39

 

»Bist du es wirklich?«, flüsterte Hickle. »Bist du wirklich JackKeck?“

»Ja, ich bin Jack. Denkst du immer noch daran zu schießen?«

Mit einem Zittern fiel die Anspannung von Hickle ab, und er atmete aus. »Nein.«

»Da bin ich aber froh.« Travis trat zurück und ließ seine Waffe sinken. »Dreh dich ruhig um. Wir können uns beim Reden auch ins Gesicht sehen, schließlich sind wir Partner.«

Hickle drehte sich um, wobei sich das Wasser leicht kräuselte. Von oben erklang lautes Stimmengewirr aus dem Funkgerät des Streifenwagens. Die Taschenlampe ging an und der Suchscheinwerfer kreiste erneut übers Wasser. Die beiden Polizisten hatten die Suche wieder aufgenommen.

»Jetzt sitzen wir beide in der Falle«, flüsterte Hickle.

»Nein, ich bringe uns hier raus. Du gehst landeinwärts, während ich die beiden Bullen ablenke.«

»Wie denn?«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Wir haben jede Menge zu bereden, aber nicht viel Zeit. Weißt du, wer ich bin?«

Hickle bemühte sich, ihn in der Dunkelheit zu erkennen. Gleichzeitig studierte Travis das Gesicht des anderen. Er hatte ihn noch nie in natura gesehen. Hickle hatte kleine, misstrauische Augen wie eine Ratte. Fahle Haut und fettige, zerzauste Haare. Er passte gut hierher, in das stinkende Wasser mit all dem Treibgut, den Fast-Food-Verpackungen und Zigarettenschachteln.

»Nein«, sagte Hickle schließlich. »Sollte ich?«

»Eigentlich ja, aus den Nachrichten.« Travis lächelte kurz. »Ich weiß doch, dass du die Nachrichten nie verpasst.«

Hickles blutleere Lippen zogen sich zusammen und seine kleinen Augen verengten sich zu Schlitzen. »He«, flüsterte er, »du bist doch der Chef von dieser Sicherheitsfirma. Paul Travis. Jeder kennt dich in L. A.«

Hickle schien fast geehrt, einen Prominenten kennenzulernen, auch wenn die Begegnung nachts mitten in einem Bach auf der Flucht vor der Polizei stattfand. Aber eigentlich wunderte es Travis nicht, schließlich war Hickle von Ruhm und Prominenz besessen.

»Du bist jetzt die Berühmtheit«, sagte Travis. »In ein paar Stunden wird dein Name in aller Munde sein. Alle Zeitungen werden über dich berichten. Fernsehen, Radio … alle.«

Hickles Gesicht hellte sich ein wenig auf, doch dann sah er Travis skeptisch an. »Man wird mich als Versager abstempeln.«

»Nur im ersten Augenblick.« Travis seufzte. »Weißt du, du hättest sie umbringen sollen, als du Gelegenheit dazu hattest.«

»Ich konnte doch nichts machen. Es lag an dem Wagen, der war kugelsicher …«

»Ich meine nicht Kris. Ich rede von Abby.«

»Abby?« Es dauerte eine Sekunde, bis Hickle verstand. »Sie … sie lebt noch?«

»Leider. Aber das kann man ja ändern.« Die Brückenpfeiler warfen Travis‘ Worte zurück.

»Wie meinst du das?«, sagte Hickle leise, ganz ohne Widerhall.

»Ich weiß, wie du Abby doch noch drankriegen kannst. Aber diesmal richtig, ohne es zu vermasseln. Das würdest du doch gern, oder?«

Hickles Augen flackerten bösartig auf. »Kris wäre mir lieber.«

»Die kommt später dran. Zuerst Abby. Kris wird die nächsten Tage noch strenger bewacht als sonst, nicht nur von TPS, auch von der Polizei. Aber Abby ist dir schutzlos ausgeliefert.«

Hickle dachte darüber nach, dann nickte er. »Und wie soll ich es anstellen?«

»Ich gebe dir ihre Adresse. Ich meine ihre richtige Adresse. Mit der Flinte erwischst du sie doch spielend. Ich habe schon alles geplant.«

»Ja, natürlich, du hast schon alles geplant.« Hickle machte in dem hüfthohen Wasser einen Schritt auf Travis zu und das Wasser schwappte in konzentrischen Kreisen gegen die Pfeiler. »Und warum hast du den gepanzerten Wagen und die kugelsicheren Scheiben nicht erwähnt? Warum …«

»Nicht so laut.« Travis blickte nach oben. »Die hören uns sonst.«

»Von dir lass ich mir gar nichts sagen«, fuhr Hickle ihn an, sprach aber leiser. »Du bist doch derjenige, der alles vermasselt hat. Oder wolltest du mich reinlegen? Du hast doch bei ihr im Auto gesessen und hast sie beschützt. Du willst gar nicht, dass ich sie umbringe. Das ist alles nur ein mieses Spiel …«

»Nein, es ist kein Spiel, Raymond.«

»Was ist es dann?« Hickle war jetzt ganz nah. Travis konnte den wilden Ausdruck in seinen Augen sehen. Wenn er ihn unter Kontrolle bekommen wollte, musste er seine nächste Antwort ganz genau abwägen. Er wünschte, er könnte Menschen besser einschätzen. Aber das war Abbys Spezialität. Absurderweise ging ihm durch den Kopf, dass er in diesem Moment ihre Hilfe gebrauchen könnte.

