8

 

Hickle kam kurz nach fünf zu Hause an. Er parkte seinen Wagen auf dem ihm zugeteilten Carport und ging hinein.

Das Gainford Arms, eines der ältesten Gebäude in diesem Viertel, war ein Relikt aus der Zeit, bevor kleine, begrünte Wohnanlagen modern wurden – ein rechteckiger, vierstöckiger Ziegelbau mit Reihen kleiner Fenster, die nach vorn auf die trostlose Straße und nach hinten auf den Parkplatz hinausgingen. Manchmal saß Hickle auf der Feuertreppe vor seinem Schlafzimmerfenster und betrachtete den Sonnenuntergang hinter den Hochhäusern im teureren Westen.

Er schaute in seinen Briefkasten im Foyer. Ein Haufen Werbung und ein Antwortschreiben von einem Fernsehsender in Cincinnati. Bedauerlicherweise könne man den Zuschauern keine Fotos der ehemaligen Nachrichtenmoderatorin zur Verfügung stellen. Und man danke ihm für sein Interesse.

Er warf die Werbung und den Brief des Fernsehsenders weg. Vor ein paar Monaten hatte er alle Sender angeschrieben, bei denen Kris jemals gearbeitet hatte, und um Archivfotos von ihr gebeten. Bisher hatte er nur abschlägige Antworten bekommen. Aber im Grunde war’s jetzt auch egal.

Er nahm den klapprigen Aufzug in den dritten Stock.

Da der Aufzug sehr langsam war, vertrieb er sich die Zeit damit, die Graffiti an den Wänden zu lesen.

Seine Wohnung, Nummer 420, lag in der Mitte des Flurs. Während er seine Schlüssel suchte, bemerkte er, dass die Tür der Nachbarwohnung offen war. Ein großer, verbeulter Koffer stand davor. Dann kam eine schlanke, dunkelhaarige Frau in Jeans und T-Shirt heraus und hob den Koffer auf.

Sie sah ihn an und lächelte. »Hallo Nachbar.«

Hickle nickte.

Sie trug den Koffer in die Wohnung und machte die Tür zu. Sie zog wohl gerade ein. Er fragte sich, wer sie war.

Aber in seiner Wohnung vergaß er sie sofort. Hier war sein ganz privates Reich, wo er sich vor der Welt verkriechen konnte. Objektiv betrachtet war sein Apartment ein kleines, deprimierendes Loch. Rissige Gipswände. Keine Vorhänge vor den Fenstern, nur durchhängende Jalousien mit Schnüren, an deren Enden Büroklammern befestigt waren. Die Farbe des Teppichbodens war ein ekelerregendes, schimmelartiges Graugrün und an den stark belaufenen Stellen war der Kurzflor ganz abgetreten.

An einer Wand stand ein Gasofen, der über einen Schlitz auch das Schlafzimmer mit Wärme versorgte. Fast die ganze Einrichtung hatte die Hausverwaltung bereitgestellt. Im Wohnzimmer gab es ramponierte Sitzmöbel, einen Sessel und ein Sofa, angeschlagene Beistelltischchen, die nicht zueinanderpassten, und viel zu kleine Lampen mit fleckigen Schirmen. Die Verwaltung hatte einen Dreizehn-Zoll-Fernseher mit Zimmerantenne in die Wohnung gestellt – hier gab’s kein Kabel –, aber den Videorekorder darunter hatte Hickle sich selbst zugelegt. Eigentlich hätte er sich gern einen Computer gekauft, aber der war für seine Zwecke viel zu teuer, deshalb benutzte er die Geräte in der Goldwyn Hollywood Library auf der Ivar Avenue, etwa anderthalb Kilometer entfernt.

Er hatte eine winzige Kochnische mit einem Gasherd, den er seit seinem Einzug noch nie sauber gemacht hatte, und einem Kühlschrank, aus dem Wasser auf den Linoleumboden tropfte. Zwei fleckige Topflappen baumelten verloren unter dem Hängeschrank. Auf der Arbeitsplatte stand eine Sammlung leerer Softdrink-Dosen und Schraubgläser, für die er im Supermarkt in der Nähe Pfand bekam.

Direkt neben der Küche befand sich das fensterlose Bad, nicht mal so groß wie ein Wandschrank. Eine Rostspur lief vom Spiegelschränkchen hinunter zum Waschbecken.

