14

 

Gegen zwei richtete Kris ihr Haar, strich ihre Kleidung glatt und bat Steve Drury, den Lincoln aus der Garage zu holen, um sie zum Studio zu bringen. »Wir fahren heute früher.«

Sie fand Howard im Spieleraum, wo er auf dem Golfsimulator zum Schlag ansetzte. »Wie war das Joggen?«

»Ich bin nicht gegangen.«

»Ach, nein?«

»Ich hatte keine Lust. Du weißt doch, wie das ist, wenn man keine Lust hat, oder?«

Das war alles, was sie zu ihrem nicht vollzogenen Liebesakt sagte. Sie wollte ihn damit verletzten, aber falls es ihr gelungen war, ließ er es sich nicht anmerken. Nur sein konzentriertes Stirnrunzeln vertiefte sich, während er den Golfball fachmännisch ins Loch puttete. Künstlicher Applaus ertönte blechern aus einem versteckten Lautsprecher. Das Green veränderte automatisch seine Oberfläche, um eine neue Situation zu simulieren. Diesmal war es eine leichte Steigung.

Howard Barwood liebte Spiele. Der Spieleraum war seine Idee gewesen und fast alles, was sich darin befand, hatte er gekauft: Flipper, Musikbox, Virtual-Reality-Spielsystem, Billardtisch, Kicker, Craps-Würfeltisch und einen ganzen Fuhrpark ferngesteuerter Autos. Er hatte über fünfzigtausend Dollar für diese und ähnliche Spielereien ausgegeben, ganz zu schweigen von den sechzigtausend, die er gerade erst für den neuen Lexus LS 400 hingelegt hatte, mit dem er allnächtlich seine ausgedehnten Spritztouren unternahm.

Teures Spielzeug für einen Mann, der nie ganz erwachsen geworden war. Gerade diese Jungenhaftigkeit hatte ihr früher an ihm gefallen. Jetzt fand sie sie nicht mehr ganz so reizend.

»Ich bin heute einfach Spitze«, sagte er und ging für den nächsten Schlag in Stellung. »Diese Trottel vom County Club nehmen sich besser in Acht.«

Kris versuchte ein Lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Vielleicht solltest du bei der Seniors-Tour mitmachen.«

»Vielleicht tue ich das sogar.«

»Ich werde Courtney bitten, auf dem Kaminsims Platz für deine Trophäe zu schaffen.« Sie ging Richtung Treppe, drehte sich aber noch einmal um, weil ihr wieder eingefallen war, was sie ihm eigentlich sagen wollte. »Ich fahre jetzt zur Arbeit.«

Zum ersten Mal schaute er von seinem Spiel auf. »So früh?«

»Ich habe noch etwas zu erledigen, bevor ich ins Studio gehe.«

»Kann das nicht Courtney machen? Das ist ihr Job.«

»Es ist etwas Persönliches.« Unter anderen Umständen hätte sie ihm vielleicht verraten, um was es ging, aber nicht nach letzter Nacht. Sie hatte ihm die Hand gereicht und er hatte sie zurückgewiesen. Nun, er wurde seiner Spielzeuge immer müde, wenn der Reiz des Neuen verflogen war. Selbst die kostspieligsten Anschaffungen büßten nach einer Weile ihren Glanz ein.

Als sie durch den Vorgarten ging, wartete der Lincoln bereits mit laufendem Motor in der Auffahrt. Steve hielt ihr die Fondtür auf, setzte sich ans Steuer und legte den Gang ein.

»Ich möchte heute mal eine andere Strecke fahren«, sagte sie, als sie das Einfahrtstor der Reserve erreichten.

»Über den Ventura Freeway geht’s aber am schnellsten.«

»Trotzdem fahren wir Richtung Süden. Wir haben doch Zeit.«

Er nickte und stellte keine Fragen.

Kris schwieg, bis sie nach Hollywood kamen. Dann bat sie ihn, einen Umweg zu fahren. »Fahren Sie an Hickles Wohnung vorbei.«

Sie beobachtete Steves Blick im Rückspiegel. Seine Augen verengten sich ein wenig. »Ich halte das für keine so gute Idee, Kris.«

»Sie haben sicher recht, aber tun Sie’s trotzdem.«

»Das verstößt aber gegen meine Vorschriften. Ich könnte Ärger kriegen …«

»Nein, keine Sorge.«

»Wenn Travis das rauskriegt, bin ich geliefert.«

»Falls Travis es jemals herausfindet, rede ich mit ihm. Aber das wird nicht nötig sein, weil wir beide dichthalten. Also los.«

»Okay … aber warum?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht.«

Steve fuhr über den Santa Monica Boulevard und bog nach Süden auf die Gainford Street ab, wo Hickle wohnte. »Hier ist es«, sagte er und ließ den Wagen langsam durch die Straße rollen. Kris betrachtete das Gainford Arms, einen heruntergekommenen Wohnkomplex aus den Dreißigerjahren – das Glas an der Eingangstür von Vandalen zerkratzt, Reihen schmutzig aussehender kleiner Fenster, schlichte Ziegelmauern.