»Raymond«, sagte er ruhig. »Ich hatte keine andere Wahl. Kris hat darauf bestanden, mit einem gepanzerten Wagen zu fahren. Und sie wollte auch, dass ich neben ihr sitze. Wenn ich abgelehnt hätte, wäre sie doch misstrauisch geworden. Außerdem ging alles so schnell. Ich hatte einfach keine Zeit, dir eine E-Mail zu schicken.«

Die Geschichte klang plausibel, dachte Travis. Er beobachtete, wie Hickles Augen hin- und herschossen. Offensichtlich klopfte er die Geschichte nach Schwächen ab. »Und warum wollte Kris ausgerechnet heute Nacht den gepanzerten Wagen?«, fragte er schließlich.

Travis war auf die Frage gefasst gewesen. Vorwurfsvoll blickte er Hickle an. »Weil du von deiner Routine abgewichen bist. Du hast heute nicht angerufen.«

Dann herrschte kurz Schweigen, nur unterbrochen vom Stimmengewirr aus dem Funkgerät des Streifenwagens. »Willst du etwa sagen«, flüsterte Hickle, »dass es meine Schuld war?«

Genau das wollte Travis sagen, aber er zeigte sich versöhnlich. »Was passiert ist, ist passiert. Niemand hat Schuld, es ist einfach so.«

»Aber du hast sie beschützt. Als der Wagen Feuer gefangen hat, hast du sie in Sicherheit gebracht.«

»Es ging mir nicht um sie, ich wollte mich nur selbst verteidigen. Sonst hättest du uns doch beide abgeknallt. So genau kann man mit einer Schrotflinte gar nicht zielen.«

»Aber du hast sogar noch auf mich geschossen, als sie dir weggerannt ist. Zweimal.«

»Und beide Male daneben. Ich bin ein geübter Schütze, Raymond. Ich habe absichtlich danebengeschossen.« Er gab Hickle Zeit, darüber nachzudenken. »Außerdem müsste ich dir von alldem gar nichts erzählen. Ich hätte einfach die Cops rufen können. Oder dir in den Hinterkopf schießen. Stattdessen habe ich dir meine Geheimnisse anvertraut. Ich habe meine Identität preisgegeben. Habe ich nicht auch ein bisschen Vertrauen verdient?«

Sehr gut. Travis war stolz auf sich. Selbst Abby hätte Hickle nicht besser um den Finger wickeln können.

»Nun, vielleicht«, murmelte Hickle. »Trotzdem verstehe ich nicht, warum du das machst. Kris ist deine Klientin und Abby arbeitet für dich. Warum willst du, dass ich die beiden umbringe? Ist es nicht dein Job, mich daran zu hindern?«

»Gute Frage, und ich wünschte, ich hätte Zeit, darauf einzugehen. Aber da sind noch mehr Leute, die die Lagune absuchen. Wenn wir nicht bald abhauen, finden die uns hier.«

Wie um sein Argument zu unterstreichen, war plötzlich Flügelflattern zu hören. Ein Vogel, der sich zum Flug aufschwang. Wahrscheinlich war einer der beiden anderen in der Nähe über ein Nest gestolpert.

»Hast du das gehört?«, fragte Travis. »Sie kommen näher. Also hilfst du mir jetzt oder nicht?«

Hickle zögerte nur eine Sekunde, dann nickte er. »In Ordnung.«

»Also gut, eins nach dem andern. Wie wolltest du hier überhaupt wegkommen?«

»Ich wollte stromaufwärts laufen, bis Häuser kommen, und dann irgendwo ein Auto klauen. Und wenn ich keins finde, wollte ich mich im Wald verstecken, bis es sich ein bisschen beruhigt hat.«

»Kein guter Plan. Dauert viel zu lange und die Zeit arbeitet gegen dich. Du unterschätzt den Ernst der Lage. Das ist ein Riesending, Raymond, du bist in allen Nachrichten. Ich kann dir ganz genau sagen, was passiert. Spätestens in einer Viertelstunde tauchen die Hubschrauber auf. Zuerst die vom Sheriff‘s Department, dann Fernsehen und Radio. Und einer von denen wird dich entdecken, entweder im Wasser oder im Wald. Und wenn nicht, dann spüren dich die Hunde auf. Spezialeinheiten. Das kennst du doch aus den Nachrichten, oder? Sie werden auf beiden Seiten des Highways Hunde einsetzen. Selbst wenn du durch den Bach läufst, das wird dir nichts nutzen. Dass sie im Wasser nichts riechen, ist nämlich ein Ammenmärchen.«

Offensichtlich hatte Hickle nicht an Hunde und Hubschrauber gedacht. Nervös leckte er sich die Lippen.

