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Am späten Nachmittag wurde Abby endlich richtig wach. Sie hatte sich von ihrer Gehirnerschütterung erholt. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden und sie spürte auch sonst keine Nachwirkungen mehr. Nachdem sie etwas gegessen hatte, teilte sie der Schwester ihre Diagnose mit. Die lächelte nur und schlug vor, eine zweite Meinung einzuholen.

»In Ordnung«, sagte Abby, aber sobald die Schwester weg war, zog sie sich an und wollte verschwinden.

Plötzlich klopfte es. Sie drehte sich um und sah Kris Barwood in der Tür. Abby wollte Hallo sagen, zögerte jedoch, als sie den wilden Ausdruck in Kris‘ Augen sah.

»Kris«, sagte sie unsicher.

»Abby«, sagte Kris matt, eher als Bestätigung, dass sie sie registriert hatte, denn als Gruß.

Abby musterte sie von Kopf bis Fuß. Kris war vollständig bekleidet. Offensichtlich wollte sie auch gerade das Krankenhaus verlassen. Im Flur wartete ein TPS-Mitarbeiter im Sportblazer mit offenem Hemdkragen. »Fahren Sie nach Hause?«, fragte Abby.

»In ein paar Minuten. Können wir uns kurz unterhalten?«

»Natürlich.«

Kris schloss die Tür und ließ den TPS-Mann draußen stehen. »Sie haben es sicher schon gehört«, sagte sie.

»Gehört?«

»Sämtliche Fernseh- und Radiosender berichten darüber. Und allen voran meine lieben Kollegen von KPTI.«

»Ich habe geschlafen«, sagte Abby sanft. »Setzen Sie sich doch.«

Kris betrachtete den Stuhl eine Weile, als wüsste sie nicht so genau, wozu er diente. Dann setzte sie sich. Abby ließ sich mit gekreuzten Beinen auf dem ungemachten Bett nieder.

»Es ist Howard«, sagte Kris leise.

Abby nickte. Sie hatte Kris schon am Gesicht ablesen können, dass die Medien Wind von Howards mutmaßlicher Beteiligung an dem Anschlag bekommen hatten. »Was ist mit ihm?«

»Nun ja«, Kris hob die Arme in einer ratlosen Geste. »Er ist verschwunden.«

Das überraschte Abby. »Verschwunden?«

»Ja.«

»Wann denn?«

»Vor einer Stunde. Er … er ist abgehauen. Abgehauen.« Anscheinend musste sie das Wort wiederholen, damit es wirklicher klang.

»Kris, was genau ist denn passiert?«

»Also, es war so …«

»Erzählen Sie mir erst mal das Wesentliche, in zeitlicher Reihenfolge.« Abby hoffte, Kris mit einem Appell an ihre journalistische Ausbildung dazu zu bringen, ihre Gedanken zu ordnen.

Es funktionierte. Kris richtete sich gerade auf und ihr Blick wurde klarer. »Also … Howard war fast die ganze Nacht hier bei mir. Heute Morgen ist er zum Sheriff’s Office gefahren, um ein paar Fragen zu beantworten. Angeblich reine Routine. Ich hatte eigentlich gedacht, er würde zurückkommen. Ist er aber nicht. Schließlich habe ich ihn zu Hause erreicht und er hat gesagt, er wäre in einer Besprechung mit seinem Anwalt. Er würde später zurückrufen.«

»Und er hat nicht angerufen?«

»Nein. Vor einer halben Stunde habe ich es noch mal versucht, aber Martin Greenfield ist rangegangen, Howards Anwalt. Er hat gesagt … es ist einfach unglaublich.«

»Ganz ruhig. Und nicht so schnell.«

»Er hat gesagt, die Polizei wäre gekommen. Mit einem Durchsuchungsbefehl. Für unser Haus. Sie haben es durchsucht und auch irgendwas gefunden. Anscheinend waren sie ganz aufgeregt. Martin hat auch gesehen, was es war. Denn sie haben es in eine durchsichtige Beweismitteltüte gesteckt. Es war ein Handy.«

Abby war sich sicher, dass es das auf Western Regional Resources angemeldete Handy war, mit dem Howard Hickle angerufen hatte. »Wo haben sie es denn gefunden?«, fragte sie.

