12
Hickle konnte nicht schlafen.
Er rollte auf die Seite und schaute auf das glühende Ziffernblatt seines Weckers. Es war 2:19 Uhr. In drei Stunden musste er aufstehen. Seine Schicht begann um sechs und er war immer pünktlich.
Am besten einfach die Augen schließen und entspannen. Der Schlaf würde schon kommen, wenn er es nur zuließ, da war er sicher.
Aber stattdessen kroch er aus dem Bett und hasste sich dafür. Er holte eine Hose und ein Hemd aus dem Wäschekorb und zog sie an. Dann nahm er das Fliegengitter vom Schlafzimmerfenster und stieg leise hinaus auf den Absatz der Feuertreppe.
Das Schlafzimmer seiner Nachbarin grenzte an seines, und über den Treppenabsatz konnte er das Fenster erreichen. Das Schlafzimmer war dunkel und das Fenster geschlossen. Die Jalousie war heruntergezogen, aber sie war alt und windschief und durch die Schlitze konnte er Abby Gallaghers Gestalt, vom Mondlicht nachgezeichnet, so gerade ausmachen. Sie lag im Bett und schlief.
Er kniete, drückte sein Gesicht ganz nah ans Fenster und sah ihr beim Schlafen zu.
Sie war wirklich hübsch. Sie erinnerte ihn an Jill.
Natürlich sahen sie sich überhaupt nicht ähnlich. Jill war größer gewesen und blond und ihre Schönheit hatte fast etwas Strenges an sich gehabt. Sie hatte ein wenig wie Kris ausgesehen, fand er jetzt, wo er darüber nachdachte. Komisch, dass ihm das vorher nie aufgefallen war.
Abby, kleiner und dunkelhaarig, ähnelte äußerlich weder Jill noch Kris. Trotzdem war sie nicht unattraktiv. Ihre Augen, erinnerte er sich, waren haselnussbraun, und ihre Haut sehr glatt. Sie hatte ganz leichte Sommersprossen auf Nase und Wangen. Ihre Lippen waren perfekt geformt. Sie hatte einen Kussmund, würde man wohl sagen.
Nein, sie sah Jill eigentlich nicht ähnlich. Aber warum erinnerte sie ihn dann an sie? Vielleicht weil sie, ebenso wie Jill, nett zu ihm gewesen war. Sie hatte gelächelt und mit ihm geplaudert. Sie war freundlich gewesen. Genau wie Jill – zumindest in der Frühphase ihrer Beziehung.
Später, als er mehr wollte und ihr seine Gefühle offen zeigte, da hatte Jill ihn zurückgewiesen. Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Er fragte sich, ob Abby sich auch so verhalten würde. Hoffentlich nicht. Er wollte nicht, dass es mit ihr so hässlich endete wie mit Jill.
Zum Schluss war er ihretwegen ein bisschen durchgedreht. Er hatte jetzt genug Abstand und war reif genug, das zu erkennen. Die Sache mit der Säure zum Beispiel. Das war wirklich nicht nötig gewesen.
Es war gewöhnliche Batteriesäure, die er in einem Schraubglas gesammelt hatte. Er erinnerte sich noch, wie er an der Schauspielschule auf Jill gewartet hatte. Er hatte beobachtet, wie sie sich von den anderen Schülern verabschiedete und die dunkle Seitenstraße entlanglief, in der ihr Auto stand. Und dann, als sie nur noch wenige Meter von dem Wagen entfernt war und die Schlüssel in ihrer Hand klimperten …
Da war er aus seinem Versteck aufgesprungen. Hatte ihr die Säure entgegengeschleudert. Er sah noch immer vor sich, wie die Flüssigkeit in der Luft einen Bogen beschrieb.
Er hatte es auf ihr Gesicht abgesehen. Er wollte sie entstellen, sie blenden. Er wollte ihr etwas so Schreckliches, so Unabänderliches antun, dass sie es niemals vergessen würde.
Aber es war fehlgeschlagen. Sie hatte wohl eine Bewegung gesehen und sich unwillkürlich umgedreht. Die Säure war auf ihren Mantel gespritzt und hatte ihn ruiniert, aber sonst keinen Schaden angerichtet.
Er war davongerannt und hatte sein Pech verflucht. Anschließend hatte er diesen Moment jahrelang immer wieder durchlebt und sich gewünscht, er könnte es noch einmal versuchen. Eine Zeit lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, sie ausfindig zu machen – er nahm an, sie war nach Wisconsin zurückgekehrt – und ihr etwas anzutun. Sie vielleicht zu entführen, sie in den Wald zu verschleppen.
Jetzt war er aber über die Sache hinweg. Er empfand nichts mehr für Jill. Er dachte kaum noch an sie. Nicht mehr, seit er Kris begegnet war. Sie war die Richtige für ihn, die Einzige. Jill war nicht in der gleichen Liga. Und Abby auch nicht, bei Weitem nicht.
Aber trotzdem, Abby hatte ihn so lieb angelächelt …
Fasziniert betrachtete er sie. Sie lag auf der Seite, ihm zugewandt. Im Mondlicht wirkte ihre Haut wie Porzellan. Eine feine Haarsträhne hing ihr in die Stirn und flatterte leicht in der Brise ihres Atems.
In gewisser Weise war sie sogar noch hübscher als Jill. Natürlich wäre sie nicht mehr ganz so hübsch, wenn ihr Gesicht mit Säure verätzt würde.
Er glaubte aber nicht, dass es dazu kommen würde. Nein, wirklich nicht.
Aber man konnte nie wissen.