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Um 15:15 Uhr parkte Hickle in einer Seitenstraße nahe der Einfahrt zu den Channel-Eight-Studios. Von dort aus hatte er einen guten Blick auf das Tor.

Seine Reisetasche lag auf dem Rücksitz. Er zog sie nach vorn, öffnete den Reißverschluss und holte ein geladenes zwölfkalibriges Gewehr heraus.

Er legte die Waffe in seinen Schoß. Der lange Stahllauf war kalt. Er fuhr gerne mit der Hand darüber, um die glatte Oberfläche zu spüren. Manchmal stellte er sich vor, er würde Kris Barwood den Lauf in den Mund schieben, den Blick in ihren Augen beobachten, darunter das schimmernde Metall … und dann abdrücken. Keine Augen mehr, kein Mund mehr, keine Kris mehr.

Blammo!

Er spürte eine Regung in der Leistengegend. Dieses Gefühl war ihm nicht neu. Seit dem Tag, an dem er Kris Barwood zum ersten Mal gesehen hatte, empfand er diese Leidenschaft für sie. Seitdem hatte sie ihn stets begleitet, zumindest in Gedanken. Wenn er ins Bett gegangen war, hatte er sie herbeibeschworen, in seine Arme, und der Duft ihrer Haare, ihrer Haut hatte ihn in den Schlaf gelullt. Tagsüber, auf seiner Arbeitsstelle oder bei der Hausarbeit, hatte er immer wieder Gespräche mit ihr erfunden. Und bei diesen magischen Dialogen war er stets lebhaft und geistreich gewesen und sie hatte seine Scherze mit strahlendem Lachen belohnt. Er hatte sich vorgestellt, dass sie schon seit Monaten verheiratet waren. Dass sie in seiner Wohnung auf ihn wartete. Dass sie zusammen aßen und sie ihm tief in die Augen schaute.

Aber in den letzten Wochen war diese Fantasie gestorben, hatte sich als Hirngespenst entpuppt. Er hatte versucht, den Traum so lange wie möglich am Leben zu erhalten, bis er schließlich zerbrochen war. Er hatte sich immer nur etwas vorgemacht.

Sie liebte ihn nicht.

Sie wollte nicht mit ihm reden, las seine Briefe nicht und akzeptierte seine Geschenke nicht. Er hatte ihr Schmuck geschickt und sie ganz höflich gebeten, ihn im Fernsehen zu tragen. Doch sie hatte es nie getan. Er hatte sie unzählige Male angerufen, und die seltenen Male, wo er durchgekommen war, war sie ablehnend und einsilbig gewesen.

Es war so unfair. Er verdiente ihre Liebe. Sicher hatte niemand mehr für sie getan als er. Hatte er ihr nicht sein ganzes Leben gewidmet? Hatte er nicht in seinem Herzen einen Schrein für sie errichtet? Zahllose Stunden hatte er damit zugebracht, in Magazinen und Zeitungen auch noch die winzigsten Informationshappen über sie aufzuspüren, ihre Biografie zu studieren und jedes kleinste Detail ihres Lebens auswendig zu lernen.

Er wusste, dass ihre Eltern sie nach dem Bau eines Swimmingpools in ihrem Garten in ein Schwimmlager geschickt hatten. Er wusste, dass sie in der Highschool Abschlussballkönigin gewesen war. Und dass sie nach dem Journalismusstudium an der University of Minnesota ihre erste Vollzeitstelle als Nachwuchsjournalistin bei einem Radiosender in Duluth angetreten hatte. Und im Jahr darauf hatte sie in Fort Wayne, Indiana, die erste große Chance als Fernsehreporterin bekommen. Er hatte einen Laden in Fort Wayne gefunden, der Fanartikel aus der Region verkaufte, und dort für fünfunddreißig Dollar ein Hochglanzfoto von Kris mit der Aufschrift erstanden: Danke, dass Sie zuschauen. Bleiben Sie dran!

Er wusste, dass sie von Fort Wayne, das unter den zweihundertzehn regionalen Fernsehmärkten der USA auf Platz hundertzwei rangierte, nach Columbia, South Carolina, gegangen war, das den siebenundachtzigsten Platz einnahm. Von dort aus nach Albuquerque, Platz zweiundfünfzig, und dann nach Cincinnati, Platz dreißig. 1987 war sie schließlich nach L. A. gekommen. Kurze Zeit später konnte KPTI wachsende Zuschauerzahlen verzeichnen und Fernsehpreise einheimsen. Wie Hickle wusste – wie jeder wusste –, war der Grund dafür Kris. Außer ihr gab es bei Channel Eight niemanden, für den es sich lohnte, den Fernseher einzuschalten, und bei den anderen Sendern eigentlich auch nicht. Es gab nur Kris. Und während KPTI mit Golden Mike Awards ausgezeichnet wurde und die Quoten stiegen, stieg auch ihr Gehalt. 1992 bekam sie den ersten Millionenvertrag. 1997 zwei Millionen für drei Jahre. Und nun hatte sie ihren bislang höchst dotierten Vertrag abgeschlossen. Die Sechs-Millionen-Dollar-Frau, titelte die Los Angeles Times in einem Leitartikel. So etwas war in der Geschichte der lokalen Fernsehnachrichten noch nie da gewesen.