»Martin wusste es nicht genau. Er meinte, vielleicht in einem Schrank im Erdgeschoss. Aber warum? Howard und ich haben insgesamt drei Handys, und wir haben noch nie eins im Schrank aufbewahrt.«

»Und danach ist Howard verschwunden?«, fragte Abby.

Kris nickte. »Er hat gesagt, er muss zur Toilette. Wahrscheinlich hat er sich über die hintere Veranda aus dem Haus geschlichen. Er ist zu Terri und Mark gegangen, Nachbarn von uns, und hat gefragt, ob er sich einen Wagen von ihnen ausborgen könnte. Sie haben drei. Er hat behauptet, er wollte mich im Krankenhaus besuchen und sein Lexus würde nicht anspringen. Also haben sie ihm den Autoschlüssel gegeben, und er hat unbemerkt die Malibu Reserve verlassen. Und jetzt ist er weg, einfach weg. Und alle Sender berichten darüber. Es heißt, er werde verdächtigt, an dem Anschlag beteiligt zu sein, und sei deshalb geflohen. Martin weigert sich, mir etwas Genaues zu sagen und ich traue mich einfach nicht, jemanden von den Medien anzurufen. Da ist niemand, mit dem ich offen reden kann. Auch wenn es alles meine Freunde sind, sie würden nicht zögern, mich in die Pfanne zu hauen, wenn sie sich davon einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz versprechen. Ich fahre gleich nach Hause, aber ich weiß immer noch nicht, was los ist.«

Ihr letzter Satz war eine Bitte, und Abby musste darauf antworten. »Wissen Sie von Travis, dass ich hier bin?« Sie spielte auf Zeit.

»Ja, er hat es erwähnt.«

»Sonst hat er nichts gesagt? Über Howard?«

»Kein Wort.«

»Na ja … hätte er besser.« Ihr Mut war eine der Eigenschaften, auf die Abby besonders stolz war, aber sie merkte, wie er sie verließ, als sie Kris‘ ernstem, flehendem Blick begegnete. Trotzdem zwang sie sich, ehrlich zu sein. »Also, ich weiß nur, dass Hickle einen Informanten hatte. Jemand hat mich verraten. Wir wissen zwar nicht genau wer, aber …«

Unwillkürlich schüttelte Kris den Kopf. »Nein, nein, unmöglich.«

»Es gibt einen Beweis.«

»Was für einen Beweis denn?« Kris stand auf und begann, im Zimmer hin- und herzulaufen. »Das Handy … Ist es das?«

»Ich glaube, ja.«

»Dann haben sie eben ein Handy gefunden. Was heißt das denn schon?«

Abby antwortete mit einer Gegenfrage: »Hat Howard je eine Firma namens Western Regional Resources erwähnt?«

»Nein.«

»Donnerstagabend hat jemand bei Hickle zu Hause angerufen, wahrscheinlich, um ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. Ich habe den Anruf zurückverfolgt. Er wurde mit einem Handy gemacht, das auf Western Regional Resources angemeldet ist, eine Briefkastenfirma. Travis hat herausgefunden, dass die Firma Howard gehört. Wie es aussieht, wussten Sie nichts davon.«

»Aber das ist doch Unsinn. Warum sollte Howard diesem Mann helfen? Was für ein Motiv sollte er denn gehabt haben?«

»Nun, es ist reine Spekulation …«

»Jetzt reden Sie schon!«, fuhr Kris sie an, die langsam die Geduld verlor.

»Western Regional Resources ist nicht die einzige Briefkastenfirma, die Howard gegründet hat. Er besitzt mehrere. Und er hat Teile Ihres gemeinsamen Vermögens auf geheime Offshore-Konten verschoben.«

Einen Moment herrschte Schweigen, während Kris über Abbys Offenbarung nachdachte. »Er hat Geld versteckt«, sagte sie schließlich. »Das meinen Sie doch, oder? Vor mir versteckt?«

»Sieht ganz so aus.«

»Weil er mich verlassen will … und wenn wir unser Vermögen aufteilen …«

»Genau.«

»Dann stimmt es also.« Kris wandte ihren Blick ab und starrte ins Leere.