Schön gealterte chinesische Feigenbäume säumten die Straße. Ansonsten hatte sie überhaupt nichts Schönes an sich. Kris sah einen Obdachlosen, der einen Einkaufswagen voller alter Zeitungen und anderem Müll vor sich herschob. Er passte in die Umgebung.

Dies war Hickles Welt. Sie dachte an Abby Sinclair, die in der nächsten Zeit ebenfalls hier wohnen würde. Ob sie ihn schon ein bisschen kennengelernt hatte? Dazu war es wohl noch zu früh. Wahrscheinlich würde sie schon eine Woche brauchen, nur um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie irgendetwas Nützliches herausfand? Dieses ganze Vorhaben schien ziemlich hoffnungslos. Kris hatte nur aus Verzweiflung zugestimmt. Howard fürchtete um Abbys Sicherheit, aber Kris war längst darüber hinaus, sich um andere Leute Sorgen zu machen. Sie wurde nur von ihrem Selbsterhaltungstrieb geleitet, vollkommen egoistisch. Um sich selbst zu retten, würde sie jedes Risiko in Kauf nehmen.

»Genug gesehen?«, fragte Steve, während sie Hickles Wohnblock hinter sich zurückließen.

»Ja, es reicht. Fahren wir auf den Freeway.«

Als Steve um die Ecke bog, sah sie sich noch ein letztes Mal um. Die Gegend erinnerte sie an Viertel, in denen sie als junge Reporterin gewohnt hatte. Wahrscheinlich wohnte Hickle dicht an dicht mit lauten Nachbarn, es kam oft kein Wasser aus der Leitung und durch seine Küchenschränke kroch Ungeziefer. Im September und Oktober, den besonders heißen Monaten, würde sich die Wohnung in einen Backofen verwandeln und er würde nachts in der Bruthitze kein Auge zu tun. Tag für Tag würde er zur Arbeit fahren, für die er nicht mehr als den Mindestlohn bekam, und wissen, dass es nichts gab, für das es sich lohnte nach Hause zu kommen.

Sie war überzeugt, dass er unglücklich war, und empfand Genugtuung bei dem Gedanken.

 

»Sie haben keinen Termin, Miss Sinclair.« Rose, Travis’ Assistentin, sah lächelnd von ihrem Schreibtisch auf und genoss den Moment der Macht.

Abby musste sich beherrschen, um nicht einfach um Rose’ Schreibtisch herumzulaufen und in Travis’ Büro zu stürmen. »Nein, ich weiß. Aber ich habe wichtige Informationen für Ihren Chef.«

»Vielleicht könnte ich ihm etwas bestellen.«

»Vielleicht könnten Sie ihn auch schön bitten, seinen Hintern in Bewegung zu setzen und rauszukommen.«

Rose gab nach. »Ich sehe mal, ob er Zeit hat«, sagte sie mit tonloser Stimme, musste aber noch einmal sticheln: »Normalerweise bestehen wir darauf, Termine im Voraus zu vereinbaren.«

Abby zuckte mit den Schultern. »Tja, anscheinend breche ich alle Regeln.«

Sie wartete geduldig auf Travis. Irgendwo spürte sie, dass sie müde war, wollte es sich aber nicht eingestehen. Sie hatte einfach zu viel vor.

Nachdem sie die Wanzen in Hickles Apartment untergebracht hatte, hatte sie in ihrer eigenen Wohnung die Überwachungsgeräte aufgestellt, über die sie die Signale empfangen würde. Ein später Lunch im Stehen in ihrer Küche hatte sie leicht belebt. Um halb vier war sie aus dem Haus gegangen und nach Century City gefahren. Aber vor fünf musste sie wieder zurück sein, denn für den Abend hatte sie Pläne.

