36
Travis rannte ein paar Meter hinter Hickle her in den Wald und sah ihn zwischen Eukalyptusbäumen und dichtem Gestrüpp verschwinden. Kurz dachte er daran, ihn weiter zu verfolgen, aber er musste sich um Kris kümmern, Das war jetzt wichtiger. Er kehrte um und fand sie benommen auf der Straße kniend. Tränen rannen über ihr Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick starr.
»Verdammt«, brüllte er, seine Wut stärker als sein Mitgefühl. »Warum zum Teufel haben Sie die Deckung verlassen?«
Sie antwortete nicht und das musste sie auch gar nicht. Er wusste, warum sie losgerannt war, als ihr die Kugeln um die Ohren flogen. Sie hatte einfach die Nerven verloren. Sie war dem blinden Impuls gefolgt, sich möglichst weit aus der Gefahrenzone zu entfernen, war deshalb in Hickle hineingerannt und fast ums Leben gekommen.
Travis beruhigte sich wieder und berührte sie sanft an der Schulter: »Alles in Ordnung, Kris?«, fragte er leise.
Sie blickte ihn an und flüsterte: »Ich dachte, ich wäre stärker.«
Er verstand. Sie war eine erfahrene Nachrichtenjournalistin und hatte über Erdbeben, Bandenkriege und sadistische Morde berichtet. Sie hatte geglaubt, mit allem fertig zu werden. Aber heute Nacht, als die Schüsse ihr galten, als sie im Zentrum der Story stand, da war sie in Panik geraten und weggerannt wie ein verängstigtes Kind. Sie war nicht so tough, wie sie geglaubt hatte. Eine schmerzhafte Lektion, aber sie würde sie überleben. Und für Travis war ihr Überleben das Einzige, was zählte.
Nicht weit entfernt erklangen Sirenen. Sicher hatten die Anwohner und der Wachmann die Polizei gerufen, als sie die Schüsse gehört hatten. Für Malibu war das Sheriff‘s Department von Los Angeles County zuständig und die nächste Wache war meilenweit entfernt in Agoura, aber anscheinend waren ein paar Streifen in der Nähe gewesen.
Er blickte die Straße auf und ab. Pfeiffer und Mahoney, die beiden TPS-Leute aus dem Gästehaus, eilten herbei. Alle Häuser an Gateway Road und Malibu Reserve Drive waren hell erleuchtet. Nichts rüttelte die Nachbarn so schnell aus dem Schlaf wie ein kleines Feuergefecht um Mitternacht.
Travis ging um den Wagen herum und fand Drury ausgestreckt auf dem Boden. Seine Knie zuckten leicht und durch den linken Ärmel seiner Jacke sickerte Blut. Hickle hatte wohl auf Drury gehalten und sein Magazin leer geschossen, aber die meisten Kugeln waren offenbar danebengegangen. Ein paar hatten Arm und Schulter erwischt. Er hatte Blut verloren, aber es war anscheinend keine Arterie verletzt. Sein Arm war unnatürlich angewinkelt, wahrscheinlich gebrochen, sein Ellbogen möglicherweise zertrümmert.
»Alles in Ordnung, Steve«, sagte Travis, obwohl er wusste, dass er ihn nicht hören konnte. »Es wird schon wieder.«
Die Sirenen wurden lauter und verklangen schließlich. Travis sah, wie sich das Tor öffnete und zwei Streifenwagen hindurchfuhren.
»Wie ist die Lage?« Pfeiffer kam angelaufen, die Waffe in der Hand, und starrte ihn mit glasig-erschrockenem Blick an. Direkt hinter ihm war Mahoney.
»Hickle hatte uns aufgelauert und jetzt ist er geflohen«, sagte Travis knapp. »Ich glaube nicht, dass er zurückkommt. Er hatte einen Glückstreffer, hat den Benzintank erwischt und der Wagen ist ausgebrannt. Er hat Drury an der Schulter getroffen. Mrs Barwood geht es gut, aber sie steht unter Schock. Wo ist ihr Mann?«
»Wir haben ihm gesagt, er soll im Haus bleiben«, antwortete Mahoney. Etwas leiser fügte er hinzu: »Wir mussten ihn nicht lange bitten.«
Travis nickte. Er war nicht überrascht, dass Howard Barwood kein Bedürfnis hatte, sich in die Schusslinie zu begeben.
Die beiden Streifenwagen hielten ein paar Meter von dem brennenden Autowrack entfernt. Und aus beiden stieg jeweils ein Deputy mit gezogener Waffe und wachsamem Blick. Travis ging auf die beiden zu und erklärte ihnen die Situation. »Haben Sie einen Rettungswagen angefordert?«
»Ist unterwegs«, antwortete der eine, ein schlaksiger junger Mann mit roten Haaren. Auf seinem Namensschild stand Carruthers. Er war höchstens fünfundzwanzig. Sein Blick huschte immer wieder zum Gebüsch am Straßenrand.
