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Eine Viertelstunde nach Abbys Anruf kam Travis in Westwood an und sah sie, ihre Tasche in der Hand, in einer kleinen Straße hinter dem Bürogebäude stehen. Drohend ragte der unfertige Turm fünfzehn Stockwerke hoch in den Himmel, menschenleer bis auf den einen zeitweiligen Bewohner.

Er wusste nicht, ob er wütend oder erfreut sein sollte. Eigentlich hätte Hickle die Sache erledigen sollen. Er hatte ihm alles haarklein erklärt. Selbst ein Amateur sollte in der Lage sein, jemanden auf dreißig Meter Entfernung mit einem Gewehr mit Laservisier zu treffen. Irgendetwas war schief gegangen, doch bei seinem kurzen Telefonat mit Abby hatte er nichts weiter herausbekommen. Außer dass sie noch lebte. Und eigentlich sollte sie tot sein, deshalb war er aufgebracht.

Andererseits war es gar nicht so schlimm, denn dadurch hatte er die Möglichkeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Und er war sich sicher, dass es ihm Spaß machen würde.

Er parkte den Mercedes ein Stück weiter die Straße entlang und klopfte seine Jacke ab, um sicherzugehen, dass man die beiden Waffen nicht sah, die er darunter trug. Im Schulterhalfter hatte er eine Neun-Millimeter-Beretta. Die meisten TPS-Mitarbeiter hatten eine. Die war auch nicht das Problem, denn unter den Umständen würde Abby damit rechnen, dass er bewaffnet ist. Doch die zweite Waffe durfte sie nicht entdecken.

Hinten in seinem Hosenbund steckte der Colt aus Howard Barwoods Bungalow.

Travis stieg aus, schloss leise die Wagentür und ging mit energischem Schritt auf Abby zu. »Wo ist er?«, fragte er leise, als hätte er nicht gewusst, dass Hickle außer Hörweite im neunten Stock des Büroturms saß.

Abby blickte zu dem Gebäude hoch. »Da oben.«

»Bist du sicher?«

»Ich habe gesehen, wie er den Laserstrahl seines Gewehrs auf meine Wohnung gerichtet hat. Er lauert da oben wie ein Heckenschütze.«

»Aber wie hat er …« Travis wusste, es wäre ein Fehler, sich dumm zu stellen. »Natürlich. Barwood ist im Immobiliengeschäft. Und er kennt deinen Nachnamen. Er muss Hickle deine Adresse gegeben haben.«

»Sieht so aus.«

»Du sagst, du hast den Laser gesehen? Dann muss Hickle dich doch auch gesehen haben.«

»Nein, ich habe das Licht nicht angemacht und durch den Vorhang gespäht. Er ist bestimmt noch nicht abgehauen.«

»Warum hast du nicht die Polizei gerufen?«

»Was soll ich denen denn erzählen? Dass im Haus gegenüber ein Mann einen Laserstrahl auf mich gerichtet hat? Die stecken mich doch in eine Zwangsjacke.«

»Du hättest ja sagen können, dass es Raymond Hickle ist.«

»Klar. Was meinst du, wie viele Anrufe die mittlerweile gekriegt haben von Leuten, die Hickle gesehen haben wollen? Wahrscheinlich ist er schon überall von San Diego bis San Francisco gesehen worden.« Ihr Gesicht wirkte hart, als sie im Licht der Straßenlaternen zu ihm hoch sah. »Sie würden mich nur ernst nehmen, wenn ich ihnen erklären würde, was ich mit dem Fall zu tun habe. Und das müssen sie nicht unbedingt wissen.«

»Sie erfahren es doch sowieso, wenn Hickle verhaftet wird und anfängt zu reden.«

»Aber vielleicht drücken sie ja ein Auge zu und sind bereit, ein paar von meinen Schwerverbrechen zu übersehen, wenn ich diejenige bin, die ihn abliefert.«

Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Minivans erhellten die Straße. Beide schwiegen, bis der Wagen weg war. Dann fragte Travis: »Du willst ihn dir schnappen? Persönlich?«

»Ich dachte eigentlich eher, wir beide. Wir gehen hoch und überreden ihn, brav mitzukommen und keinen Ärger zu machen.«

»Wir sind doch nicht bei der Bürgerwehr, Abby.«

»Na und? Ich will ja nur dafür sorgen, dass er nicht abhaut. Wir überraschen ihn, nehmen ihm die Waffen ab und bringen ihn zur Polizei.«

»Falls er nicht uns überrascht.«

»Zugegeben, das ist ein Risiko.« Sie schnaubte genervt. »Aber alles, was ich in den letzten Tagen getan habe, war riskant. Also, wie sieht’s aus, machst du mit?«

Travis gab vor, unschlüssig zu sein. Aber auf der Fahrt hierher hatte er überlegt, wie er Abby dazu bewegen könnte, mit ihm in das leer stehende Gebäude zu gehen. Dort konnte er ihr den tödlichen Schuss verpassen, ohne dass ihn jemand außer Hickle hörte. Nun wollte sie freiwillig hineingehen, drängte sogar. Einfach perfekt.

»Ach, verdammt«, sagte er schließlich, »natürlich mache ich mit.«