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Hickle kroch durch das hohe schwankende Röhricht und zerrte seine Tasche hinter sich her. Seine Ellbogen und Knie waren mit schleimigem Schlamm bedeckt. Mücken surrten um seine Ohren. Zweimal hatte er nistende Wasservögel aufgescheucht, die mit den Flügeln nach ihm geschlagen und wütend gekrächzt hatten. Er wusste nicht, ob seine Verfolger anhand der Vogelschreie seine Position ausmachen konnten.
Der Boden wurde noch schwammiger und er konnte Brackwasser riechen. Einer der beiden Seen lag direkt vor ihm. Während er sich weiter vorarbeitete, blieben dicke Schlammbrocken an ihm kleben, aber schließlich lichtete sich das Schilf und vor ihm lag das offene Seeufer.
In diesen See ergoss sich der Malibu Creek, der unter der Brücke hindurchfloss. Die Küstenstraße führte über die Brücke. Hickle konnte das Rattern und Brummen des rasenden Verkehrs hören.
Niemand würde auf der anderen Seite der Brücke nach ihm suchen.
Dieser Gedanke trieb ihn in den See. Tief geduckt watete er durch das flache Wasser und wirbelte dabei den Schlick auf. Der Schlamm zog an seinen mit Wasser vollgesogenen Schuhen und immer wieder zuckte der Schmerz durch seinen verstauchten Knöchel. Aber er lief weiter, konzentrierte sich auf die Brücke und die Sicherheit, die ihn dahinter erwartete.
Die Reisetasche wurde immer schwerer, aber er konnte sie nicht zurücklassen. Vielleicht würde er die Waffen noch brauchen. Als das Wasser tiefer wurde, hob er die Tasche weiter an. Er konnte nicht riskieren, dass die Munition nass wurde.
Die Brücke war nicht mehr weit und er spürte eine leichte Strömung. Also hatte er den See verlassen und watete jetzt durch den Malibu Creek, der sich durch Wald und Buschland landeinwärts wand. Er konnte einfach eine Zeit lang dem Bachlauf folgen und ans Ufer gehen, wenn er sicher war, dass er seine Verfolger abgeschüttelt hatte. Aber dann würde er ein Auto brauchen. Er konnte eins stehlen. Er wusste, wie man einen Wagen kurzschließt. Er hatte es schon tausendmal im Fernsehen gesehen. Einmal wurde in Kris‘ Sendung bei einem Bericht über Autodiebstähle ganz genau geschildert, wie man es macht.
Er wollte nicht mehr an Kris denken. Der Gedanke an sie rührte Wut und Schmerz in ihm auf. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass wenigstens Abby tot war.
Er war jetzt unter der Brücke. Über ihm brummte der Verkehr. Kein Mondschein, kein Sternenlicht erreichte die Betongrotte. Dunkle Wellen schwappten hie und da gegen die Pfeiler und ihr Klatschen hallte leise wieder. Er konnte seinen eigenen Atem hören, das Geräusch von der besonderen Akustik des Ortes verstärkt.
Er hatte fast das andere Ende der Brücke erreicht, da hörte er, wie ein Wagen direkt über ihm anhielt. Er erstarrte. Kurz darauf ging ein Scheinwerfer an, dessen Strahl über die Wasseroberfläche vor ihm strich.
Ein Polizeiwagen, vielleicht der vom Parkplatz, und sein Suchscheinwerfer war nach unten aufs Wasser gerichtet. Hickle konnte nicht weiter. Wenn er unter der Brücke hervorkam, würde man ihn entdecken. Er musste zurück in den Sumpf und sich dort verstecken, bis die Luft rein war.
Er wollte gerade umkehren, da sah er am anderen Ende der Brücke den Strahl einer Taschenlampe über das Wasser huschen.
Es mussten zwei Cops sein. Wahrscheinlich Autobahnpolizisten, die waren nachts oft zu zweit unterwegs. Sie hatten beide Seiten der Brücke im Visier. Er musste darunter bleiben, sonst würden sie ihn entdecken. Er saß in der Falle.
Er drückte sich fest mit dem Rücken gegen einen Brückenpfeiler. Wie ein ängstliches Tier. Nur wenige Minuten zuvor war er noch das Raubtier gewesen, das auf der Lauer lag. Nun war er die Beute, die sich vor den Jägern verstecken musste.
Mit zitternden Händen holte er die Flinte aus der Tasche und suchte herum, bis er eine Schachtel Munition fand. Er steckte vier Super-Magnum-Patronen ins Magazin. Falls die Cops merkten, wo er war, würde er das Feuer eröffnen. Auf kurze Distanz war die Flinte besser als die Büchse. Vielleicht gelang es ihm, wenigstens einen von ihnen zu töten, bevor seine anderen Verfolger die Schüsse hörten und zur Brücke kamen.
