5

 

Das Wilshire Royal gehörte zu den exklusiveren Wohnkomplexen in Westwood, und Abby zahlte irrsinnig hohe Kreditraten, dabei war sie nur selten zu Hause. Aber das Gebäude hatte zwei Vorzüge, die ihr besonders wichtig waren: Luxus und Sicherheit.

Der Luxus drückte sich in dem sprudelnden Springbrunnen aus, der die Auffahrt zierte, im grauen Marmorboden des Foyers und der hervorragenden Kopie von Rodins Eva, die gegenüber den Aufzügen stand.

Die Sicherheitsvorkehrungen waren weniger offensichtlich. Der Portier, der sie grüßte, als sie ihre Reisetasche zum Eingang schleppte, sah nicht aus wie ein Sicherheitsmann, aber ein geschultes Auge hätte die Beule des Schulterhalfters unter seinem roten Blazer bemerkt. Die beiden uniformierten Männer am Empfangstresen trugen ihre Waffen ganz offen, aber die Überwachungsbildschirme, die sie immer im Auge behielten, waren unter dem Mahagonitresen verborgen.

»Hallo, Abby«, sagte einer von ihnen.

Sie lächelte. »Vince, Gerry, wie geht’s?«

»Nicht viel los. Hatten Sie eine gute Reise?« Da sie so oft unterwegs war, hielten sie sie für eine Vertreterin.

»Es hat sich gelohnt.« Sie fragte nach ihrer FedEx-Lieferung und einer holte das Päckchen hinter dem Tresen hervor. Sie klemmte es sich unter den Arm. Es war ein gutes Gefühl, die Waffe wiederzuhaben. Ohne fühlte sie sich immer ein wenig nackt. »Vielen Dank«, sagte sie mit einem Lächeln und winkte. »Bis später.«

Der Aufzug, mit dem sie in den neunten Stock fuhr, war mit einer versteckten Kamera ausgestattet und falls ihn jemand absichtlich zwischen zwei Stockwerken anhielt, wurde am Empfang automatisch ein lautloser Alarm ausgelöst. Es gab auch Kameras in den Treppenhäusern und der Tiefgarage, die nur durch ein Stahltor mit Kartenschloss zu erreichen war. Das Tor wurde ebenfalls von einer Kamera überwacht. Es fehlte eigentlich nur noch ein Graben, in dem es von Krokodilen wimmelte. Vielleicht sollte sie das bei der nächsten Eigentümerversammlung vorschlagen.

Sie wusste nicht, ob all diese Vorsichtsmaßnahmen wirklich notwendig waren. Für Los Angeles war Westwood ein relativ ungefährliches Viertel. Aber sie ging bei der Arbeit schon genug Risiken ein und war froh, einen sicheren Zufluchtsort zu haben.

Ihre Wohnung hatte die Nummer 1015. Sie öffnete die Tür und betrat das Wohnzimmer, das die Hälfte der insgesamt neunzig Quadratmeter einnahm. Es roch ein wenig muffig, denn hier war seit einer Woche nicht gelüftet worden. Ansonsten war alles so wie bei ihrer Abreise.

Sie ließ ihre Reisetasche und das FedEx-Päckchen auf einen Fußschemel fallen, der zu einem dick gepolsterten Sessel gehörte. Ihre Möbel hatte sie vor allem nach Bequemlichkeit ausgewählt. Ob sie zueinanderpassten, spielte für sie keine Rolle. Sie mochte es, in einem Sessel zu versinken. Ein Sofa musste für sie weicher sein als ein Bett. Es lagen Sofakissen und Steppdecken herum, außerdem Plüschtiere – hier ein Eisbär, dort ein Papagei –, die das Zimmer unordentlich erscheinen ließen. Ihre Raumausstattungskünste hielten sich in Grenzen, aber immerhin hatte sie zwei Bilder aufgehängt, die ihr gefielen. Beides Drucke aus einer Kiste mit Sonderangeboten. Das eine war ein Spätwerk von Turner, eine Landschaft, die sich in einem Meer von Licht auflöste, das andere eine von Edward Hicks’ zahlreichen Studien zu seinem Friedensreich, Raubtier und Beute in Frieden vereint. Der Turner hatte etwas Spirituelles und berührte etwas in ihr, zu dem sie nur selten Zugang fand, und der Hicks mit seinem naiven Optimismus brachte sie einfach zum Lächeln.

