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Scheinwerfer.

Ihr Licht fiel auf die Rampe der Tiefgarage. Ein weißer Kleinwagen hielt am Tor und der Fahrer streckte einen Arm aus, um die Schlüsselkarte in den Schlitz zu schieben.

Hickle ging ganz nah ans Fenster. Ein so kleiner Wagen, nicht mehr ganz neu. Er passte nicht in dieses Viertel. Durch das Zielfernrohr konnte er schwarzes Haar und einen blassen Unterarm erkennen. Vielleicht Abby. Sicher war er nicht. Ihren Wagen kannte er nicht, denn er hatte ihn nie auf dem Parkplatz des Gainford Arms oder sonst wo gesehen.

Das Tor öffnete sich, und der Wagen rollte die Rampe hinab in die Garage.

Er hatte so ein Gefühl, dass es Abby war. Der Wagen sah eigentlich zu ramponiert aus, um einem Bewohner des Wilshire Royal zu gehören. Es hätte natürlich eine Putzfrau sein können, aber würde die an einem Samstagmorgen um acht kommen? Außerdem kamen ihm die dunklen Haare bekannt vor.

Es war Abby. Sie musste es sein.

»Sie ist zu Hause«, flüsterte Hickle.

 

Abby fuhr an das Tor der Tiefgarage heran. Sie war sich der Gefahr bewusst, dass Hickle in der Nähe lauern und auf sie schießen könnte, sobald sie anhielt, um das Tor zu öffnen. Sie konnte zwar zurückschießen, aber sie wäre auf jeden Fall in der schwächeren Position. Schließlich war ihr Dodge nicht gepanzert wie Travis‘ Firmenwagen.

Während sie mit der linken Hand die Schlüsselkarte in den Schlitz schob, hielt sie in der rechten ihre Smith & Wesson. Sie wünschte sich fast, er würde losfeuern.

Aber das Tor öffnete sich ohne Zwischenfall und sie steuerte den Wagen die Rampe hinunter.

Er konnte auch in der Tiefgarage auf der Lauer liegen. Vielleicht versteckte er sich hinter einem Betonpfeiler oder in einem Wagen. Vielleicht wartete er, bis sie ausstieg, um sie in der Neonbeleuchtung besser sehen zu können.

Sie parkte auf ihrem angestammten Platz, hängte sich die Handtasche an die Schulter, hielt die Pistole nach unten und stieg rasch aus. Nachdem sie die Tür zugeschlagen hatte, verharrte sie noch einen Moment und lauschte dem verhallenden Schlaggeräusch. Langsam bewegte sie sich vorwärts. Die Augen weit aufgerissen, huschte ihr Blick von Schatten zu Schatten.

Sie sah keine Bewegung. Es fiel kein Schuss.

Auf dem Weg durch das Betongewölbe blieb sie wachsam. Sie rief den Aufzug und fuhr in den neunten Stock. Die Waffe hatte sie in die Tasche gesteckt, den Finger aber immer noch am Abzug.

Mit einem Zischen öffnete sich die Aufzugtür. Sie blickte sich im Flur um, bevor sie Richtung Wohnung ging. Dort vermutete sie Hickle am ehesten. Sie duckte sich unter den Spion und drehte vorsichtig am Türknauf. Abgeschlossen. Das bewies nichts. Aber wäre die Tür unverriegelt gewesen, sähe die Sache anders aus. Bei der Durchsuchung von Hickles Wohnung hatte sie weder Schlosserwerkzeug noch Bücher übers Schlösserknacken gefunden. Sie hatte keinen Grund anzunehmen, dass er sich damit auskannte.

Trotzdem war sie aufs Äußerste angespannt, als sie ihren Schlüssel raussuchte und die Tür aufschloss. Sie zog die Waffe aus der Tasche und hielt sie vor sich. Falls plötzlich ein Nachbar auf den Flur hinauskam, hätte sie einiges zu erklären.

Aber das Gefährlichste kam erst noch: der Moment, in dem sie die Wohnung betrat. Welcher Empfang würde sie erwarten?

 

Hickle legte die Mündung an das Loch in der Glasscheibe, schob den Lauf aber nicht hindurch. Wenn der Schuss im Innern des Gebäudes losging, wäre er leicht gedämpft. Sorgsam zielte er auf den Balkon, die Glastür, die Vorhänge.

Er würde warten, bis sie die Vorhänge aufzog. Lange konnte es nicht dauern.

Und wenn sie mitten in der Schusslinie stand, vergrößert durch das Zielfernrohr, würde er ganz leicht auf den Abzug drücken und einen Sekundenbruchteil später wäre Abby für immer ausgelöscht.

 

Abby stieß die Tür auf, stürmte mit einer schnellen Drehbewegung in die Wohnung und duckte sich vor eventuellen Kopfschüssen.

Die Schüsse blieben aus. Sie schloss die Tür, berührte aber nicht den Lichtschalter daneben. Das Wohnzimmer lag im Dunkeln. Da sie Vertrauen in die Sicherheitsvorkehrungen des Royals hatte, hatte sie sich noch nie die Mühe gemacht, ihre Lampen an Zeitschaltuhren anzuschließen. Sie war froh, dass es dunkel war. Denn sollte sich Hickle irgendwo verstecken, während sie mitten im Zimmer stand, dann wäre das Licht ihr Feind.

Sie kramte in ihrer Handtasche nach der erstaunlich hellen Minitaschenlampe, die sie immer dabeihatte. Für den Fall, dass Hickle darauf schießen würde, hielt sie sie möglichst weit weg, bevor sie sie anschaltete.

Sie schwenkte die Lampe im Zimmer hin und her und der Strahl fiel auf vertraute Dinge wie ihr Sofa und den Sessel, ihre Plüschtiere, die Stereoanlage und den Fernseher. Soweit sie beurteilen konnte, war alles an seinem Platz und nichts beschädigt.

Hickle war nicht hier. Und er war auch nie hier gewesen.

Eigentlich sollte sie froh sein. Kein Psychopath in ihrer Wohnung, das war doch ein Grund zum Jubeln, oder? Aber sie wusste, irgendetwas stimmte nicht. Sie stand in ihrem dunklen Wohnzimmer, die Taschenlampe nach unten gerichtet, die Waffe gezückt, und überlegte. Hickle hatte ihr nicht am Garagentor aufgelauert, nicht in der Garage selbst und auch nicht in ihrer Wohnung.

Also, wo steckte er?

Sie versuchte, sich in ihn hineinzuversetzen. Er war wütend und verzweifelt. Er hatte eine Schrotflinte und es juckte ihn in den Fingern. Seine Fantasievorstellung, wie er abdrücken und Kris in die Hölle befördern würde, hatte er nicht verwirklichen können. Er wollte eine zweite Chance.

Aber die Schrotflinte war nicht seine erste Wahl gewesen. Zuerst hatte er sich die Büchse zugelegt. Sie mit Zielfernrohr und Laservisier ausgestattet. Letzte Nacht, als sie in seine Wohnung eingestiegen war, um die Wanzen zu entfernen, da hatte sie die Büchse nicht im Schrank gesehen. Er musste sie mitgenommen haben, zusammen mit der Flinte. Und er hatte sie immer noch bei sich.

Die Flinte war nur auf kurze Entfernung zielsicher, aber die Büchse war mit ihrem Fernrohr und dem Laservisier für weit entfernte Ziele konzipiert. Für absolute Treffsicherheit. Die ideale Waffe für einen Scharfschützen.

Ein Scharfschütze …

Ihr Blick wanderte zur Balkontür und den geschlossenen Vorhängen.