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Travis hielt die Büchse mit beiden Händen im Anschlag. Die Taschenlampe hatte er mit einem Stoffstreifen von seinem Hemdsärmel am Lauf festgebunden, sodass ihr Strahl jeder seiner Bewegungen folgte. Die Beretta hatte er wieder ins Halfter gesteckt. Später würde er sie abwischen und sie der toten Abby in die Hand drücken.
Er war bereit. Wenn er das Büro betrat, ging es nur noch um töten oder getötet werden. Allein konnte er sie nicht aus ihrem Versteck aufscheuchen. Sie würde sich auch nicht mehr dazu verleiten lassen, Munition zu vergeuden. Selbst wenn er die Beretta benutzte, konnte er unmöglich durch den einen Ausgang schießen und gleichzeitig den anderen im Auge behalten. Dazu hätte er einen zweiten Mann gebraucht.
Trotzdem hatte er einen Vorteil. Abby hatte einen sehr starken Überlebenswillen, aber auch ein stark ausgeprägtes ethisches Empfinden, deshalb würde sie zögern abzudrücken. Er hingegen würde keine Sekunde zögern.
Er machte kurze, schnelle Atemzüge wie ein Taucher kurz vor dem Sprung, machte sich bereit zu stürmen …
Plötzlich hörte er schnelle Schritte.
Sie war durch die erste Tür hinausgerannt.
Er jagte um die Ecke, der Strahl seiner Taschenlampe glitt durch den Flur und erfasste eine fliehende Gestalt. Fast hätte er geschossen, aber er fürchtete, sie zu verfehlen. Doch dann drehte sie sich blitzartig um und gab einen Schuss auf ihn ab, sodass er sich hinter die Wand zurückziehen musste. Als er wieder dahinter hervorschaute, war sie weg.
Es gab nur einen Ausgang. Die Tür zum Treppenhaus. Sie würde versuchen, aus dem Gebäude zu kommen.
Sie hatte einen Fehler gemacht, er wusste es. Als er durch den Flur rannte, baumelte die Taschenlampe am Gewehrlauf hin und her.
Wenn sie nach unten lief, war sie ein leichtes Ziel. Er hatte von seiner höheren Position aus den besseren Überblick und konnte sie vom Treppenabsatz aus abknallen, bevor sie die Möglichkeit hatte, in Deckung zu gehen.
Kurz vor der Tür zum Treppenhaus blieb er stehen. Er war schließlich Profi und entsprechend vorsichtig. Als er das Gewehr nach unten in den Treppenschacht richtete, sah er im Licht der Taschenlampe einen kleinen vertrauten Gegenstand.
Auf einer Stufe etwas weiter unten lag Abbys Handtasche. Sie musste sie auf der Flucht verloren haben.
Nein, Moment. Das war zu simpel.
Sie hatte die Tasche absichtlich dort hingeworfen. Er sollte glauben, sie wäre runtergerannt. In Wirklichkeit …
… war sie oben. Eine Falle.
Er hielt sich am Türrahmen fest und schoss zweimal senkrecht nach oben, denn er hoffte, dass sie direkt über ihm war und ebenfalls aus der Tür heraus schoss.
Ein Schrei, Geschepper von Metall auf Metall … Abbys Pistole war auf die Stahltreppe gefallen. Er hatte sie erwischt.
Er rannte hinaus und die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er erwartete, Abby auf dem Boden liegen zu sehen, aber sie war nicht da.
Er schwenkte den Gewehrlauf mit der Taschenlampe herum, fand aber keine Blutspuren.
Also hatte er sie doch nicht getroffen. Aber sie hatte ihre Waffe fallen lassen. Sie war wehrlos. Erledigt.
Travis rannte in den dunklen Flur. Das Spiel war fast vorbei. Sie würde den neunten Stock nicht mehr lebend verlassen.