Energisch riss sie die Vorhänge auf und öffnete die Glastür zum Balkon, um das Zimmer zu lüften. Ihre Wohnung ging auf den Wilshire Boulevard hinaus, aber sie war so hoch oben, dass Abby kaum etwas vom Verkehrslärm mitbekam.

In der Küche trank sie zwei Gläser Wasser. Nach einem Flug war sie immer schrecklich dehydriert. Im Gefrierfach fand sie Heidelbeeren und Pfirsiche, die sie in der Mikrowelle auftaute und dann zusammen mit einem Klacks Vanillejoghurt und etwas Magermilch, die seit zwei Tagen abgelaufen war, im Mixer pürierte. Nach ein paar Sekunden hatte sie eine bläulich schäumende Pampe, die sie in ein großes Glas schüttete und langsam trank. Dazu nahm sie verschiedene Vitamin- und Mineraltabletten.

Sie wechselte in einen weißen Frotteebademantel und ließ Badewasser ein. Kurz erwog sie, Badeöl ins Wasser zu geben, entschied sich aber gegen diesen zusätzlichen Luxus.

Sie wollte gerade den Bademantel ablegen, als die Gegensprechanlage surrte. Verärgert antwortete sie: »Ja?«

»Mr Stevens ist hier«, sagte einer der Wachmänner aus dem Foyer.

»Okay, Vince. Schicken Sie ihn hoch.«

Stevens war der Name, den Travis benutzte, wenn er sie besuchte. Die Wachleute sollten nicht wissen, dass Abby etwas mit der Sicherheitsbranche zu tun hatte, und Travis’ Name war in letzter Zeit häufig durch die Medien gegangen.

Während sie wartete, fragte sie sich, warum er wohl zurückgekommen war.

Als es klingelte, öffnete sie die Tür, und er kam wortlos herein.

»Hallo, Paul. Hast du was vergessen?«

»Eigentlich nicht, aber ich habe es mir anders überlegt.«

»Was meinst du?«

»Das Büro kann warten.«

Sie lächelte, entspannte sich und spürte gleichzeitig ein angenehmes Kribbeln in sich aufsteigen. »Ach ja?«

»Wie heißt es noch? Arbeit allein macht auch nicht glücklich.« Er ließ seinen Blick durch die Wohnung schweifen. »Sieht noch genauso aus wie beim letzten Mal.«

»So lange ist das ja auch nicht her«, sagte Abby, aber dann fiel ihr ein, dass das nicht stimmte. Es war schon einige Wochen her, und nicht nur, weil sie öfter verreist war. Auch wenn sie in L. A. war, hatte sie Travis in den letzten Monaten nicht mehr so häufig gesehen – seit der Sache mit Devin Corbal.

Er ging an ihr vorbei zum Balkon. »Wie ich sehe, ist deine Aussicht auch nicht schöner geworden.« Im Vorjahr war gegenüber ein Bürogebäude errichtet worden, pechschwarz und potthässlich und bisher leer stehend, denn wegen irgendwelcher finanziellen oder rechtlichen Probleme waren die Bauarbeiten in der Endphase unterbrochen worden.

»Ich habe mich dran gewöhnt«, sagte Abby, »aber ich muss zugeben, dass der Klotz das Viertel nicht unbedingt aufwertet. All die leeren Büroräume …« Sie verstummte.

Beide schwiegen einen Moment lang. Sie wusste, Travis dachte an die leeren TPS-Büros. Sie hätte sich treten können. Aber als Travis sich vom Balkon abwandte, lächelte er. »Höre ich Wasser laufen?«

»Ich lasse ein Bad ein.«

»Hört sich einladend an.«

»Ich glaube nicht, dass in der Wanne Platz für zwei ist.«

»Hast du es schon mal ausprobiert?«

»Eigentlich nicht.«

»Das solltest du aber. Sieh doch mal nach, ob das Wasser heiß genug ist.«

»Mach ich.«

Sie ging ins Bad und sah nach. Die Wanne war halb voll und die Wassertemperatur perfekt. Dichte Dampfschwaden machten die Luft sinnlich feucht. Badeöl schien plötzlich doch keine so schlechte Idee. Als sie es ins Wasser goss, formten sich weiße Schaumblasen, die in lauter kleinen Regenbögen das Deckenlicht reflektierten. Sie zog den Bademantel aus und hängte ihn an die Tür. Dann stieg sie in die Wanne. Es war jetzt schon recht eng, und pessimistisch dachte sie, es wäre wohl doch nicht genug Platz für zwei.

