. Also, warum haben sie mich herbestellt?«
»Es gibt da etwas in Pauls Haus, das Sie sehen sollten. Und auch etwas, das ich sehen will.«
Kris betrachtete das gelbe Absperrband quer über der Auffahrt. »Es ist strafbar, ohne Erlaubnis einen Tatort zu betreten, das wissen Sie doch, oder?«
»Stellen Sie sich einfach vor, wir sind Thelma und Louise und brechen alle Regeln. Kommen Sie schon.«
Unbemerkt duckten sie sich unter dem Absperrband hindurch und ging zur Haustür. Im Rucksack befand sich Abbys Schlosserwerkzeug. Es war nicht schwer, die Tür aufzubekommen und auch mit der Alarmanlage hatte sie kein Problem. Sie hatte oft genug zugesehen, wie er den Code eingegeben hatte. Sie zog keine Handschuhe an, denn die Spurensicherung war schon da gewesen.
»Wie geht’s Ihnen denn überhaupt?«, fragte sie, als sie durch den Flur gingen.
»Besser. Ich habe die Scheidung eingereicht.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
»Auch wenn Howard mich nicht umbringen wollte, er wollte mir alles wegnehmen. Außerdem ist er ein heilloser Schürzenjäger. Ich finde auch was Besseres.«
»Davon bin ich überzeugt.« Sie führte Kris ins Schlafzimmer. Die Schubladen der Kommoden standen offen und waren leer, ebenso der begehbare Kleiderschrank. Aber wie Abby schon vermutet hatte, hatte die Spurensicherung den Fernseher übersehen. Bei oberflächlicher Betrachtung würde man nie darauf kommen, dass es sich um einen Safe handelte.
Sie gab die Kombination in die Fernbedienung ein. Die Front des Fernsehers öffnete sich und die aufgereihten CDs kamen zum Vorschein. Abby suchte die CD mit der Barwood-Akte heraus und gab sie Kris.
»Ihr ganzes Leben ist darauf gespeichert«, sagte sie, »und Howards auch. Sie finden dort auch Informationen darüber, was er mit Ihrem Vermögen angestellt hat. Am besten engagieren Sie einen guten Buchhalter.«
Kris betrachtete die Plastikhülle mit der CD in ihrer Hand. »Travis hat Hintergrundinformationen über uns gesammelt?«
»Nicht nur über Sie. Über jeden, mich auch.«
Abby fand die CD mit ihrem Namen. »Das wollte ich unbedingt sehen.«
Dann holte sie einen Laptop aus ihrem Rucksack, schaltete ihn ein und steckte die CD hinein.
»Ich schau mir das besser nicht an«, sagte Kris, als Abby die Dateien durchsuchte.
»Stellen Sie sich doch nicht so an. Wir brauchen keine Geheimnisse voreinander zu haben. Travis hat uns beide benutzt. Es ist nur fair, dass Sie erfahren, was für ein Spiel er getrieben hat.«
Die CD enthielt Dutzende Zeitungsartikel über den Corbal-Fall, die Travis offenbar verbissen gesammelt hatte. Und sicher hatte jede gegen TPS gerichtete Spitze, jede Schmähung seine Wut weiter geschürt.
Aber die Artikel interessierten Abby nicht besonders. Sie suchte nach Fotos, die sie dann auch in einem Ordner namens JPEG fand. Als sie den Ordner öffnete, erschien ein Schachbrettmuster mit Dutzenden von Vorschaubildern.
Bilder von ihr.
Wie sie aus dem Foyer des Wilshire Royal kam. Wie sie in einem Coffeeshop in Westwood Village etwas aß. In einem Park in Beverly Hills. Sonntags beim Tennisspielen. Beim Autowaschen, beim Einkaufen, beim Spaziergang über das Santa Monica Pier, beim Wandern im Will Rogers Park … Und eins, wo sie auf ihrem Balkon stand. Er hatte es vom Büroturm gegenüber aus aufgenommen, vom gleichen Punkt aus, den auch Hickle gewählt hatte.
Deshalb konnte er Hickle den Tipp geben. Er war selbst dort gewesen. Hatte sie beobachtet. Sie fotografiert. So wie Hickle Kris am Strand geknipst hatte.
»Er hat Sie ständig verfolgt«, flüsterte Kris. »So wie Hickle mich. Er war ein Stalker.«
Abby nickte. Sie war nicht überrascht. Travis hatte ja zugegeben, dass er an dem Abend, als er versucht hatte, sie im Whirlpool zu ertränken, das Gebäude beobachtet hatte. Sie hatte das Gefühl, es war nicht das erste Mal, dass er sich von seinem obsessiven Hass hatte lenken lassen.