Und dann war da noch das Schlafzimmer. Das Bett hatte eine Kuhle in der Mitte und in der Matratze waren einige Sprungfedern gebrochen. Eine hatte sogar die Matratze durchbohrt und stakte wie eine Waffe daraus hervor. Als Hickle den Verwalter darüber informiert hatte, hatte der nur gesagt, er solle die Matratze umdrehen. »Wäre es nicht langsam Zeit für ein neues Bett?«, hatte er ganz ruhig gefragt. Der Verwalter hatte geantwortet: »Vielleicht ist es ja Zeit, dass Sie sich eine neue Bleibe suchen. Sie sind hier nicht im Ritz Carlton, verdammt noch mal!«

Er hatte keine Klimaanlage. Wenn der heiße Santa-Ana-Wind aus der Wüste blies, litt er wie ein wildes Tier in einem Käfig. Nachts hielten ihn die Radios der Autos wach, die auf dem Parkplatz ein- und ausfuhren. Es war allgemein bekannt, dass dort Drogendeals stattfanden. Erst ein paar Monate zuvor hatte ein Dealer dort einen Rivalen erschossen.

Das Gainford Arms war eine schäbige Mietskaserne, die aber Privatsphäre bot. Wenn er die Jalousien herunterzog, die Tür abschloss und die Kette vorlegte, war er so gut vor neugierigen Blicken geschützt, wie es eben ging.

Es klopfte.

Hickle sah auf, legte den Kopf schief und hielt den Atem an. Einen Moment lang war er verdutzt. Er bekam nie Besuch. Er hatte keine Freunde und die Außentüren des Gebäudes waren abgeschlossen.

Waren es etwa die Leute, die ihn beobachteten? Die Leute, die Kris engagiert hatte? Würden sie ihm einfach so dreist auf den Leib rücken?

Auf leisen Sohlen ging er durchs Wohnzimmer. Bevor er die Tür öffnete, spähte er durch den Spion.

Es war die dunkelhaarige Frau, die ihn begrüßt hatte.

Er nahm die Türkette ab und öffnete den Riegel. Mit einer unbekannten Frau zu reden war ein Abenteuer und er spürte, wie sein Herz plötzlich viel zu heftig schlug.

Er machte die Tür einen Spaltweit auf und sah die Frau an. »Hallo noch mal«, sagte sie lächelnd.

Er nickte, aber dann fiel ihm ein, dass er antworten musste. »Hallo.«

»Entschuldigen Sie die Störung, aber wissen Sie vielleicht, wo die Telefonbuchse ist?«

»Die Telefonbuchse?«

»Die im Wohnzimmer habe ich gefunden. Aber es muss doch auch eine im Schlafzimmer geben. Ich bin wie eine Verrückte auf allen vieren rumgekrochen, aber ich finde sie einfach nicht.«

»Es gibt auch keine.«

»Aber es muss doch eine geben.«

»Nur die eine. Die Wohnungen sind alle gleich, und der einzige Telefonanschluss ist im Wohnzimmer. Wenn Sie ein Telefon im Schlafzimmer haben wollen, müssen Sie sich eins mit extra langer Schnur besorgen.«

Sie seufzte. »Gibt’s hier noch andere nette Überraschungen?«

»Sicher so einige. Morgens gibt’s nie genug heißes Wasser, deshalb duschen Sie am besten ganz früh morgens, und wenn Sie zu viele Geräte an einen Stromkreis anschließen, brennt Ihnen die Sicherung durch.«

»Das wird ja immer besser.«

Hickle riskierte ein wenig Humor. »Nicht gerade eine Luxusbleibe, was?«

Sie belohnte ihn mit einem Lächeln. »Kann man wohl sagen.«

»Also, sind Sie Schauspielerin?« Verdammt. Das wollte er gar nicht fragen. Es war ihm einfach rausgerutscht und klang sicher seltsam.

