33
Hickle wand sich aus dem Abflussrohr und zog seine Tasche nach. Dann kämpfte er sich durch die schmale Schlucht und kletterte in der Nähe der Gateway Road hinaus, einer zweispurigen, von Eukalyptusbäumen gesäumten Straße mit grobem Schotterbelag. Sie war die einzige Zufahrt zur Wohnanlage. Am Ende der Straße befanden sich das jetzt geschlossene Tor und dahinter die Küstenstraße.
Hickle musste die Gateway Road überqueren, was riskant war, denn vielleicht schaute der Wachmann gerade in seine Richtung. Er atmete tief durch und rannte los. Die Tasche schlug ihm bei jedem Schritt schwer gegen die Hüfte. Auf der anderen Seite verschwand er in einem kleinen Gehölz. Er war sich sicher, dass der Wachmann ihn nicht gesehen hatte.
Er hastete zwischen den Bäumen hindurch und folgte dem Geruch des Meeres. Er konnte die Brandung hören. Malibu war nach diesem Geräusch benannt worden. In der Sprache der Chumash-Indianer hieß das Wort Der Ort mit den lauten Wellen. Aber heute Nacht, da würde es ein Spektakel geben, das lauter war als die Brandung. Schüsse würde man hören. Und Schreie.
Hickle kam zum Malibu Reserve Drive, eine Querstraße der Gateway Road, die parallel zum Strand verlief. Das Haus der Barwoods lag am anderen Ende der Straße. Es war eins von mehreren Strandhäusern mit prunkvollen Eingangsbereichen und Gästehäusern davor.
Er kauerte sich hinter ein hohes Grasbüschel und beobachtete das Grundstück. Im Gästehaus brannte Licht und es herrschte anscheinend reges Treiben. Ein Mann in dunklem Blazer und Rollkragenpullover kam heraus und sah sich um. Kurz darauf ging er wieder hinein, ließ aber die Tür offen stehen.
Gar nicht gut. Anscheinend waren die beiden im Haus postierten Sicherheitsleute gewarnt worden. Wusste man bei TPS etwa schon von der Explosion in Hollywood? Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Nachricht sich so schnell verbreiten würde. Wahrscheinlicher war, dass Abbys frühere Berichte zu dieser erhöhten Alarmbereitschaft geführt hatten.
Eigentlich hatte er vorgehabt die Straße zu überqueren, sich im Gebüsch neben der Auffahrt der Barwoods auf die Lauer zu legen und das Feuer zu eröffnen, sobald Kris‘ Wagen vorbeifuhr. Aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Vielleicht würde er entdeckt, wenn er sich dem Grundstück näherte.
Er sah auf die Uhr. Mitternacht. Kris konnte jeden Augenblick eintreffen. Er musste sich eine neue Taktik ausdenken, aber möglichst schnell.
Der Mann kam wieder aus dem Gästehaus und ließ seinen Blick die Straße auf- und abschweifen. Hickle wurde klar, dass sein ursprünglicher Plan aussichtslos war. Er musste improvisieren.
Er kehrte in das Waldstück zurück und hielt sich dabei immer parallel zum Malibu Reserve Drive, bis er die Kreuzung mit der Gateway Road erreichte. Kris‘ Wagen würde durch das Tor und dann die Gateway Road entlang bis zum Malibu Reserve Drive fahren und dort links in Richtung Haus abbiegen. Es war eine scharfe Kurve und der Fahrer würde das Tempo drosseln. Und genau in dem Moment würde Hickle zuschlagen.
Er kauerte sich ins hohe Gras. Etwa vierhundert Meter weiter rechts sah er das schummrige Licht der Pförtnerloge. Der Wachmann würde angerannt kommen, wenn er Schüsse hörte, und die Sicherheitsleute auch, aber sie würden zu spät kommen, um Kris zu retten.
Hickle setzte die Reisetasche ab, holte die Flinte heraus und stopfte ein paar zusätzliche Patronen in seine Jackentaschen. Er fragte sich, wie lange er wohl warten musste, wie lange Kris noch zu leben hatte. Er hasste sie nicht mehr. Das war vorbei. Er wollte nur noch Gerechtigkeit.