Dann kam er herein. Sie sah ihn durch den Dampfschleier hindurch an. Seine Kleidung hatte er draußen abgelegt. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. Sie spürte eine leichte Bewegung im Wasser, als er die Hand eintauchte, um ihre Brust zu liebkosen. Er ließ die Hand langsam kreisen – die Berührung seiner Finger sehr zart, der Druck seiner Handfläche etwas fester –, dann strich er ihr mit der anderen Hand durchs Haar, über den Nacken, die noch verspannten Schultern.

»Trotzdem ist kein Platz für dich«, sagte sie neckend.

»Das werden wir ja sehen.«

Travis drehte den Wasserhahn hinter ihr zu, dann streichelte er die kräftigen Muskeln ihres schlanken Rückens. Das mit Öl angereicherte Badewasser war weich, wie ein exotisches, neuartiges Nass, ganz anders gewöhnliches Wasser.

»Du hast mir gefehlt«, sagte Travis.

Einen Moment lang war sie überrascht, denn er neigte nicht zur Gefühlsduselei.

»Du …« Warum war es so schwierig, es zu sagen. »Du mir auch.«

Er stieg in die Wanne und nahm Abby zwischen seine Schenkel, die Knie an ihren Hüften. Wasser schwappte träge um ihre Körper und einzelne Blasen lösten sich aus dem Schaum und platzten mit einem leisen Knallen. »Ich fürchte, die Umstände erlauben keine besondere Raffinesse«, entschuldigte sich Travis.

Sie kicherte. »Raffinesse ist auch nicht immer so wichtig.«

Sanft wiegten sie in Wasser und Dampf hin und her. Sie warf den Kopf zurück. Ihr nasser Haarschopf schützte sie vor den harten Fliesen an der Wand. Über ihnen in der Decke summte der Abluftventilator. Der Wasserhahn tropfte. Sie konnte ihren Herzschlag hören und Travis’ Atmen.

»Abby«, sagte er.

Sie schloss die Augen.

»Abby.«

Er war in ihr.

»Abby …«

Er stieß kräftiger zu. Drang tiefer in sie ein.

Sie bog den Rücken durch und hob sich halb aus dem Wasser, das dunkle Haar fiel ihr wild ins Gesicht und undeutlich nahm sie wahr, dass sie sich an den verdammten Fliesen den Kopf gestoßen hatte, aber es war ihr egal.

Er zog sich aus ihr zurück und hielt sie fest, sie beide im seifigen Wasser ineinander verschlungen, inmitten von Dampfwolken, die sich kräuselnd auflösten.

»Ich habe doch gesagt, ich passe hinein«, bemerkte Travis.

Damit hatte er wohl recht.

 

Am späten Nachmittag wachte Abby im vertrauten Halbdunkel ihres Schlafzimmers auf. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und suchte Travis. Aber der war natürlich weg. Er war zum Büro zurückgefahren. Er war gegangen, ohne sie zu wecken, wohl aus Rücksicht.

Vage erinnerte sie sich, dass sie aus der Wanne gestiegen waren, als das Wasser kalt geworden war. Sie hatten sich gegenseitig abgetrocknet. Das kräftige Reiben hatte zu weiteren sinnlichen Berührungen geführt und plötzlich hatten sie auf dem Bett gelegen, die Decken heruntergestrampelt, und die Dinge hatten ihren Lauf genommen. Nur hatten die Umstände diesmal sehr viel mehr Raffinesse erlaubt.

Anschließend war sie eingedöst. Und er hatte sich davongemacht, nachdem er seine Kleidung aus dem Wohnzimmer geholt hatte, die er dort wahrscheinlich fein säuberlich zusammengelegt hatte. Er hatte in seinem Kalender noch Platz für sie gefunden, zwischen Mittagspause und Nachmittagsterminen.

Sie schüttelte den Kopf. Das war unfair. Was hatte sie denn erwartet? Dass er alles stehen und liegen lässt und den Tag mit ihr verbringt? Er versuchte gerade, ein angeschlagenes Unternehmen zu retten und nicht ganz nebenbei einige der berühmtesten Leute von L. A. am Leben zu erhalten.