»Also, was du auch machst«, fuhr Travis unbarmherzig fort, »du bist geliefert. Ob du im Wasser bleibst oder dich im Wald versteckst, die Hunde werden dich aufspüren, wenn die Hubschrauber dich nicht vorher entdecken. Und wenn du dich in einem Haus verschanzt, finden sie dich auch. Die Polizei wird jedes Haus durchsuchen. Das Haus wird umstellt und dir bleibt nichts anderes übrig, als dich zu erschießen oder dich von den Bullen erschießen zu lassen.«

»Ja, ist ja schon gut.« Hickle war noch blasser geworden, als er sowieso schon war. »Also verstecke ich mich eben nicht. Ich klaue ein Auto, wie ich schon gesagt habe.«

»Genau, aber du musst dich beeilen. Bald werden alle Straßen abgesperrt sein und die Polizei wird jedes einzelne Fahrzeug kontrollieren. Dein einziger Vorteil ist, dass Malibu relativ abgelegen ist. Es dauert seine Zeit, bis sie ihre Leute und alles hergeschafft haben. Deshalb sind auch erst drei Streifenwagen da. Du musst los, bevor es hier von Polizei wimmelt. Deshalb kannst du auch nicht sehr weit landeinwärts laufen. Schnapp dir einfach den ersten Wagen, den du findest. Der Bach fließt an einem Parkplatz vorbei. Hinter dem kleinen Einkaufszentrum auf der anderen Seite des Highways. Auch um diese Zeit dürftest du da irgendeinen fahrbaren Untersatz finden. Du musst Richtung Norden fahren.«

»Nach Norden? Aber Richtung Süden ist mehr Verkehr. Da falle ich nicht so auf.«

»Ja, aber das wäre zu offensichtlich. Wahrscheinlich ist die Straße südlich von hier schon gesperrt. Du hast bessere Chancen, wenn du durch den Topanga Canyon zum Ventura Freeway fährst. Wenn du erst mal auf dem Freeway bist, bist du einigermaßen sicher, denn der wird garantiert nicht gesperrt. Dann fahr auf den Freeway 405, wieder Richtung Norden. Weißt du, wo die San Fernando Road auf den Golden State Freeway trifft?«

»Am nördlichen Ende des Valley.«

Travis nickte. »Genau. Hohe Verbrechensrate, viele Autodiebstähle. Da lässt du den Wagen stehen. Offen, mit laufendem Motor. Mit etwas Glück klaut ihn jemand anders und wenn die Polizei ihn findet, kann sie nicht mehr nachvollziehen, wo du ihn stehen gelassen hast.«

»Und wie komme ich dann weiter?«

»Du klaust ein anderes Auto. In dem Viertel werden jede Nacht welche gestohlen. Deshalb werden sie den Diebstahl erst mal nicht mit dir in Verbindung bringen und nicht als dringlich behandeln. Dann fahr nach Süden in die Stadt, aber nicht nach Hollywood. Damit rechnen sie nämlich. Am besten fährst du direkt nach Westwood.«

»Weil Abby da wohnt«, flüsterte Hickle.

»Ja, und sie wird auf jeden Fall irgendwann dort auftauchen. Sie hat eine Eigentumswohnung in einem Wohnblock namens Wilshire Royal.« Travis gab ihm die Adresse. »Sie wohnt in Nummer tausendfünfzehn. Die Wohnung geht nach vorn zum Wilshire Boulevard raus. Es ist das vierte Fenster von rechts.«

»Und wie komme ich da rein?«

»Gar nicht.«

Travis erklärte alles ausführlich. Hickle hörte zu und nickte ab und zu.

»Alles verstanden?«, fragte Travis schließlich.

»Ja. Und was ist jetzt mit Kris?«

»Habe ich doch gesagt. Die kommt später dran.«

»Wann denn?«

»Ich melde mich wieder bei dir. Wenn du Abby erledigt hast, tauchst du am besten erst mal unter. Und einmal am Tag gehst du irgendwo in eine Bücherei und rufst deine E-Mails ab. Ich melde mich, sobald ich kann. Du musst mir vertrauen.«

»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

»Du musst mir einfach vertrauen, Raymond. Im Moment bin ich dein einziger Freund.«

Hickle sah ihn scharf an. »Kris und Abby denken sicher auch, du wärst ihr Freund, oder?«

Travis antwortete nicht.