Hickle hatte jede Minute und jede Stunde, jeden Tag, jede Woche und jeden Monat seines Lebens Kris Barwood, geborene Andersen, gewidmet. Genauer: Kristina Ingrid Andersen, geboren im Meeker County Memorial Hospital in Litchfield, Minnesota. Ja, er wusste sogar, in welchem Krankenhaus, denn das stand in der Kopie ihrer Geburtsurkunde, die er sich gegen eine geringe Gebühr mit der Post hatte kommen lassen.

Sie mochte Skifahren (Redbook, Juli 1999), Nudeln (Los Angeles Magazine, März 1998) und Schokolade (spontane Bemerkung während der Sechs-Uhr-Nachrichten, 21. Dezember 1997). Sie war bei der Premiere von Toy Story gewesen, und der Film hatte ihr gefallen (Entertainment Weekly, 25. November 1995).

Er hatte sich ihr ganz und gar verschrieben. Kris Barwood war sein Leben. Lange Zeit hatte er die Hoffnung gehegt, dass sie eines Tages irgendwie zusammenfinden würden. Ja, natürlich war sie mit Howard Barwood verheiratet, den sie in Brentwood bei einer Benefizveranstaltung für Zerebralparese kennengelernt hatte. Howard Barwood, der über zwanzig Millionen Dollar damit verdient hatte, alte Häuser in gefragten Wohngegenden aufzukaufen, abzureißen und durch dreimal so teure Villen zu ersetzen. All dies konnte man in einem Interview mit Mr Barwood in der Ausgabe des Magazins Success vom April 1996 nachlesen.

Aber Howard Barwood war nicht der Richtige für sie. Er war nur ein Ausrutscher. Hickle war ihr Schicksal.

Im Grunde hätte sie das doch einsehen müssen. Schließlich hatte er es ihr oft genug erklärt, in seinen Briefen und in den Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Aber sie wollte einfach keine Vernunft annehmen und weigerte sich, ihn auch nur ansatzweise mit Anstand und Höflichkeit zu behandeln. Sie hatte ihn zurückgewiesen. Hatte sich geradezu ungehobelt benommen. Sie …

Moment.

Ein langer, grauer Wagen kam die Straße entlang. Ein Lincoln Town Car? Ja.

Kris.

Der Wagen fuhr langsam vor die Studioeinfahrt und hielt an.

Hickle hob das Gewehr. Er befühlte den Abzug.

Könnte er sie auf diese Entfernung töten? Er war sich nicht sicher. Die Schrotmunition würde weit streuen. Der Schuss würde das Seitenfenster zerschmettern, aber er wusste nicht, ob er sie treffen würde. Sie würde in Deckung gehen, der Fahrer würde mit quietschenden Reifen zurücksetzen und davonfahren …

Das Tor öffnete sich. Hickle schaute dem Wagen nach, wie er hindurchfuhr.

Er hatte gar nicht wirklich vorgehabt, auf sie zu schießen. Nicht hier. Wenn die Zeit kam, was nicht mehr lange dauern würde, dann würde er den richtigen Ort auswählen und aus dem Hinterhalt zuschlagen. Und keinen Fehler machen.

Der Lincoln fuhr zum anderen Ende des Parkplatzes auf den für Kris Barwood reservierten Stellplatz nahe am Hintereingang von Studio A.

Hickle holte ein Fernglas aus der Reisetasche und spähte hindurch. Der Fahrer stieg zuerst aus. Er öffnete die Seitentür für Kris, die, hochgewachsen und blond, in den Sonnenschein hinaustrat. Sie trug einen blauen Hosenanzug, würde sich aber vor der Sendung noch umziehen, wie er wusste.

Dann stieg noch jemand aus dem Fond des Wagens. Ein Mann. Hickle sah sich sein Gesicht näher an. Es war Howard Barwood.

Er hatte ihn noch nie in Fleisch und Blut gesehen. Sonst begleitete er Kris nie zur Arbeit, dachte Hickle überrascht.

