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»… handelt es sich um einen VW Golf. Fahrer hat sich der Kontrolle entzogen, Kennzeichen …«
Wyatt war auf dem Weg zurück zur Wache, als er die Durchsage hörte. Er hatte nach dem Überfall auf einen Drugstore auf der Highland Avenue den Einsatz am Tatort geleitet. Es hatte keine Verletzten gegeben. Der Täter hatte sich nur hundert Dollar aus der Kasse und drei Packungen Kondome geschnappt. Anscheinend hatte er eine heiße Nacht geplant.
Nur ein Routinefall. Wyatt hatte die meiste Zeit darüber nachgedacht, was er mit Abby machen sollte, und beschlossen, sie am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Er würde sie anrufen, sich mit ihr zum Lunch treffen und sie fragen, in was sie da verwickelt war. Und wenn sie es ihm tatsächlich erzählte? Was dann? Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht.
Um zwanzig vor zwölf hatte ihn im Drugstore ein gelangweilter Detective mit einem ebenso gelangweilten Tatortfotografen im Schlepptau abgelöst. Nun fuhr er über die Melrose Avenue und lauschte einer Meldung der Autobahnpolizei über eine schief gelaufene Fahrzeugkontrolle auf dem Santa Monica Freeway. Vor zwanzig Minuten, meilenweit entfernt. Er fragte sich, warum die Fahndungsmeldung über die Frequenz der Hollywood Division herausging. Als er in die Wolcox Avenue einbog, bekam er die Antwort.
»… auf eine Person mit Wohnsitz in Hollywood angemeldet.«
Deswegen also. Vielleicht war der Fahrer so dumm, nach Hause zu fahren. Alle Streifenbeamten In Hollywood waren angewiesen, nach einem VW Golf mit dem angegebenen Kennzeichen Ausschau zu halten und ein Auge auf das Haus, in dem er wohnte, zu haben.
»… Adresse: 1554 Gainford …«
Wyatt erschrak. Das Gainford Arms.
»… Name: Hickle, Raymond. Also Heinrich, Ida, Cäsar …«
Der Raser vom Freeway war Hickle. Und er war vor einer Verkehrskontrolle geflohen. Das konnte nur eins bedeuten: Hickle war durchgedreht, außer Kontrolle und gefährlich.
»Abby«, flüsterte er mit einem eisigen Gefühl im Magen.
Es war 23:48 Uhr, als Hickle seinen Wagen auf einem kleinen Strandparkplatz in einer Seitenstraße des Pacific Coast Highway abstellte. Er hatte es geschafft. Er war in Malibu, Kris‘ Reich. Und die Polizei hatte ihn nicht aufhalten können.
Der Zugangsweg zum öffentlichen Strand war nie abgesperrt. Er schleppte seine Reisetasche über den ungepflasterten Pfad in das Waldstück, das an die Malibu Reserve grenzte, und beleuchtete mit seiner Taschenlampe das Gestrüpp vor sich.
Es war kurz vor Mitternacht. Ihm blieb nicht viel Zeit, aber er hatte keine Angst mehr zu versagen. Er würde es schaffen, das spürte er. Es war seine Bestimmung. Kris hatte ihn hintergangen und dafür würde sie bezahlen. So wie Abby bezahlt hatte.
Er fragte sich, ob sie schon tot war. Fünfzig Minuten waren vergangen, seit er das Leck in die Gasleitung gerissen hatte. Mittlerweile müsste sie entweder erstickt oder in die Luft geflogen sein.
Nun hatte Kris‘ letzte Stunde geschlagen.
Nicht weit von der Umzäunung der Wohnanlage fand er die Öffnung des Abflussrohrs wieder. Das Rohr hatte sechzig Zentimeter Durchmesser und ragte aus einem Erdhügel unter einem Eukalyptusbaum hervor. In der Nähe gab es einen kleinen Brackwassertümpel. Anscheinend war das Rohr als Schutzmaßnahme für Überschwemmungen gedacht und sollte Wasser aus dem Tümpel in die schmale Schlucht auf dem Grundstück der Wohnanlage ableiten.
Hickle schob sich bäuchlings in das Rohr und zog seine Tasche hinter sich her. Doch sie blieb in der Öffnung stecken und er fürchtete fast, sie würde nicht durchpassen. Als er sie jedoch ein wenig drehte, ging es. Er kroch über Blätter und Zweige, Bonbonpapier und anderen Müll, den Regenstürme hereingespült hatten. Käfer huschten vor ihm davon, manche krabbelten über ihn hinweg, ihre Berührung wie zarte Fingerspitzen. Es störte ihn nicht. Er kroch ja nicht zum ersten Mal durch das Rohr und es gab hier immer irgendwelche Krabbeltiere.