Aber anscheinend störte sie die Frage nicht. »Nein. Wie kommen Sie darauf?«

Weil du so hübsch bist, dachte er, erwiderte stattdessen jedoch: »Hier im Haus wohnen so einige, die sich im Showgeschäft versuchen.«

Das war eine lahme Erklärung, aber sie schien sich damit zufriedenzugeben. »Nun, ich bin keine Schauspielerin. Eigentlich bin ich im Moment gar nichts. Ich bin gerade von Riverside hergezogen – Sie wissen schon, dieses Dreckskaff in der Wüste – und habe die letzte Nacht in einem Motel verbracht.«

»Arbeitslos?«

»Ich finde schon was. Ich kann Schreibmaschine. Zehnfingersystem.« Sie hielt beide Hände hoch, als wollte sie zeigen, dass sie tatsächlich einen kompletten Satz Finger hatte. »Und Sie? Was machen Sie?«

»Ich arbeite in einem Restaurant.« Er wusste nicht, warum er log. Aber es war ja keine richtige Lüge. Eher eine Beschönigung der Wahrheit.

»Ach, tatsächlich? Wo? Hier in der Nähe?«

»Nein, in Beverly Hills.« Wieder eine Unwahrheit.

Sie war beeindruckt. »Wow.«

»Ach, es ist nur ein Job.« Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Und wie heißen Sie?«

»Abby Gallagher.«

»Ich heiße Raymond. Raymond Hickle.«

»Nett, Sie kennenzulernen, Raymond Hickle« Sie lächelte. »Schön, einen netten Nachbarn zu haben.«

Das war zu viel für ihn. Er wusste einfach nicht, wie er damit umgehen sollte, wenn jemand nett zu ihm war. Vor allem, wenn es sich um eine attraktive junge Frau handelte.

»Freut mich auch«, sagte er schwach. »Viel Glück und guten Einzug.«

»Danke. Bye.«

Er sah ihr nach und nachdem sie in ihrer Wohnung verschwunden war, schloss er langsam seine Tür.

Sie sollte Schauspielerin werden, fand er. Hübsch genug war sie. Sie hatte haselnussbraune Augen, reine Haut und dunkle Haare, zu einem Pagenkopf geschnitten. Und sie war fit und schlank. Nett hatte sie ihn genannt. Wie viele Frauen hatten so etwas jemals über ihn gesagt? Es direkt zu ihm gesagt? Und sie hatte gelächelt.

Aber er fand es schon etwas seltsam, dass sie ihn um Hilfe gebeten hatte, wo doch der Verwalter noch Dienst hatte. Den einen Telefonanschluss hatte sie ja gefunden. Sie hätte einfach im Verwaltungsbüro anrufen und sich erkundigen können, ob es noch einen gab. Stattdessen hatte sie bei ihm angeklopft, nachdem sie im Flur Augenkontakt hergestellt hatte.

War es möglich … dass sie an ihm interessiert war? Interessiert, so wie Frauen manchmal an Männern interessiert waren?

Neu in der Stadt. Ohne Freunde. Einsam.

»Unmöglich«, flüsterte er.

Egal, es gab Wichtigeres. Seine Schrotflinte. Und das, was er damit vorhatte. Und Kris.

 

An den meisten Abenden aß Hickle nur Bohnen mit Reis, ein billiges und nahrhaftes Mahl. Um 17:57 Uhr, gerade noch rechtzeitig, schöpfte er den dampfenden Inhalt des Topfs auf einen Plastikteller und stellte ihn auf einen Kartentisch vor der Couch neben eine Dose Light-Limonade. Löffel und Papierserviette lagen auch schon bereit. Er setzte sich auf die Couch und drückte auf die Fernbedienung. Das Gerät war immer auf Channel Eight eingestellt. Andere Sender sah er sich gar nicht an. In seinem Videorekorder steckte ein Acht-Stunden-Band. Der war darauf programmiert, jeden Abend um sechs und um zehn aufzunehmen.

»Damit wären wir am Ende unserer Sendung«, sagte der männliche Teil des Moderatorenpaars aus der Vorsendung. »Mal sehen, was Kris und Matt in den Sechs-Uhr-Nachrichten zu berichten haben.«

Hickle beugte sich vor. Es war immer interessant zu sehen, was sie anhatte. Heute trug sie eine blaugrüne Bluse mit offenem Kragen, der die straffe Haut sehen ließ, die sich über ihr Schlüsselbein spannte. Sie erzählte irgendwas von einem Feuer in Ventura, einer Verhaftung in einem Mordfall und guten Wetteraussichten fürs Wochenende. Aber was sie sagte, spielte keine Rolle. Er studierte ihr Gesicht. Dachte sie gerade an ihn? Konnte er Angst in ihren Augen entdecken?