Er musterte Howard etwas genauer. Ein grinsender Narr mit silbernen Haaren und Stiernacken, der eine Frau erobert hatte, die er einfach nicht verdiente.

Hickle spürte, wie sich seine Brust vor Anspannung verengte. Kurz griff er wieder nach dem Gewehr, aber sie waren natürlich viel zu weit weg.

Also gut, im Moment gehörte sie noch Howard, aber nicht mehr lange.

Hickle gab sich mit diesem Gedanken zufrieden und beobachtete, wie der Leibwächter die Barwoods zum Studio brachte. An der Tür blieb Howard stehen und sagte etwas zu Kris, dann beugte er sich vor, fasste sie am Handgelenk und küsste sie.

Er küsste sie.

»Du Dreckskerl«, flüsterte Hickle mit vor Wut heiserer Stimme. »Rühr sie nicht an. Wag es nicht.«

Der Kuss dauerte nur eine Sekunde. Dann öffnete sich die Tür und die Barwoods gingen hinein. Die Tür fiel hinter ihnen zu.

Hickle starrte noch lange durch das Fernglas auf die Tür. Aber er sah sie gar nicht. Er sah überhaupt nichts, nur in seiner Erinnerung diesen Kuss.

Er hatte Kris monatelang im Fernsehen zugeschaut, ihre Sendungen aufgenommen, sich die Videos immer wieder angesehen, Bild für Bild. Fortwährend angehalten, um ihre verschiedenen Gesichtsausdrücke zu studieren. Er hatte Fotos von ihr aus Magazinen und Zeitungen gesammelt. Er hatte sie beim Joggen am Strand beobachtet und hie und da einen flüchtigen Blick durch ein Fenster ihres Hauses erhascht.

Aber er hatte sie noch nie zusammen mit ihrem Mann gesehen. Er hatte noch nie gesehen, wie er ihre perfekten Lippen küsste. Er ließ das Fernglas sinken. Seine Hände zitterten. Und er brauchte eine Weile, bis er begriff, dass das, was er empfand, schiere Wut war.

Kris gehörte ihm, ob sie es wahrhaben wollte oder nicht. Sie war sein, das war ihre Bestimmung. Sie gehörte ihm und nicht dem anderen. Dieser Mann hatte kein Recht, sie zu berühren. Kein Recht, sie zu küssen.

Hickle schloss die Augen, aber es half nichts. Nun sah er sie beide zusammen im Bett, Mr und Mrs Barwood. Kris nackt. Howard, wie er sie bestieg. Ihre Körper vereint, bebend. Howard, der immer tiefer in sie eindrang wie ein brünstiges Tier, und Kris, der es gefiel. Ihr gefiel, was er mit ihr machte, sie bettelte nach mehr …

Er öffnete die Augen. Sonne und blauer Himmel ließen ihn blinzeln. Und plötzlich wusste er, er musste hier weg. Und er wusste auch wohin und was er zu tun hatte.

Er startete den Wagen und fuhr los. Aber nicht an der Studioeinfahrt vorbei, denn der Wachposten sollte seinen Wagen nicht sehen. Er fuhr auf den Glendale Freeway, Richtung Norden zum Angeles National Forest. In der Nähe von La Cañada Flintridge gab es ein einsames Waldstück, das er im vorigen Jahr entdeckt hatte, als er ziellos durch die Gegend gefahren war. Ein Bach plätscherte durch eine sonnige Lichtung am Ende einer unbefestigten Straße.

Er parkte den Wagen und nahm seine Reisetasche mit.

Er lief hundert Meter in den Wald, legte die Tasche auf den Boden, holte ein paar Ohrenschützer heraus und setzte sie auf. Dann die Schrotflinte und zwei Schachteln Patronen.

Mit dem ersten Schuss scheuchte er einen Schwarm Vögel auf. Nach dem zweiten nahm er nur Stille wahr und das gedämpfte Echo des Knalls.

Die Waffe hatte ein Magazin für vier Patronen. Er schoss es leer und lud nach. Dann wiederholte er das Ganze noch einmal. Er zielte auf umgefallene Baumstämme und Geröllbrocken. Aber eigentlich schoss er einfach drauflos. Mit einer Schrotflinte konnte man sein Ziel nicht genau anvisieren. Man konnte nur draufhalten. Die weite Streuung des Schrots würde alles in Schussrichtung vernichten.

Es ging ihm nicht um Präzision, sondern darum, sich mit der Waffe vertraut zu machen. Er musste ein Gefühl für Reichweite, Schusskraft und Rückstoß bekommen. Die Waffe musste ein Teil von ihm werden, eine Verlängerung von Arm und Schulter. Wenn die Zeit kam, würde er nur eine Chance bekommen. Es durfte nicht fehlschlagen.