Schließlich kam Travis aus seinem Büro, wie immer in marineblauer Jacke mit offenem Hemd und beigefarbener Hose. »Was gibt’s denn? Brauchst du noch ein paar Geburtsdaten?«

»Nein, diesmal nicht.«

»Was hatte es damit überhaupt auf sich?«

»Ich musste ein Zahlenschloss aufkriegen.«

»Ach so, das hättest du aber auch sagen können.«

»Es hat mir Spaß gemacht, dich im Dunkeln tappen zu lassen. Komme ich etwa ungelegen?«

»Ich habe nur gerade mein tägliches Gespräch mit dem Leiter unserer Finanzabteilung. Er rechnet mir jede Woche genau vor, um wie viel unser Schuldenberg gewachsen ist. Darauf kann ich gut verzichten.«

»Können wir irgendwo ungestört reden?« Sie wollte nicht, dass Rose mithörte.

Travis führte sie über den Flur zu einem Konferenzraum. Seestücke und Landschaftsbilder von grünen Wiesen zierten die mahagonigetäfelten Wände – unverfängliche, harmlose Motive, die auf die von allerlei Krisen nervlich zerrütteten Klienten beruhigend wirken sollten. Sie fragte sich, wie oft sich wohl schon berühmte und mächtige Leute in diesem Raum eingefunden hatten, um bei ihrem Beschützer, dem Mann mit dem marineblauen Blazer und den beigefarbenen Slacks, Trost zu suchen.

Travis schloss die Tür und Abby setzte sich auf die Kante des langen Tischs und ließ einen Fuß hin- und herbaumeln. Sie sah ihr Spiegelbild in der lackierten Tischplatte und dachte, obwohl es wirklich nebensächlich war, dass sie sich etwas besser hätte kleiden können. Ihre verwaschene Bluse und die Jeans wirkten in diesem Raum ausgesprochen schäbig.

»Also«, begann sie, »es ist so … Das erwähnte Zahlenschloss befand sich in Hickles Wohnung. Ich war da, um eine Kamera und Wanzen anzubringen und ein bisschen rumzuschnüffeln. Ich habe einen Stapel Polaroids gefunden. Bilder von Kris, wie sie am Strand joggt. In verschiedenen Outfits. Er muss sie mindestens dreimal beobachtet haben. Ich vermute, Kris geht am Strand direkt vor ihrem Haus joggen?«

Travis ließ sich mit der Antwort Zeit. Anscheinend hatte er Schwierigkeiten, die Nachricht richtig zu begreifen. »Ja, jeden Tag. In Begleitung eines Leibwächters, aber der folgt meistens mit etwas Abstand.«

»Auf den Fotos ist kein Leibwächter zu sehen. Er war wohl zu weit weg, aber ist auch egal. Wenn Hickle auf sie geschossen hätte, hätte er sowieso nichts ausrichten können.«

»Hat er eine Waffe?«

»Mindestens zwei. Eine zwölfkalibrige Schrotflinte und eine halb automatische Jagdbüchse. Die Büchse ist mit Zielfernrohr und Laservisier ausgestattet, aber anscheinend bevorzugt er die Schrotflinte.«

»Ein Laservisier …« Travis ging zum breiten Fenster und starrte mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf hinaus. Er sah erschöpfter aus als jemals zuvor. »Also du meinst, es ist ihm wirklich ernst?«, fragte er ruhig.

»Ich gehe davon aus, dass er es todernst meint. Möglicherweise hat er schon mal eine Frau überfallen, die er vorher ebenfalls gestalkt hatte.«

»Was?«

Sie erzählte ihm von Jill Dahlbeck. »Aber wir wissen nicht, ob wirklich Hickle hinter diesem Anschlag steckte«, fügte sie hinzu. »Und selbst wenn, es sah nicht nach einem Mordversuch aus. Außerdem hat er sich so ungeschickt angestellt, dass nur Jills Mantel Schaden davongetragen hat. Abgesehen von dem seelischen Schaden natürlich.«

»Ja …«, sagte Travis abwesend. Sobald sie über Gefühle redete, blendete er sie einfach aus, wie sie wusste. »Ausschlaggebend ist, dass er die Frau überfallen hat. Das beweist, dass er fähig ist, seine Fantasien in die Tat umzusetzen.«

»Aber damals war er jünger und möglicherweise auch leichtsinniger. Vielleicht ist er jetzt vorsichtiger. Das wissen wir nicht.«

»Aber wir wissen, dass er so nah an Kris rangekommen ist, dass er hätte zuschlagen können.« Travis atmete hörbar aus. »Wie konnte er ihr nur so nah kommen? Die Sicherheitsvorkehrungen in der Malibu Reserve sind sehr streng: Das Gelände ist umzäunt, es gibt eine Pförtnerloge mit zwei Wachleuten und zwei weitere patrouillieren ständig durch die ganze Anlage.«

»Hast du den Zaun überprüft? Kommt man da irgendwie durch?«

»Natürlich haben wir den Zaun überprüft. Das war das Erste, was wir gemacht haben. Er ist aus dickem Stahldraht und oben mit Rollen aus NATO-Draht verstärkt.«

»Draht kann man durchschneiden.«

»Wir haben keine Lücken gefunden.«

»Haben deine Leute in letzter Zeit noch mal nachgesehen?«

»Jeden Tag.« Er wandte sich vom Fenster ab und lief im Kreis durch den Raum.

