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Es war wieder Krise angesagt. Wie üblich.
Jeder Tag in der KPTI-Nachrichtenredaktion war eine Übung in kontrollierter Hysterie. Nachrichtenleute sind Adrenalinjunkies, die gewohnt sind, im Chaos zu arbeiten und denen am meisten gelingt, wenn die Hölle losbricht.
An diesem Abend hatte ein seltenes Ereignis, die Geburt von Zwillingen bei den afrikanischen Elefanten im Zoo von Los Angeles, Alarmstufe Rot ausgelöst. Die Nachricht hatte die Redaktion um 17:15 Uhr erreicht und für 18:00 Uhr wurde eine Pressekonferenz im Zoo anberaumt.
Das Vernünftigste wäre gewesen, die Elefantenstory bis zur Mitte der Sendung zurückzuhalten, aber das wurde erst gar nicht in Erwägung gezogen. Sie wollten die Elefantenzwillinge unbedingt als Aufmacher haben. Eine rasante Verfolgungsjagd der Polizei in Pomona wurde auf Platz zwei verschoben, die Soap-Darstellerin, die ins Krankenhaus eingeliefert worden war, auf Platz drei und das Exklusivinterview mit dem Bürgermeister auf Platz vier. Politische Nachrichten hatten in L. A. keinen besonders hohen Stellenwert.
Der Übertragungswagen traf zehn Minuten vor Beginn der Sechs-Uhr-Nachrichten im Zoo ein. Sie hatten Probleme mit der Richtfunkverbindung, aber als die Titelmusik der Sendung ausklang und Kris Barwood die frohe Botschaft verkündete, kamen die ersten Bilder von der Pressekonferenz herein, und die Überleitung zu Ed O‘Hern, der live vom Ort des Geschehens berichtete, glückte wundersamerweise vollkommen reibungslos. Sie zeigten Aufnahmen von den Neugeborenen, wie sie ihre ersten wackeligen Schritte machten, während im Hintergrund leise Baby Elephant Walk lief.
»Was für ein Durcheinander«, sagte Amanda Gilbert, als sie sich um halb acht nach der Manöverkritik anschickte zu gehen. »Warum konnten Jumbo und Dumbo nicht zu einer günstigeren Zeit geboren werden?«
Ihr Stimme war so laut, dass Kris sie auf der anderen Seite der Nachrichtenredaktion hören konnte. Kris holte die Jüngere ein, als sie mit einem Aktenkoffer in der einen Hand und einem Stapel Papier in der anderen Richtung Ausgang ging. »Ich glaube, sie heißen Willy und Wally«, sagte Kris.
»Meinetwegen. Sie sind jedenfalls niedlich und haben mit ihren großen Ohren was von Disney-Figuren. Behelligen Sie mich bloß nicht mit Einzelheiten.«
»Na ja, jedenfalls haben Sie die Sache gut über die Bühne gebracht.«
Amanda zuckte mit den Schultern. »Ganz kurz dachte ich, es würde nicht klappen, aber was soll’s, wir haben gekriegt, was wir wollten. Lächelnde Zoomitarbeiter, ein paar brauchbare Kommentare und ein paar nette Abschlussbemerkungen von Ed. Das Einzige, was noch gefehlt hat, war ein Haufen sommersprossiger Schulkinder mit Babar-Büchern unterm Arm.«
Amanda Gilbert, Executive-Producer der der Real News um achtzehn Uhr, war dreißig Jahre alt und redete sehr schnell. Sie war übernervös, schrecklich dünn und schlief wahrscheinlich keine vier Stunden pro Nacht. Kris bemühte sich, sie mit der größtmöglichen Objektivität zu betrachten, konnte aber beim besten Willen nicht begreifen, was ihr einundfünfzigjähriger Mann an diesem knochigen, aufgedrehten jungen Ding so attraktiv fand. Aber so verwunderlich war es eigentlich nicht. Howard liebte nun mal junge Dinger.
Amanda konnte nichts dafür. Howard verhielt sich auch gegenüber Sekretärinnen, Flugbegleiterinnen und Kosmetikverkäuferinnen im Kaufhaus so. Anfangs hatte Kris die wandernden Blicke ihres Angetrauten noch mitleidig belächelt. Jetzt nicht mehr.
»Kris? Weilen Sie noch unter den Lebenden?«
»Was?«
»Sie wirkten gerade ein bisschen abwesend.«
»’tschuldigung. Ich war in Gedanken.«
»Ja, früher konnte ich mir so einen Luxus wie Nachdenklichkeit auch noch leisten, aber heutzutage springe ich morgens in den Infarkt-Express und steige erst nachts wieder aus. Dabei fällt mir ein, es wird Zeit, dass ich hier rauskomme. Und Sie sollten mit Consuelo den Ablauf der nächsten Sendung durchgehen.« Consuelo Martinez produzierte die Zehn-Uhr-Nachrichten und die anschließende Politiksendung.
