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Hickle verlor langsam die Geduld. Wenn es wirklich Abbys Wagen war, den er gesehen hatte, müsste sie längst in ihrer Wohnung sein. Aber das Licht war nicht angegangen und die Vorhänge waren immer noch zugezogen.

»Komm schon, du Miststück«, murmelte er und blinzelte eine Schweißperle weg. »Zeig dich schon. Ich brauche nur einen Schuss, Abby. Nur einen.«

 

Abby starrte auf die Vorhänge und überlegte. Wenn sie nicht befürchten müsste, dass Hickle in der Nähe lauerte, was würde sie dann nach dem Betreten der Wohnung als Erstes tun? Als Hickle sie vor ein paar Tagen im Gainford Arms mit dem chinesischen Essen überrascht und sie ihn mit in die Wohnung genommen hatte, was war da ihre erste Handlung gewesen?

Sie hatte die Fenster geöffnet, um zu lüften.

Ihr Körper reagierte, noch bevor ihr Verstand begriff. Ihre Nackenhaare sträubten sich und ihr Bauch krampfte sich zusammen.

Sie stellte sich vor, wie sie die Vorhänge aufzog und die Glastür öffnete. Ein paar Sekunden lang würde sie im Türrahmen stehen und von der anderen Straßenseite aus zu sehen sein. Von dem unfertigen, leer stehenden Bürogebäude aus – dem perfekten Versteck für einen Mann auf der Flucht.

Abby schaltete die Taschenlampe aus und ging zur Balkontür. Dann kniete sie sich hin, um ein kleineres Ziel zu bieten, und zog den Vorhang nur einen Zentimeter zur Seite. Jenseits ihres Balkongitters sah sie schwarz und bedrohlich den Büroturm. So verharrte sie, den Blick fest auf die Fensterreihe gegenüber gerichtet.

Sie wartete. Eine Minute vielleicht. Oder fünf oder zehn. Sie rührte sich nicht, atmete kaum.

Sie sah schwach ein rotes Licht aufleuchten und wusste sofort, was es war. Hickle, der unruhig sein Laservisier testete.

»Du bist ganz schon gerissen«, flüsterte Abby, »aber ich auch.«

Der Strahl traf das Balkongitter, zuckte dann nach oben und warf einen schwachen roten Lichtpunkt auf das Glas, einen Meter links von ihr. Der Punkt kam näher. Vorsichtig zog sie den Vorhang wieder zu und ließ den Punkt darüberwandern. Ein wenig Licht drang durch den Stoff.

Dann verschwand der Strahl.

 

Hickle war sicher, dass er sich geirrt hatte. Das Auto musste irgendeiner Putzfrau oder einem Jugendlichen gehören, jedenfalls nicht Abby. Sie war noch nicht da.

Aber sie würde kommen. Bald.

Er musste einfach warten. Aufgeben würde er nicht. Diesmal würde er nicht versagen.

 

Abby verließ die Wohnung und schloss hinter sich ab. Im Aufzug ging sie den Inhalt ihrer Handtasche durch: Waffe, Speedloader mit zusätzlicher Munition, Diktafon, Minitaschenlampe, Handy.

Unten angekommen, mied sie das Foyer und schlich sich in einen kleinen Fitnessraum, der an diesem Samstagabend leer stand und dessen Hintertür auf die Straße hinter dem Royal hinausführte, die Hickle nicht überblicken konnte. Sie lief durch eine Seitenstraße und würde ein paar Blocks weiter den Wilshire Boulevard überqueren, um sich von der anderen Seite an das leer stehende Gebäude heranzupirschen.

Unterwegs holte sie ihr Handy heraus und wählte die zweite Kurzwahlnummer.

Es klingelte einmal, zweimal … Beim dritten Klingeln meldete sich jemand.

»Hallo?«, sagte Travis. Sie hatte ihn zu Hause erreicht.

»Paul. Ich habe Hickle ausfindig gemacht. Er ist in Westwood und … nun ja, jetzt ist er hinter mir her. Toll, wie sich die Sache entwickelt hat, was?«

»Beruhig dich erst mal, Abby …«

»Dazu habe ich jetzt keine Zeit, Ich habe ihn gefunden, Paul, ich habe ihn gefunden … und du musst mir helfen.«