»Dies sind die Themen«, sagte ihr Ko-Moderator abschließend, »über die wir gleich bei den Real News berichten werden.«

Titelmusik. Die Gesichter der Moderatoren und Reporter vor einem Zusammenschnitt von Nachrichtenbildern. Das Channel-Eight-Logo. Ein Ansager verkündete: »KPTI Real News, die Nummer eins um achtzehn Uhr, mit Kris Barwood und Matt Dale …«

Hickle saß da und schaute gebannt zu. Wenn Kris gerade nicht im Bild war, schaufelte er Bohnen und Reis in seinen Mund und spülte mit Limo nach. Wenn sie zu sehen war, rührte er sich nicht und wagte nicht einmal zu blinzeln. Es gab so viele Einzelheiten zu beobachten. Auch nach all der Zeit war er sich immer noch nicht sicher, welche Farbe ihre Augen hatten. Waren sie blau oder grau? Oder war es eine schwer definierbare Mischfarbe? Sie trug heute Ohrringe, aber nicht die, die er ihr geschickt hatte. Anscheinend hatte sie einen anderen Lippenstift als sonst benutzt. Es war ein hellerer, natürlicher Farbton. Eine gute Entscheidung, denn die Farbe betonte ihren schimmernden Teint. Während des Wetterberichts lachte sie. Er konnte die Lachfalten in ihren Mundwinkeln und das explosive Strahlen ihres Lächelns sehen.

Ihm entging nichts. Er wünschte, die ganze Nachrichtensendung hätte sich um Kris gedreht. Nur um Kris, sonst niemanden. Sie hätte nicht einmal sprechen müssen, sondern einfach vor der Kamera sitzen, ihren Kopf in verschiedenen Winkeln neigen und wie ein Modell posieren können. In Aktklassen posierten weibliche Modelle völlig nackt, während die Studenten Skizzen anfertigten. Ein Zeichenkurs, bei dem Kris Modell stand, nackt auf einem Podest, das wäre was! Und er wäre der einzige Student und dürfte sie nach Herzenslust anschauen.

Aber nur schauen wäre nicht genug. Das Ganze wäre erst perfekt, wenn sie von ihrem Podest hinabsteigen und ihn umarmen würde, und er würde ihren Hals küssen, ihre Brüste …

Er stand auf. Mit Schwung schleuderte er die Limo-Dose gegen die Wand und schaumige Flüssigkeit ergoss sich über den Putz.

Dann stand er da, vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, den Kopf gesenkt, und atmete flach und hastig. Lange blieb er so stehen und rührte sich nicht.

Früher hatte er sich mit seinen erotischen Fantasien trösten können. Aber nun hatte er die Wahrheit akzeptiert. Vielleicht lag es daran, dass er sie mit ihrem Mann gesehen hatte. Vielleicht war ihm deshalb endlich klar geworden, wie die Dinge standen.

Was auch der Grund war, er wusste jetzt, es war alles nur Fantasterei. Sie würde niemals sein werden. Niemals.

Und deshalb sollte auch niemand anderes sie haben.

So einfach war es und so endgültig. Howard Barwood würde sie nicht haben, das Publikum würde sie nicht haben, diese Stadt würde sie nicht haben, die Welt würde sie nicht haben.

Hickle hob den Kopf. Die Nachrichtensendung lief immer noch. Jetzt waren sie beim Sport angelangt. Kris und ihr Ko-Moderator alberten ein wenig mit Phil herum, dem Sportmenschen. Sie machten Scherze über den leicht errungenen Sieg der Lakers am Vorabend. Sie lachten.

»Lach nur, Kris«, flüsterte er. »Hab deinen Spaß. Genieß das Leben.«

Aber nicht mehr lange.

Denn er wurde immer geschickter im Umgang mit der Schrotflinte. Bald war er so weit. Er würde sich auf die Lauer legen, ein Schatten unter Schatten. Er würde aufspringen, einmal abdrücken und sie für immer auslöschen.

Mit einer imaginären Schrotflinte zielte er auf den Fernseher und lud durch.

Blammo. Blammo. Blammo.