Travis wusste, er hatte Angst, Hickle würde zurückkommen und es noch einmal versuchen. Aber die Gefahr war gering. Hickle hatte sein Bestes gegeben und versagt. Jetzt suchte er sich eine dunkle Ecke, wo er seine Wunden lecken konnte. Aber weit konnte er nicht sein.
»Hat einer von Ihnen Lust, mich bei der Verfolgung eines bewaffneten Tatverdächtigen zu unterstützen?«, fragte Travis. »Ich glaube, wir haben eine reelle Chance.«
Carruthers wollte mitkommen. Der andere Deputy, nicht so begeistert, entschied sich, am Tatort zu bleiben und auf den Rettungswagen zu warten.
Travis rekrutierte Pfeiffer als Dritten im Bunde. »Mahoney, Sie bleiben bei Drury und Mrs Barwood. Suchen Sie ein paar Decken. Drury scheint zu zittern.«
»Ein guter Junge, Drury«, sagte Pfeiffer.
»Er wird’s überstehen. Los, gehen wir.«
Die drei machten sich auf den Weg. Travis ging vor, Pfeiffer und Carruthers folgten dicht hinter ihm. »Was für Waffen hat dieser Mistkerl denn dabei?«, fragte Carruthers.
»Bei dem Anschlag hat er eine Schrotflinte verwendet, aber soweit ich weiß, hat er auch eine Büchse mit Zielfernrohr und Laservisier. Tragen Sie eine Weste, Deputy?«
Carruthers schnaubte. »Leider nicht. Diese Schicht ist normalerweise ziemlich ruhig und unter so einer Weste kann’s ganz schön heiß werden.«
»Pfeiffer?«
»Ja, ich habe meine Kevlar-Weste an. Und Sie, Boss?«
»Hab meine zu Hause vergessen.« Travis schob ein neues Magazin in seine Walther. »Hoffen wir, dass Raymond nicht zu viel Gegenwehr aufbietet.«
Hickle rannte blindlings durch das Gestrüpp und die Tasche zerrte an ihm wie eine schwere Schuld. Hinter sich hörte er die Sirenen, aber er traute sich nicht, sich umzudrehen. Denn er fürchtete, er würde eine ganze Meute von Polizisten sehen, die ihm auf den Fersen waren.
Es war eine Katastrophe. Er hatte auf ganzer Linie versagt. In seiner Vorstellung war der Anschlag immer vollkommen glattgelaufen. Er hatte zwar damit gerechnet, verhaftet zu werden, aber erst, wenn Kris tot und er unsterblich war.
JackKeck war schuld. In seinen E-Mails hatte er kein Wort darüber verloren, dass Kris‘ Wagen gepanzert war.
»Nicht ein einziges Wort«, schnaufte er, außer sich vor Wut, und rannte gegen einen mit NATO-Draht gekrönten Stahlzaun.
Er hatte die Umzäunung der Wohnanlage erreicht.
Helle Panik stieg in ihm auf. Er saß in der Falle.
Er konnte umkehren, sich im Unterholz verstecken, aber es würde nicht lange dauern, bis sie ihn fanden. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben. Denk nach.
Der Zaun ging weiter bis hinunter zum Meer, aber nicht hinein. Wenn er durch das Wasser um den Zaun herumlief, würde er den öffentlichen Strand erreichen, hinter dem sein Auto geparkt war.
Humpelnd rannte er den Zaun entlang Richtung Meer. Rechts von ihm tauchte das letzte Haus auf dem Malibu Reserve Drive auf. Zwischen Hausmauer und Zaun war nur eine schmale Lücke, aber es gelang ihm, sich hindurchzuzwängen und seine Tasche hinterherzuziehen. Er bemerkte, dass sich die Flinte auf einmal in der Tasche befand. Wahrscheinlich hatte er sie hineingesteckt, weil sie ihn behindert hatte. Aber er konnte sich nicht daran erinnern. Er handelte nur noch rein instinktiv wie ein gehetztes Tier.
Kurz vor dem Strand blieb Hickle stehen, denn die weite, offene Fläche bot keinerlei Deckung. Falls die Polizei damit rechnete, dass er diesen Weg nahm, wurde der Strand vielleicht schon überwacht. Aber er sah nur weißen Sand, die Brandung und ein paar von glänzendem Seetang umspülte Felsen, die aus dem Wasser ragten. Er riskierte es und rannte los. Bei jedem Schritt wirbelte Sand auf. Am Ende des Zauns stürzte er sich in die Wellen und stakte auf der anderen Seite wieder heraus.
Als er durch den feuchten Sand lief, fiel ihm ein, dass er Fußspuren hinterlassen würde.
Er schaute zurück und sah eine Linie von Fußabdrücken, die bis ins Wasser reichte. Auf der anderen Seite des Zauns musste es eine ähnliche Spur geben und auch im lockeren Erdreich des Waldes. Es war für seine Widersacher ein Leichtes, ihm nachzuspüren.
Wie auf Stichwort leuchteten in dem schmalen Durchgang zwischen dem letzten Haus und dem Zaun Taschenlampen auf. Sie waren im Anmarsch. Mindestens zwei, vielleicht mehr.