Er hatte sie mit einem Teleobjektiv fotografiert, wahrscheinlich mit einer Digitalkamera, und sich sein ganz privates Fotoalbum zusammengestellt. Sie dachte an die unzähligen Bilder von Kris, die Hickle aus Zeitungen und Magazinen ausgeschnitten und an seine Schlafzimmerwand geheftet hatte. Travis hatte genauso zwanghaft gehandelt, nur dass er die Fotos auf eine CD gebrannt hatte.
»Er hätte auf Sie schießen können, wann immer er wollte«, sagte Kris. »Wenn Sie auf dem Balkon standen … oder im Park spazieren gingen.«
»Wahrscheinlich hat es ihn öfter in den Fingern gejuckt. Aber er war von Natur aus vorsichtig. Er hat auf den richtigen Moment gewartet.«
»Genau wie Hickle«, flüsterte Kris.
»Anscheinend hatten sie viel gemeinsam. Mehr, als sie trennte.«
»Aber warum? Warum hat er Sie so gehasst?«
»Weil ich versagt habe. Er hat mich ausgebildet, mich unter seine Fittiche genommen. Und dann habe ich einen Fehler gemacht, der ihn beinah alles gekostet hätte, was er hatte. Sein Haus mit Blick auf den Canyon, sein Büro in Century City, seinen illustren Freundeskreis, die Partys mit Hollywoodstars … Er sah, wie ihm das alles entglitt und er gab mir die Schuld daran.«
Kris schüttelte sachte den Kopf. »Wir haben beide ein Talent, uns die Richtigen auszusuchen, was?«
»Vielleicht haben wir beim Nächsten mehr Glück.« Abby lächelte. »Viel schlimmer kann’s ja nicht mehr kommen.«
Abby warf die übrigen CDs in einen Müllbeutel und nahm ihn mit. Draußen vor dem Haus verabschiedete sie sich von Kris.
»Danke, dass Sie meinen Namen rausgehalten haben«; sagte Abby.
»Das ist doch das Mindeste. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Abby. Und … passen Sie auf sich auf. Bitte.«
»Mache ich doch immer. Deshalb bin ich noch am Leben.«
Auf dem Heimweg hielt Abby in einer kleinen Gasse in West Hollywood und vergrub den Beutel in einem Mülleimer. Diese CDs enthielten Geheimnisse, die niemanden etwas angingen.
Abends machte sie in Westwood Village einen Schaufensterbummel. Sie kam an der Bar mit der guten Piña Colada vorbei und ging hinein. Das süße Gesöff war immer noch ihre einzige Schwäche. Zumindest bildete sie sich ein, dass es die einzige war.
Als sie an der Theke saß und das Glas an die Lippen hob, dachte sie an Travis und seine Geheimnisse.
»Darf ich Ihnen was ausgeben?«
Sie sah hoch. Es war Wyatt, in Straßenkleidung, außer Dienst. Er setzte sich neben sie und bestellte ein Bier.
»Das ist schon das zweite Mal, dass wir uns hier begegnen«, sagte Abby mit einem zaghaften Lächeln. »Sie sind doch kein Stalker, oder?«
»Das müssten Sie doch wissen. Sie sind die Expertin.«
»Das habe ich auch geglaubt«, sagte Abby und dachte an die Fotos auf der CD.
Wyatts Bier kam. Eine Weile nahmen sie nur hin und wieder einen Schluck und sagten nichts.
»Um ehrlich zu sein«, gestand Wyatt schließlich, »war ich in letzter Zeit öfter hier, in der Hoffnung, Sie zu treffen.«
»Es hat ja auch geklappt. Aber hoffentlich ist Ihnen niemand gefolgt.«
»Nein.« Er drehte sich mit dem Hocker zu ihr. »Wie geht’s Ihnen überhaupt, Abby?«
»So gut wie nie.«
»Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll.«
»Nun, ich lebe und es ist noch alles dran. Und wie sieht‘s bei Ihnen aus?«
»Ich kann nicht klagen.«
»Und Cahill macht auch keinen Stress? Oder sonst jemand?«
»Überhaupt nicht. Es gibt keinen Grund, Hickle mit Emanuel Barth in Verbindung zu bringen. Oder Sie mit mir.«
»Es sei denn, jemand erinnert sich daran, dass ich Sie auf der Wache besucht habe, kurz bevor die ganze Sache losging.«
»Das weiß niemand mehr. Bei uns ist immer so viel los. Die Leute kommen und gehen. Es ist alles in Ordnung, Abby. Der Fall ist abgeschlossen. Es ist vorbei.«
»Es ist vorbei«, wiederholte Abby. Es tat gut, das sagen zu können.