Ihr Blick folgte seinem Spiegelbild, das über die glänzende Oberfläche des Tischs huschte. »Am besten lässt du den Zaun noch mal überprüfen, aber ganz sorgfältig«, sagte sie. »Gibt es noch andere Möglichkeiten, in die Anlage hineinzukommen?«

»Das Tor, aber das wird immer bewacht.«

»Was ist mit Lieferwagen, Besuchern, Handwerkern und so? Werden die genau überprüft?«

»Die meisten Wachleute dort sind ehemalige Polizisten. Die sind ziemlich auf Draht. Außerdem hängt in der Pförtnerloge Hickles Foto. Ich glaube nicht, dass er an denen vorbeikäme.«

»Und was ist mit dem Strand? Der kann doch nicht total abgeriegelt sein. Jenseits der Flutmarke ist der Strand öffentliches Eigentum – wie überall in Kalifornien.«

»Stimmt, an der Grenze des Privatstrands gibt es einen Zaun, allerdings reicht der nicht sehr tief ins Wasser. Um den kommt man problemlos herum. Aber auch darum haben wir uns gekümmert. Am Zugangsweg zum Strand haben wir eine versteckte Kamera installiert, deren Signal zum Gästehaus der Barwoods gesendet wird. Unsere Leute dort haben ständig ein Auge darauf.«

»Vielleicht haben sie nicht richtig aufgepasst.«

»Einmal mag sein, aber nicht gleich dreimal.«

»Nun, wie auch immer, Hickle ist irgendwie hineingekommen. Und er kann es wieder schaffen. Und nächstes Mal hat er vielleicht statt der Kamera eine Waffe dabei und dann …«

Travis wandte seinen Blick ab. »Devin Corbal, zweiter Teil.«

Abby zuckte zusammen. »So hätte ich es nicht ausgedrückt.«

»Tut mir leid. Aber du weißt, was ich meine.«

»Ja.«

Die Klimaanlage surrte und irgendwo unten heulte eine Sirene vorbei. Abby überlegte, ob sie den Überfall erwähnen sollte. Schließlich wäre sie dabei fast ums Leben gekommen.

Aber sie entschied sich dagegen. Denn sie hatte keine Ahnung, was es damit auf sich hatte oder ob es überhaupt irgendetwas mit dem Fall Barwood zu tun hatte. Außerdem wollte sie nicht, dass Travis seine Entscheidung, sie hinzuzuziehen, im Nachhinein bereute. Er sollte nicht denken, dass sie dem Fall nicht gewachsen war. Dass sie darin unterging … sozusagen.

»Es wird nicht so enden wie bei Corbal«, sagte sie. »Das lasse ich nicht zu.«

»Ich wollte damit nicht andeuten …« Seine Worte verebbten.

Aber sie beendete den Satz für ihn. »Dass ich für das, was Corbal zugestoßen ist, verantwortlich bin?«

»Das bist du auch nicht, Abby.«

»Vielleicht nicht, aber tot ist er trotzdem. Und du triffst dich jeden Tag mit deinem Finanzchef, um dir auszurechnen, wie du die Firma mit möglichst wenig Personal am Laufen halten kannst, und manchmal habe ich eben verdammt noch mal das Gefühl, dass das alles meine Schuld ist.«

»Ich habe dir schon mal gesagt, du bist zu hart mit dir selbst. Vergiss einfach, dass ich Corbal erwähnt habe, okay?«

»Klar, schon vergessen.« Aber das stimmte nicht. Sie konnte es nicht vergessen.

»Hast du sonst noch was für mich?«

»Jede Menge, aber das muss warten.« Sie sprang vom Tisch und warf sich die Handtasche über die Schulter. »Mach du nur weiter mit deiner Zahlenakrobatik. Ich muss zurück nach Hollywood. Ich habe heute Abend was ganz Großes vor.«

»Ach ja?«

Abby nickte. »Hickle weiß es noch nicht, aber wir haben heute Abend ein Date.«