»Schon erledigt.« Kris hielt ein paar gelbe Skriptseiten hoch. »Und meinen Text habe ich schon.«
»Bis er in letzter Minute umgeschrieben wird. Was unweigerlich passiert. Bye, Kris.«
Sie wollte gehen, aber Kris hielt sie zurück. »Amanda, ich wollte mich für Howard entschuldigen. Wie er sich letztens aufgeführt hat.«
»Howard? Der ist doch ein Schatz. Es war vollkommen in Ordnung.«
»Ich hatte den Eindruck … er würde sich zu sehr aufdrängen und Sie total vereinnahmen.«
»Er interessiert sich für die Technik, das ist alles. Wie ein großes Kind. Ich musste ihm genau erklären, wofür die ganzen Knöpfe und Schalter gut sind. Okay, das kann nerven, aber es ist auch irgendwie süß.«
»So habe ich früher auch gedacht«, sagte Kris. »Aber ich glaube, es sind nicht nur die Schalter, die er umlegen will.«
Amanda kam näher. »Wie meinen Sie das?«
Kris fragte sich, wie viel sie sagen sollte. Sie und Amanda waren nicht gerade sehr eng – dazu waren sie einfach zu verschieden –, aber sie arbeiteten seit zwei Jahren zusammen, und beim Fernsehen war das eine Ewigkeit.
»Nun, es ist so«, sagte Kris zögernd, nachdem sie sich umgeschaut hatte, um sich zu vergewissern, dass niemand sie hören konnte. »Howard ist etwas flatterhaft.«
Amanda runzelte die Stirn. »Wie soll ich das denn verstehen?«
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Sie meinen, er vergnügt sich hinter Ihrem Rücken?«
»Ja, den Verdacht habe ich.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen. Auf mich macht er eher einen altmodischen Eindruck.«
»So was kann täuschen. Er lässt gern seinen Blick wandern, aber ich weiß nicht, ob er schon mal weitergegangen ist. Möglich ist es schon.«
Amanda sah sie nachdenklich an. Schockiert schien sie nicht zu sein, eher neugierig. »Sie meinen, er könnte, Sie wissen schon …? Wann? In letzter Zeit?«
»Ich weiß nicht, es ist nur so ein Verdacht.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Er ist so oft weg und sagt nicht, wo. Er fährt oft ziellos in der Gegend herum. Angeblich fährt er seinen neuen Wagen ein. Kann ja sein, er liebt schließlich seine Spielzeuge. Aber ich weiß nicht. Einmal bin ich dazugekommen, wie er gerade eine E-Mail schrieb, und da hat er ganz schnell das Programm geschlossen, als sollte ich es nicht mitbekommen.«
»Liebesbotschaften per E-Mail?« Amanda sah sie skeptisch an.
»Haben Sie noch nie was von Cybersex gehört?« Kris zuckte mit den Schultern. »Wir leben in einem neuen Jahrtausend. Die Leute schicken sich keine Sonette mehr, wahrscheinlich nicht mal gewöhnliche Liebesbriefe.« Außer Hickle, fügte eine Stimme in ihrem Hinterkopf hinzu.
Amanda schüttelte den Kopf. »Haben Sie mit ihm darüber geredet? Weiß er, dass Sie einen Verdacht haben?«
»Er weiß gar nichts. Unsere Haushälterin Courtney ist meine Informantin. Sie hat sich mir anvertraut, nachdem … nachdem Howard versucht hat, sich an sie ranzumachen.«
»In Ihrem eigenen Haus? Lassen Sie sich von dem Mistkerl scheiden.«
»Wir werden schon eine Lösung finden.«
»Aber nicht, wenn Sie beide nicht endlich miteinander reden.«
»Das werden wir schon, wenn das mit dem Stalker ausgestanden ist.«
Amanda seufzte. »Und ich dachte, Sie beide wären glücklich miteinander. Sie wären so ein Paar, das beim Liebestest in der Cosmopolitan ganz toll abschneidet.«
»Das dachte ich auch, aber jetzt nicht mehr.« Sie konnte einfach nicht mehr darüber reden. »Hören Sie, ich wollte mich nur dafür entschuldigen, dass er sie gestern bei der Arbeit gestört hat.«
»Ach, denken Sie nicht mehr daran.« Amanda schaute auf die Uhr. »Ich muss los, aber morgen reden wir noch mal, falls wir Zeit haben, okay? Von Frau zu Frau.«
Kris lächelte. »Ich hätte Sie nie für den Typ Ausheultante gehalten.«
»Das ist auch ziemlich ungewohnt für mich, aber ich glaube, ich kann das.« Tröstend drückte sie Kris’ Arm und sagte: »Halten Sie durch, Kleines.«
Kris sah ihr hinterher. Sie wusste, es würde morgen kein vertrauliches Gespräch zwischen ihnen geben, denn dazu würde keine Zeit sein. Beim Fernsehen gab es nie Zeit für irgendetwas. Aber das war ganz in Ordnung so. Sie war sich gar nicht sicher, ob sie einer Frau ihr Herz ausschütten wollte, die zu Howards Möchtegern-Eroberungen gehörte.
An der Wand hinter den grauen Metallschreibtischen und Computern hing eine Reihe Uhren, die verschiedene Zeitzonen anzeigten. In Kalifornien war es 19:45 Uhr. Sie sollte sich wirklich langsam in Bewegung setzen. Sie musste noch etwas essen, ihr Skript lesen, ihr Make-up auffrischen und ihre Haare richten. Das Wichtigste war natürlich ihr Äußeres. Es kam ihr vor, als würde sie, seit sie vierzig geworden war, noch mehr Zeit in der Maske verbringen.
»Komisch, wie so was geht«, murmelte sie. Sie musste wohl eine masochistische Ader haben, da sie einen Beruf gewählt hatte, in dem Erfolg so sehr von Jugend und Schönheit abhing. Und dann hatte sie sich auch noch einen Mann geangelt, dessen Prioritäten ähnlich gelagert waren.