Er rannte auf den Weg, der zum Parkplatz führte. Doch dann sah er am anderen Ende des Wegs, hinter einer Baumreihe und dem schwarzen Dach eines Unterstands, ein rotblaues Flackern – die Kennleuchte eines Polizeiwagens.
Die Cops waren schon auf dem Parkplatz. Sie hatten seinen Wagen gefunden. Er machte kehrt, Richtung Strand.
Die Taschenlampen kamen näher. Seine Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Immer seinen Spuren im Sand nach.
Alle Fluchtwege waren abgeschnitten. Alle bis auf einen.
Die Lagune.
Sie lag auf der linken Seite, zwei flache Uferseen, die sich aus dem Malibu Creek speisten, umgeben von einer dunklen weiten Wattfläche und niedrigem Gestrüpp. Der Malibu Lagoon State Park, ein sechzehn Hektar großes Feuchtgebiet. Ein Naturschutzgebiet, Nistplatz für Zugvögel … und ein Ort, an dem er sich verstecken konnte.
Hickle verließ den Weg und sprintete wieder los. Er fragte sich, ob er jemals wieder aufhören konnte zu rennen.
»Er ist zur Lagune geflohen.« Pfeiffer stand an der Stelle, wo der unbefestigte Weg in den Strand mündete, und starrte auf die wirren Fußstapfen hinunter. »Zuerst ist er Richtung Parkplatz gerannt, aber der Polizeiwagen hat ihn wohl verschreckt. Dann ist er hierher zurückgekommen und hat sich da in die Vegetation geschlagen.«
Im Schein der Taschenlampe war eine Zickzacklinie von Fußspuren zu sehen, die zwischen hohem Röhricht und Meeresspargel verschwanden.
Travis und Carruthers standen mit gezückten Waffen und Taschenlampen neben Pfeiffer. »Vielleicht hockt er da irgendwo«, sagte Carruthers, »und nimmt uns gerade ins Visier.«
»Der ist im Moment viel zu fertig, um noch richtig zielen zu können«, antwortete Travis. »Er ist wie eine panische Ratte auf der Flucht.« Er sah Pfeiffer an, der ein guter Fährtensucher war. »Können wir ihn da drin aufspüren?«
»Ich glaube nicht, Boss. Sicher trampelt er die Vegetation nieder, aber die richtet sich schnell wieder auf. Und Sturmfluten und achtlose Wanderer haben auch einiges verwüstet, da werden seine Spuren schwer auszumachen sein. «
Travis ließ den Blick über das Röhricht schweifen und zeigte auf die Brücke über den Malibu Creek. »Er ist in diese Richtung gelaufen. Er wird durchs Wasser waten, unter der Brücke hindurchgehen und auf der anderen Seite wieder rauskommen.«
Carruthers runzelte die Stirn. »Wieso sind Sie da so sicher?«
»Ich weiß, wie solche Typen denken. Mit dem Auto hatte ich doch auch recht, oder?« Travis hatte auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Hickle seinen Wagen auf dem Strandparkplatz abgestellt hatte. Carruthers hatte über Funk eine Suchmeldung herausgegeben und eine Streife der Autobahnpolizei, die sich gerade in der Nähe befand, war zum Parkplatz gefahren und hatte vor zwei Minuten Hickles Golf gefunden.
»Sie hatten recht«, gab der Deputy zu. »Nun, wenn unser Freund auf dem Weg zur Brücke ist, schnappen wir ihn uns doch.« Über Funk bat er die Zentrale, die Autobahnpolizisten auf dem Parkplatz darüber zu informieren, dass der Verdächtige in die Lagune geflohen sei und wahrscheinlich auf der anderen Seite der Cross-Creek-Brücke wieder austreten würde. Er sagte tatsächlich austreten. Dann fügte er hinzu: »Wenn die Kollegen den Wagen sichergestellt haben, könnten sie vielleicht auf der Brücke Posten beziehen und die Augen ein bisschen offen halten.«
»Gute Idee«, sagte Travis.
»Ja, falls Sie recht haben. Denn wenn wir uns auf die Brücke konzentrieren und er kehrt zum Strand zurück, dann stehen ihm mehrere Fluchtwege offen.«
»Also gut, was machen wir?« Er musste dem Jungen die Entscheidung überlassen, denn er war der einzige Polizeibeamte unter ihnen.
»Wir trennen uns und durchkämmen einzeln die ganze Lagune. Falls er sich da irgendwo versteckt, werden wir ihn schon aufstöbern.«
Travis nickte. »Das ist ein Plan.«
»Wer sucht den Bach unter der Brücke ab?«, fragte Pfeiffer.
»Ich«, sagte Travis achselzuckend. »Es ist meine Theorie, also muss ich sie auch beweisen.«
»Seien Sie vorsichtig«, sagte Carruthers.
Travis winkte ihm kurz zu und machte sich auf in den Sumpf. Die Taschenlampe hielt er nach unten, damit Hickle ihn nicht schon von Weitem bemerkte.