Aber sie hatte eigentlich auch nie mehr von ihm gewollt. Ihre Unabhängigkeit und Freiheit waren ihr wichtig. Vielleicht wichtiger, als ihr guttat.

Sie stand auf und zog ein T-Shirt und abgeschnittene Jeans an. Barfuß lief sie in die Küche, öffnete eine Dose Thunfisch und schichtete ihn zwischen zwei Scheiben Dattelbrot. Es schmeckte gar nicht so schlecht. Wenn sie allein aß, sah sie normalerweise fern oder las dabei, aber es lief nichts im Fernsehen und die einzige Lektüre in Reichweite war Travis’ Bericht. Fast hätte sie ihn aus ihrer Tasche geholt, konnte sich aber gerade noch bremsen. »Arbeit allein macht auch nicht glücklich«, sinnierte sie.

Das hatte Travis gesagt und er hatte recht. Sie konnte sich ruhig eine kleine Pause gönnen. Trotzdem merkte sie, wie sie immer wieder ihre Reisetasche beäugte, während sie am Esstisch ihr Sandwich verspeiste.

»Du bist ein Workaholic«, tadelte sie sich. »Dieser Job bringt dich noch um, wenn du dir nicht mal ab und zu eine Auszeit nimmst.«

Oder er bringt dich im wahrsten Sinne des Wortes um.

Plötzlich war ihre Stimmung umgeschlagen. Sie griff wahllos nach einer CD und schob sie in den Player. Ein uraltes Jazzalbum von Kid Ory. Er setzte mit seiner Posaune zu Muskrat Ramble an, aber sie kannte das Stück so gut, dass sie gar nicht richtig zuhörte und ihre Gedanken abdrifteten. Zum College. Ein Gewitter im Januar. Sie machte gerade mit Greg Daly Schluss. Im Regen. Er drängte zu sehr, kam ihr zu nahe. Auch damals schon hatte sie Wert auf ihre Freiheit gelegt. Schon immer.

Einmal hatte sie mit ihrem Vater darüber geredet. In ihrer Erinnerung sah sie ihn deutlich vor sich, wie er in die Sonne von Arizona blinzelte, seine ruhigen haselnussbraunen Augen von einem Faltennetz umgeben. Sie hatte diese Augen geerbt, genau die gleiche Farbe, und vielleicht auch die Distanz, die in ihnen lag. Ihr Vater war ein nachdenklicher Mann gewesen, der oft lange nichts sagte. Er betrieb in der trostlosen Hügellandschaft südlich von Phoenix eine Pferderanch. Eines Abends saß sie allein mit ihm im rotorangefarbenen Schein der untergehenden Wüstensonne, sah hinaus auf die Armee von Riesenkakteen, die ihre stacheligen Arme in das grelle Licht reckten, und fragte, warum die Jungen in der Schule sie nicht mochten. Da war sie zwölf gewesen.

»Es ist nicht so, dass sie dich nicht mögen«, sagte ihr Vater. »Du schüchterst sie ein, glaube ich. Das schreckt sie ab.«

Sie war verwirrt. »Was ist denn an mir so einschüchternd?«

»Nun, ich weiß auch nicht. Was könnte sie wohl an einem Mädchen einschüchtern, das besser klettern kann als sie und Pferde beschlägt und mit dem Gewehr umgeht wie ein Profi?«

Sie wies ihn darauf hin, dass die meisten Jungen sie noch nie bei so etwas beobachtet hatten.

»Aber sie sehen dich, Abigail.« Er nannte sie immer Abigail, nie Abby, und auch nie bei ihrem mittleren Namen, Constance. »Sie sehen dein Verhalten. Du ermutigst sie jedenfalls nicht gerade. Du sonderst dich immer ab. Du willst für dich sein, deine Ruhe haben.«

Sie musste zugeben, dass er recht hatte.

»Wir sind uns sehr ähnlich«, sagte Henry Sinclair. »Wir beide fühlen uns sehr schnell eingeengt. Eher als andere.«

Sie fragte, ob das gut sei.

»Ja«, sagte er, »wenn du das Richtige daraus machst.« Als sie fragte wie, antwortete er: »Das wirst du schon herausfinden.«

Hatte sie es herausgefunden? Sechzehn Jahre waren seit diesem Gespräch vergangen. Ihr Vater war nicht mehr und ihre Mutter auch nicht. Sie war noch viel einsamer als in ihrer Kindheit und fühlte sich trotzdem immer noch schneller eingeengt als andere.