Dann sah er Scheinwerfer. Ein Wagen kam ans Tor gefahren. Er konnte nicht sehen, ob es ein Lincoln war.
Er kauerte sich zusammen, die Flinte fest in seinen kalten, ruhigen Händen.
Sie spürte Luft in ihren Lungen, sie atmete. Der üble Geruch wich aus ihrer Nase. Sie fühlte, wie die Kraft langsam in ihre Arme und Beine zurückkehrte.
Dies waren ihre ersten Wahrnehmungen, als sie aus dem hellen Licht hinaufstieg und sich auf der Feuertreppe wiederfand, wo Vic Wyatt sich über sie beugte.
»Es wird schon wieder, Abby«, sagte er. »Keine Sorge.«
Sie hatte keine Ahnung, wieso er hier war. Vielleicht träumte sie nur. Aber das kalte Eisenrost, auf dem sie lag, war sehr real, und auch ihre hämmernden Kopfschmerzen.
Später würde sie ihn fragen, wie er sie gerettet hatte. Aber zuerst musste sie sich um etwas anderes kümmern. Etwas ungeheuer Dringendes. Wenn sie sich nur erinnern könnte, was es war.
Ein Bild blitzte vor ihr auf. Devin Corbal, regungslos auf dem Asphalt vor dem Nachtclub ausgestreckt. War Corbal in Gefahr? Nein, für den war es zu spät. Sie sah die Blutlache, die sich unter ihm ausbreitete. Er war tot und sie war schuld, ganz gleichgültig, was andere sagten. Sie musste es wiedergutmachen. Sie durfte nicht noch jemanden verlieren. Sie durfte Kris nicht verlieren …
Kris.
Und Hickle. In Malibu. Ein Anschlag. Heute Nacht. Panisch versuchte sie, sich aufzusetzen.
»Sie müssen sich ausruhen, Abby«, sagte Wyatt.
Dazu war keine Zeit. Sie musste es ihm sagen. Sie versuchte mit aller Kraft zu sprechen, aber brachte nur ein trockenes Husten hervor, unter dem ihr Bauch sich zusammenkrampfte.
»Bleiben sie ganz ruhig liegen, Abby. Sie wären beinah umgekommen.«
Aber sie hörte nicht auf ihn. Gierig sog sie die Luft ein und brachte ein paar Wörter heraus.
»Telefon«, keuchte sie. »Ich muss anrufen.«
Es war ein Lincoln, das konnte Hickle deutlich sehen, als sich das Tor öffnete und der Wachmann den Fahrer durchwinkte. Kris‘ Wagen. Ganz sicher.
Der Lincoln fuhr langsam weiter. Die Scheinwerfer warfen Lichtkegel auf den groben Straßenbelag. Hickle duckte sich noch tiefer und spannte alle Muskeln an, bereit für den Moment, in dem er aufspringen und das Feuer eröffnen würde.
Zuerst die Seitenfenster. Kris saß immer hinten. Er würde sie mit mehreren Schüssen in Kopf und Oberkörper töten. Genau zielen musste er nicht, einfach die Flinte auf sie richten und abdrücken. Er wusste, was aus nächster Nähe abgefeuerte Schrotpatronen bei einem Menschen anrichten konnten. Jede einzelne Patrone flog auseinander wie eine kleine Splitterbombe und schleuderte tödliche Kugeln um sich. Es würde Kris auseinanderreißen. Sie würde keine Zeit haben zu reagieren, keine Möglichkeit, in Deckung zu gehen, und selbst wenn sie es versuchte – im Fond des Wagens gab es kein Entrinnen.
Sie war in einer Blechkiste gefangen. Sie zu töten wäre ein Kinderspiel. Er würde sie buchstäblich abknallen wie eine Schießbudenfigur.
»Du hättest meine Briefe beantworten sollen, Kris«, flüsterte Hickle.