Allerdings war er noch nie nachts hier gewesen. Die Taschenlampe warf fahle Kreise und Schnörkel auf die schmutzigen Rohrwände. Bei seinen Erkundungsbesuchen hatte vom anderen Ende her immer ein Schimmer von Sonnenlicht gelockt, doch jetzt war dort nur schwarze Nacht. Er nahm an, dass er die Hälfte hinter sich hatte. Demnach wäre er bereits unter dem Zaun hindurch. In der Anlage.
Kris verschanzte sich hinter Zäunen und umgab sich mit Leibwächtern, aber diese Vorsichtsmaßnahmen hatten sich als nutzlos erwiesen. Er ließ sich nicht aufhalten. Er war eine Naturgewalt, ein Mann des Schicksals.
Er kroch schneller.
Wyatt parkte an einem Hydranten vor dem Gainford Arms und eilte zwei Stufen auf einmal nehmend die Vordertreppe hinauf. Doch die Tür zum Foyer war abgeschlossen. Er klingelte bei Abby, aber sie reagierte nicht. Er ging zur Hintertür. Auch verschlossen. Er suchte den Parkplatz ab und fand ihren weißen Dodge Colt an seinem Stellplatz.
Sie war also zu Hause, reagierte aber nicht auf sein Klingeln. Und Hickle, den sie bespitzelte, war auf der Flucht vor der Polizei.
Mit seinem Schlagstock zerschmetterte er die Glasscheibe neben der Hintertür, dann griff er hinein und entriegelte sie von innen. Er eilte zum Aufzug und drückte den Knopf. Als er nicht kam, rannte er die Treppe hoch. Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock wurde er langsamer und ging in den Flur. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass Hickle zurückgekommen war und darauf lauerte, dass ihm ein Cop vor die Flinte lief. Es wäre vielleicht klug gewesen, Verstärkung anzufordern oder nachzusehen, ob Hickles Wagen auf dem Parkplatz stand. Aber dazu war es jetzt zu spät.
Er zog seine Waffe und ging zu Hickles Wohnung. Er rüttelte an der Tür. Abgeschlossen. Innen war alles still. Trotzdem duckte er sich, als er an der Tür vorbeiging, unter dem Spion weg.
Nebenan war Abbys Wohnung. Nummer 418. Er klopfte, dann runzelte er die Stirn. Dieser Geruch. »Oh Scheiße«, flüsterte er.
Er drehte am Türknopf. Die Tür ließ sich problemlos öffnen. Gas wallte ihm entgegen. Ohne zu zögern ging er hinein, denn er fürchtete keinen Hinterhalt mehr. Hickle war nicht hier und würde auch nicht zurückkommen. Er hatte Abbys Wohnung in eine riesige Bombe verwandelt und war geflohen, bevor sie hochgehen konnte.
Der Gestank war überwältigend. Die Gaskonzentration war wahrscheinlich gefährlich nah am kritischen Punkt. Jeder Funke konnte eine Explosion auslösen. Wyatt drang weiter in die Wohnung vor, froh, dass das Licht an war, denn einen Lichtschalter umzulegen würde er in diesem Moment nicht wagen.
Sofort fiel ihm der von der Wand gerissene Ofen auf und die Leitung, aus der das Gas strömte. Er drehte den Gashahn zu und öffnete das Wohnzimmerfenster, dann lehnte er sich hinaus und atmete tief ein, um sein Schwindelgefühl zu überkommen. Er merkte, wie er zitterte, aber das war kein Wunder, denn immerhin konnte hier jeden Moment alles hochgehen.
Dann fand er Abby im Schlafzimmer. Sie lag reglos und ganz verrenkt vor dem Fenster, das ein paar Zentimeter weit geöffnet war.
Hickle hatte es nicht offen gelassen, da war er sicher. Abby musste es selbst hochgeschoben haben. Wahrscheinlich hatte die Anstrengung sie umgehauen. Aber die Luftzufuhr hatte die Gaskonzentration gesenkt und ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.
Wyatt schob das Fenster ganz hoch. Erst dann kniete er sich neben Abby und fühlte ihre Halsschlagader. In seinen Fingerspitzen spürte er ihren Puls leise flattern.
Er hob sie durchs Fenster auf die Feuertreppe hinaus und setzte sie ab. Ihre Atmung war schwach. Er drückte ihren Kopf nach hinten, um ihre Atemwege freizumachen, hielt ihr die Nase zu, legte seinen Mund auf ihren und blies Luft in ihre Lungen. Dann noch einmal. Dann beobachtete er ihre Brust, wartete darauf, dass sie ausatmete. Nichts. Dann blies er ihr erneut Luft in die Lungen, bis sich ihre Brust hob. Sie atmete immer noch nicht aus. Er wiederholte die Prozedur. Er würde nicht aufgeben, sie nicht sterben lassen.