»Was stimmt, Kris?«

»Dass er mich betrogen hat. Ich hatte so einen Verdacht, aber ich konnte es nicht wirklich glauben.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich frage mich, wer es ist.«

Abby antwortete nicht. Sie wollte Kris einen weiteren Schlag ersparen. »Vielleicht irren wir uns ja«, sagte sie nicht sehr überzeugend.

»Hinsichtlich des Geldes, das er beiseitegeschafft hat, oder der Firmen, die er gegründet hat?«

»Nein, das steht so gut wie fest, aber das beweist nicht, dass er mit Hickle gemeinsame Sache gemacht hat. Jedenfalls nicht mit absoluter Sicherheit.«

»Nicht mit absoluter Sicherheit«, wiederholte Kris und fügte gedankenverloren hinzu: »Ob er geglaubt hat, dass ich ihn auch betrüge?«

»Warum sollte er das glauben?«

»Ich hätte Gelegenheit dazu gehabt, wissen Sie? Aber ich habe abgelehnt. Nur, vielleicht wusste Howard das nicht. Vielleicht hat er geglaubt, ich hätte mich darauf eingelassen.« Sie wandte den Blick ab. »Vielleicht wollte er uns ja beide tot sehen.«

Abby hatte keine Ahnung, wovon Kris redete, aber sie stellte keine Fragen. Manchmal war es besser, jemanden einfach reden zu lassen.

»Nein.« Nach kurzem Nachdenken schüttelte Kris den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Howard konnte doch nicht damit rechnen, dass Paul mit mir im Wagen sitzt. Es war ja das erste Mal, dass er mich nach Hause begleitet hat.«

Paul.

Abby saß ganz ruhig da, aber das Bett unter ihr schien zu wackeln wie bei einem leichten Erdbeben. Vielleicht war es auch ihr Leben, das in seinen Grundfesten erschüttert wurde.

In diesem Moment fing Kris sich wieder und ihr wurde bewusst, was sie da offenbart hatte. »Oh Gott, das wollte ich nicht erzählen.«

Abby kramte tief in ihrem Innern nach einem Lächeln und zwang es an die Oberfläche. »Schon in Ordnung, Kris.«

»Wussten Sie Bescheid? Hat er Ihnen erzählt, dass er … dass er sich für mich interessierte? Ich meine, Sie arbeiten so eng zusammen …«

Enger als du glaubst, dachte Abby – aber nicht eng genug. »Er brauchte es mir nicht zu erzählen«, antwortete sie mit ausdrucksloser Miene. »Ich habe es mir schon gedacht.«

»Ach.« Kris schien erleichtert. »Aber natürlich, Sie spüren so was ja intuitiv, nicht wahr?«

»Meistens«, sagte Abby mit einem Hauch Sarkasmus. »Also, Travis hat Ihnen eindeutige Angebote gemacht?«

»Nein, so direkt nicht, aber, na ja, er hat deutlich gemacht, dass er zu haben wäre. Anscheinend ist er im Moment solo.«

»Wann war das denn?«

»Zum ersten Mal, glaube ich, als ich gedroht habe, mich von TPS zu trennen. Er hat all seine Überredungskünste aufgeboten, damit ich bleibe. Zuerst habe ich alles nur für Geschäftstaktik gehalten. Aber als er später noch mal deutlich Interesse gezeigt hat, wurde mir klar, dass er es ernst meinte.«

»Sie haben ihn wohl ziemlich oft gesehen.«

»Er ist so einmal die Woche bei uns vorbeigekommen. Fast immer, wenn Howard gerade auf dem Golfplatz war. Howard ist ein begeisterter Golfer. Pauls Besuche waren eher geschäftlicher Natur, er wollte mich auf dem Laufenden halten. Aber dann wurden unsere Gespräche persönlicher. Er wusste, dass ich in meiner Ehe unglücklich war. Er hat gesagt, wir würden gut zusammenpassen. Aber er hat sich immer wie ein Gentleman verhalten. Er hat nie versucht, mich unter Druck zu setzen.«