Wyatt wandte den Blick ab. »Ich verstehe ja, dass Sie manches vor den Behörden geheim halten wollen, aber ich wünschte, Sie würden sich mir anvertrauen. Als Sie zu mir auf die Wache gekommen sind, da haben Sie Travis bereits verdächtigt, oder?«
»Ja.«
»Sie hätten was sagen sollen.«
»Ich wollte die Sache selbst in die Hand nehmen.«
»Ja …«
»Typisch, was?«
»Das haben Sie gesagt.« Er wackelte leicht mit seinem Bierkrug, sodass der Schaum hin- und herschwappte. »Wissen Sie … ich würde mich gern weiter mit Ihnen treffen.«
»Na, auf jeden Fall. Sie sind doch meine wichtigste Informationsquelle in Hollywood. Ohne Sie bin ich aufgeschmissen.«
»Ich meine … privat.«
»Ach so.« Abby zögerte einen Moment und schaute in den Spiegel hinter dem Tresen. Ein ruhiges, nachdenkliches Gesicht erwiderte ihren Blick. »Ich weiß nicht, Vic.«
Er wirkte eher verwundert als verletzt. »Aber wir verstehen uns doch gut und Sie müssten nicht ständig alles vor mir verheimlichen … also, warum nicht?«
»Vielleicht genau deshalb. Ich kann Ihnen nichts verheimlichen. Verstehen Sie, ich bin nicht gern mit Leuten zusammen, die mich zu gut kennen. Ich ziehe mich gern zurück. Ich habe gern meinen Freiraum. Das war schon immer so, seit meiner Kindheit. Ich bleibe immer auf Abstand.«
»So kann man doch nicht leben, Abby.«
»Aber so kann man überleben.«
Sanft legte er seine Hand auf ihre. »Ich will Sie nicht unter Druck setzen. Wenn Sie ihre Meinung ändern, rufen Sie mich an. Denken Sie drüber nach, okay?«
»Ja, versprochen.«
Kurze Zeit später verabschiedeten sie sich. Abby ging zuerst. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah Wyatt, wie er allein an der Theke saß.
Die Sonne ging unter, als sie in ihre Wohnung zurückkam. Vom Balkon aus betrachtete sie den rot schimmernden Himmel. Sie dachte daran zurück, wie sie vor Jahren bei Sonnenuntergang mit ihrem Vater zusammengesessen und ihn gefragt hatte, ob ihr Bedürfnis nach Einsamkeit etwas Gutes sei. Er hatte gesagt, es könne von Vorteil sein, wenn sie das Richtige daraus machen würde. Seine Worte waren ein Rätsel, das sie nie hatte lösen können.
Rufen Sie mich an, hatte Wyatt gesagt. Ob sie es tun würde?
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Sie ging ran. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, dass Wyatt dran wäre, aber es war Gil Harris, der Sicherheitsexperte aus New Jersey, der sie im Fall Frank Harrington hinzugezogen hatte. »Abby, wie geht’s Ihnen?«
»Gut, Gil. Mir geht’s großartig.« Sie nahm den Apparat mit auf den Balkon.
»Ich nehme an, Sie haben sich mittlerweile von dem letzten Tanz mit einem Irren erholt«, sagte Gil.
Sie fragte sich, woher er über Hickle Bescheid wusste, aber dann wurde ihr klar, dass er Harrington meinte. »Klar«, sagte sie gelassen. »Es ist schon erstaunlich, was zehn Tage Ruhe und Erholung ausmachen.«
»Nun, ich hoffe, der Urlaub war lang genug, denn ich habe da einen Fall … genau das Richtige für Sie. Interesse?«
Sie zögerte nur eine Sekunde. »Wann brauchen Sie mich?«
»So schnell wie möglich.«
»Ich nehme den ersten Flug morgen früh und bin dann am späten Nachmittag bei Ihnen im Büro, okay?«
»In Ordnung. Ach, aber ich muss Sie warnen, dieser Fall könnte ein bisschen verzwickt werden.«
»Das sind doch alle, Gil.« Sie lehnte sich ans Geländer und lächelte. »Allerdings sind manche verzwickter als andere.«
Nach dem Gespräch blieb sie noch auf dem Balkon und sah dem Finale des Sonnenuntergangs zu. Sie spürte Adrenalin durch ihre Adern pumpen, ein angenehmes, vertrautes Gefühl. Sie wusste, sie brauchte es. Wyatt konnte warten. Ihr Privatleben, was immer das war, konnte warten. Denn schließlich war es ihr Beruf, der sie am Leben und bei Verstand hielt. Sie lebte für ihren Beruf. Ihr Beruf, das war sie.
Die Menschen strebten immer nach dem, was sie nicht hatten – nach Ruhm oder Reichtum, nach Jugend oder Liebe, nach Vergeltung oder irgendeinem Triumph. Sie jagten Preisen hinterher, die ihr Leben repräsentieren sollten, versuchten, ihr Leben zu vervollständigen. Dabei war es so leicht, sich in dieser Jagd zu verlieren. Leicht, aber unnötig. Jedenfalls brauchte sie es nicht, Zumindest nicht im Moment.
Wenn du das Richtige daraus machst, hatte ihr Vater gesagt.
Dann war die Sonne verschwunden und es gab nur noch Dunkelheit. Abby ging hinein, um zu packen.