Dazu würde es hoffentlich nicht kommen. Wenn er Kris erwischt hätte, wäre sein eigenes Schicksal nicht mehr von Bedeutung. Aber solange sie lebte, hatte er noch ein Ziel im Leben.
Travis entdeckte ihn unter der Brücke.
Das arme Schwein saß fest. Auf der einen Seite stand ein Cop mit einer Taschenlampe, auf der anderen der Wagen mit dem Suchscheinwerfer. Hickle konnte nicht weg, ohne gesehen zu werden. Er konnte sich nur an einen Pfeiler drücken und warten.
Travis hatte seine Taschenlampe ausgeschaltet und hockte im Schlamm. Er überlegte, was er tun sollte. Carruthers und Pfeiffer waren zu weit weg, um ihn auszumachen. Die beiden Autobahnpolizisten waren zwar ganz in der Nähe, aber solange er im hohen Schilf blieb, konnten sie ihn nicht sehen.
Er steckte die Taschenlampe weg, kämpfte sich geduckt durch das Röhricht und hoffte, die hohen Pflanzen würden genügend Deckung bieten. Er arbeitete sich nur langsam vor und wartete vor jedem Schritt auf eine Windbö, um das Zittern des Schilfs zu kaschieren. Als er sich der Brücke näherte, stimmte er seine Bewegungen auf den Verkehrsfluss ab. So gingen verräterische Geräusche im Röhren einer Harley oder dem Klappern eines Campingbusses unter.
Es war lange her, seit er sich zum letzten Mal an der Verfolgung eines bewaffneten Angreifers beteiligt hatte. Und er merkte, dass es ihm Spaß machte. Fast wünschte er sich, er wäre ein TPS-Mitarbeiter im Außendienst, statt als Gründer und Inhaber der Firma die meiste Zeit zu Schreibtischarbeit verdammt zu sein.
Er war nur noch anderthalb Meter von der Brücke entfernt, aber der Cop mit der Taschenlampe hatte ihn immer noch nicht entdeckt. Über die Brüstung gelehnt, richtete er den Strahl nach unten und ließ ihn in weitem Bogen über die Wasseroberfläche schweifen. Der Lichtbalken des Streifenwagens hinter ihm tauchte alles in pulsierendes blaurotes Licht.
Travis fragte sich gerade, wie er dem kreisenden Strahl der Taschenlampe entgehen würde, da löste sich das Problem von selbst. Plötzlich heulten in der Nähe zwei Sirenen und der Polizist drehte sich um.
Die Feuerwache befand sich fast direkt neben der Malibu Reserve und die Rettungswagen waren sicher sehr schnell eingetroffen. Die nächsten Krankenhäuser befanden sich in Santa Monica und West L. A. Der Weg dorthin führte über die Brücke und die Küstenstraße Richtung Süden. Die beiden Cops hatten ihre Suchaktion unterbrochen, um den Gegenverkehr aufzuhalten und die beiden Rettungsfahrzeuge durchzulassen.
Die beiden Wagen würden höchstens eine Minute brauchen, um die Brücke zu passieren, aber das reichte Travis. Er stieg in den Bach und mit kräftigen Zügen – aber nur einem Arm, denn mit dem anderen musste er seine Waffe hochhalten – schwamm er unter die Brücke.
Als über ihm die Sirene des ersten Rettungswagens heulte, stieß er sich ab und vollführte einen kräftigen Satz nach vorn. Gewiss konnte ihn Hickle bei dem Lärm oben nicht hören.
Travis versteckte sich hinter einem Pfeiler und nur sein Kopf und die Walther ragten aus dem Wasser. Hickle schaute in die andere Richtung. Er beobachtete den Suchscheinwerfer am anderen Ende der Brücke, der sich jetzt nicht mehr bewegte. Er hatte die Tasche über die Schulter gehängt und hielt die Schrotflinte in der Hand.
Der zweite Rettungswagen schoss mit misstönendem Heulen vorbei. Travis nutzte den Lärm, um weiter durchs Wasser zu gleiten wie ein schlüpfriger Aal, von Pfeiler zu Pfeiler, bis er direkt hinter Hickle war.
Hickle schien plötzlich zu spüren, dass da noch jemand war, aber es war zu spät. Bevor er sich umdrehen konnte, drückte Travis ihm die Mündung der Walther an den Hinterkopf. »Keine Bewegung, Raymond.«
Hickle erstarrte. Travis wusste, er dachte an die Flinte und wog seine Chancen ab.
»Ich weiß, du willst den starken Mann markieren«, flüsterte Travis. »Aber mach keine Dummheiten. Hör mir einfach zu, okay, Raymond? Wirst du anhören, was ich zu sagen habe?«
»Dann rede schon«, flüsterte Hickle, während seine Schultermuskeln sich zusammenzogen.
»Also gut, Raymond, ich bin gekommen, um dir Folgendes zu sagen …«
Travis legte seine Lippen an Hickles Ohr und sagte leise lächelnd: »Jack, sei flink, Jack, sei keck …«