»Ist irgendwas zwischen Ihnen gelaufen?«

»Nein. Vielleicht bin ich der einzige Mensch im Großraum Los Angeles, der sein Ehegelöbnis noch ernst nimmt. Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt. Er kann sehr charmant sein. Und wer weiß? Vielleicht würden wir ja wirklich gut zusammenpassen. Aber wir waren ganz anständig, es ist nichts passiert.«

»Glauben Sie, er hat immer noch Interesse?«, fragte Abby, obwohl sie die Antwort kannte.

»Da bin ich ganz sicher. Ich habe den seltsamen Eindruck, dass er irgendwie einsam ist. Er hat mir einmal erzählt, dass keine Frau, mit der er jemals zusammen war, ihm viel bedeutet hat. Sie seien alle nur reiner Zeitvertreib gewesen. Und immer wieder eine Neue. Genau wie Howard mit seinem Spielzeug.«

»Spielzeug«, wiederholte Abby. Sie spürte eine gefährliche Ruhe in sich – wie die Ruhe vor dem Sturm.

»Den Frauen kann man deswegen keinen Vorwurf machen. Paul ist ein faszinierender Mann, aber er verbirgt seine Gefühle. Er öffnet sich nicht ohne Weiteres. Und es ist auch nicht so einfach, sich ihm gegenüber zu öffnen.«

»Aber sie haben ihn dazu gebracht, sich zu öffnen?«

»Emotional? Ja. Es hat einfach geklickt zwischen uns. Auch wenn wir nie mehr getan haben, als miteinander zu reden, glaube ich, dass es ihm eine Menge bedeutet hat. Und mir auch. Ich brauchte jemanden zum Reden. Jemanden, der mich wegen meiner Angst vor Hickle nicht behandelte wie eine paranoide Irre. Jemanden, der mir ein bisschen Respekt zeigte. Howard hat meine Gefühle nie respektiert.«

»Was haben Paul Ihre Treffen Ihrer Ansicht nach bedeutet?«

Kris lächelte. »Er hat gesagt, es wäre, als würde er mit vierundvierzig endlich lebendig. Als wenn er jahrelang wie betäubt gewesen wäre. Dass er vollkommen in sich zurückgezogen war, bis …«

»Bis Sie kamen.«

»Ich weiß, es hört sich albern an …«

»Nein, überhaupt nicht. Und was ist mit Howard?«

»Mit Howard?«

»Sie haben doch gedacht, er könnte glauben, dass Sie ein Verhältnis haben.«

Kris sah sie nachdenklich an. »Wahrscheinlich war ich einfach nur hysterisch. Im Grunde glaube ich, Howard hat keine Ahnung, dass Paul je etwas anderes in mir gesehen hat als eine Klientin. Er ist viel zu sehr mit seinem Spielzeug und seinen Autos beschäftigt … und vielleicht auch mit diesem Mordkomplott gegen mich.«

»Falls er Hickles Komplize ist …«

»Ja?«

»Dann wären Sie ihn los.«

»Ja, stimmt.«

»Und Paul ist noch da.«

»Sie wollen wissen, ob ich was mit ihm anfangen werde?«

Abby nickte. »Allem Anschein nach hat er Interesse. Und soweit ich beurteilen kann, wollen Sie es auch.«

Kris lachte traurig. »Ach, verdammt. Wenn ich nur wüsste, was ich will. Mein Leben ist so durcheinander … wie bei allen. Wir sind alle so verkorkst, finden Sie nicht?« Sie starrte Abby mit ihren blauen Augen an. »Außer Ihnen vielleicht.«

»Außer mir?«

»Sie sind einer der wenigen wirklich eigenständigen Menschen, die ich kenne. Ihr Liebesleben ist sicher nicht so chaotisch, was?«

»Seien Sie da mal nicht so sicher.«

Kris hob eine Augenbraue. »Wollen Sie etwas sagen, dass Sie auch Schwachpunkte haben?«

»Nur einen vielleicht, aber der ist gewaltig.«

»Na, ich bin froh, dass wir wenigstens etwas gemeinsam haben.«

Abby wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und schwieg.

»Danke, dass Sie mir reinen Wein eingeschenkt haben«, sagte Kris. »Ich hätte es nur ungern von der Polizei oder unserem Anwalt erfahren.«

Sie ging zur Tür, aber Abby hielt sie auf. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Ob ich mir eine Zukunft mit Paul vorstellen kann?« Kris legte ihren Kopf schief, eine unbewusst kokette Bewegung, die ihr Haar auf ihre Schulter fallen ließ wie Goldregen. »Wissen Sie, es ist schon komisch.«

»Ach ja?« Abby fand gerade überhaupt nichts komisch.

»Bis gestern hätte ich Nein gesagt. Aber nach letzter Nacht … Paul war meine Rettung. Er hat mich aus dem Wagen gezerrt und in Deckung gebracht, während uns die Kugeln um die Ohren flogen. Ich habe ihm mein Leben zu verdanken.« Sie stieß ein kurzes Lachen aus, fast wie ein Schluchzen. »Howard ist nicht einmal aus dem Haus gekommen.«

Abby nickte langsam. Sie hatte alles gehört, was sie hören musste. »Danke, Kris.«

»Wofür?«

»Für dieses Gespräch.«

Kris zuckte mit den Schultern, offenbar ehrlich verwundert. »Ich muss mich bei Ihnen bedanken. Für alles, was Sie getan haben, und dafür, dass sie mir zugehört haben.«

»Ich bin eine gute Zuhörerin.« Abby lächelte. »Das sagen alle.«

Dann verabschiedeten sie sich. Abby saß auf dem Bett und hörte, wie Kris und ihr Leibwächter sich durch den Flur entfernten. Ihre Schritte verhallten und Abby war ganz allein. Sie rührte sich immer noch nicht. Sie hielt es für möglich, dass sie sich nie wieder bewegen würde. Vielleicht hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden einfach zu viele Schläge abbekommen, körperlich und seelisch. Sie fühlte sich ausgelaugt. Sie hatte geglaubt, ernsthaft geglaubt, dass …

»Ich habe gedacht, er liebt mich«, flüsterte sie. Sie wollte die Worte aus ihrem eigenen Mund hören.

Sie hatte Liebe und Intimität immer mit Argwohn betrachtet und versucht, sich vor Verletzungen zu schützen. Doch es schien, als hätte die Mauer, die sie um sich errichtet hatte, sie nicht davor bewahren können. Oder vielleicht war ja gerade die Mauer das Problem. War sie zu vorsichtig gewesen oder nicht vorsichtig genug? Oder war es ein Fehler, sich selbst die Schuld zu geben, wenn es Travis war, der ihr etwas vorgemacht, sie verraten hatte?

Sie schloss die Augen und fragte sich, ob sie Paul Travis geliebt und sich ein gemeinsames Leben mit ihm vorgestellt hatte. Es schien lächerlich, eine Zukunft mit einem Mann zu planen, der sie aus Angst, ihr Verhältnis könnte ans Licht kommen, nicht einmal in der Öffentlichkeit küsste. Warum hatte sie dann die Beziehung mit diesem Mann, der ihr so wenig gab, aufrechterhalten? Vielleicht, weil er im Gegenzug auch nicht viel verlangte. Ein Arrangement, das ihnen beiden ganz gut passte. Ihr Verhältnis glich einer Zweckehe. Die Wahrheit erkannte sie erst jetzt. Der menschliche Verstand war zu ungeheurem Selbstbetrug imstande. Und das Herz ebenso … ein liebendes Herz.

»Das Herz hat seine Gründe«, murmelte sie. Das hatte sie irgendwo gelesen. Aber wo? Ach ja, in Kris Barwoods Jahrbuch. In Raymond Hickles Schlafzimmer.

Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt. Hickles Herz und Kris‘ und Howards und Travis‘ Herz … und ihres sicher auch. Ihres auch.