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Hickle beobachtete sie, wie sie lief.
Er war fasziniert von ihrem Haar. Wild zerzaust, lang und blond wehte es wie ein Kometenschweif in der Meeresbrise. Als würde ihr ein goldenes Feuer folgen.
Sie rannte jetzt direkt an ihm vorbei. Instinktiv zog er sich etwas weiter in den Schatten des Laubdachs zurück, das ihn verbarg.
Ihre Beine arbeiteten hart. Ihre nackten Füße wirbelten den Sand auf und mit jedem Atemzug schwoll ihr flacher Bauch leicht an. Selbst auf zwanzig Meter Entfernung konnte er den Schweiß auf ihrer sonnengebräunten Haut glänzen sehen. Sie leuchtete geradezu.
Vor Monaten hatte er sie zum ersten Mal gesehen und da hatte er ihr strahlendes Aussehen für einen Kameratrick gehalten. Aber nachdem er sie nun schon so oft im wirklichen Leben beobachtet hatte, wusste er, es war alles echt. Sie leuchtete tatsächlich. Wie ein Engel. Sie war ein himmlisches Wesen, nur ganz lose mit unserer Welt verbunden.
Bald würde er diese Verbindung durchtrennen. Dann würde sie gar nicht mehr dieser Welt angehören.
Er hätte es auch heute tun können, in diesem Moment, wenn er sein Gewehr dabeigehabt hätte. Aber er hatte keine Eile. Er konnte sie jederzeit töten.
Außerdem genoss er es, sie zu beobachten.
Sie lief weiter den Strand entlang, gefolgt von ihrem Leibwächter. Der war immer dabei, wenn sie joggen ging, und nicht ein einziges Mal hatte er in die schmale Lücke zwischen den beiden Strandhäusern geschaut, wo ein Spalier aus Bougainvillea einen so tiefen Schatten warf, dass sich ein Mann in der Hocke darunter verbergen konnte.
»Du solltest dein Leben nicht in seine Hände geben, Kris«, flüsterte Hickle. »Du wiegst dich in Sicherheit, doch wenn du wüsstest …«
Es gab nur Sonne, Gischt und blauen Himmel. Den Schwung ihres Körpers, den Rhythmus ihrer Schritte im Sand. Ihren Atem, ihren Herzschlag.
Das war alles. Nichts anderes zählte. Nur dieser Augenblick. Ein Augenblick, der völlig losgelöst von ihrem übrigen Leben war. Ein Augenblick, in dem sie nicht an Gefahren denken musste, an Sicherheitsmaßnahmen, an den Leibwächter, der ihr mit ein paar Schritten Abstand folgte, an den Kommandoposten im Gästehaus auf ihrem Grundstück …
Ach, verdammt.
Kris Barwood wurde langsamer. Die Gedanken waren wieder da, ihre Stimmung dahin.
Ihr tägliches Fitnessprogramm, ein gut sechs Kilometer langer Lauf an einem halbprivaten Strand entlang, der an die Malibu Reserve grenzte, war ihre einzige Erholung von der ständigen Angst und dem Stress der Überwachung. Am Strand hatte sie sich schon immer sicher gefühlt. Es war ein ganz besonderer Ort. Hier spielten Leute mit ihren Hunden und ließen in der salzigen Brise Drachen steigen. Auf der einen Seite lag der Pazifik mit seinen wellengepeitschten Felsen, auf der anderen standen Reihen makellos schöner Häuser, von denen einige, nur wenige Schritte von der Flutmarke entfernt, über den Luxus eines Swimmingpools verfügten. Die Häuser waren schmal, erstreckten sich jedoch weit nach hinten hinaus. Auch wenn sie eigentlich viel zu dicht standen, fühlte man sich hier recht ungestört, und laute Partys waren selten. Die meisten Hausbesitzer waren beruflich stark eingespannt. Sie wollten sich zu Hause entspannen, so wie sie selbst früher. Aber nun gab es für sie keinen Ort mehr, an dem sie sich entspannen konnte.
»Kris? Alles in Ordnung?«, fragte ihr Leibwächter Steve Drury, ein netter junger Mann mit Schwimmerfigur und sonnengebleichtem Bürstenhaarschnitt. Wenn sie zusammen joggten, trug er Shorts, ein T-Shirt und eine Bauchtasche mit Reißverschluss, in der sich eine Neun-Millimeter-Beretta befand.
Sie merkte, dass sie stehen geblieben war. »Ja«, sagte sie, »ich habe nur nicht so viel Energie wie sonst.«
»Das holen wir morgen wieder auf. Dann laufen wir drei Kilometer mehr, okay?«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Okay.«
Sie liefen durch den Sand zu ihrem Haus, einem modernen zweistöckigen Kasten mit großen Fenstern, die Malibus magisches Licht hineinließen. Steve benutzte die Außendusche, während sie über die obere Veranda ins Haus ging, um ihren Mann nicht in seinem Spielzimmer zu stören, wo er viel zu viel Zeit mit seinem teuren Spielzeug verbrachte, Flipperautomaten, Modelleisenbahnen, ferngesteuerten Autos und vor allem seinem heiß geliebten Golfsimulator. In letzter Zeit schien er sich mehr für dieses Zeug zu interessieren als für sie.
Ihr Schlafzimmer lag nach hinten hinaus im zweiten Stock und bot einen Blick auf das Meer und die geschwungene Küstenlinie. Kris zog sich aus und stellte die Dusche an. Unter dem dampfend heißen Wasserstrahl wusch sie ihr langes, blondes Haar.
Edward, ihr Haarstylist, hatte schon mehrmals angedeutet, dass sie langsam in ein Alter kam, in dem eine Kurzhaarfrisur passender wäre. Schließlich musste sie ihn bitten, damit aufzuhören. Sie mochte ihre langen Haare. Außerdem war vierzig nun wirklich kein Alter. Und normalerweise ging sie für fünfunddreißig durch. Nur in direktem Sonnenlicht waren ihre Krähenfüße zu sehen, die Falten um die Mundpartie, das leichte Absacken der Wangen. Im Studio wurde sie mit weich gefiltertem Licht aufgenommen und Jahr für Jahr trug sie die Schminke dicker auf.
Sie hasste es, sich um ihr Aussehen sorgen zu müssen. Das war so oberflächlich und dumm. Schließlich hatte sie viel mehr zu bieten. Sie konnte mit Kameras und Tonausrüstung ebenso gut umgehen wie mit den Geräten im Schneideraum, sie konnte ihre eigenen Texte schreiben und aus dem Stegreif eine plötzlich hereinkommende Sondermeldung präsentieren. Allerdings waren diese Fähigkeiten in ihrer derzeitigen Position kaum gefragt. Ob es ihr passte oder nicht, sie war zu einem Fernsehstar geworden.
In einen Bademantel gewickelt, trocknete und bürstete sie ihr Haar vor dem großen Spiegel über dem Marmorwaschtisch im Bad. Aus dem Spiegel sah sie ein Gesicht mit markanten nordischen Zügen an – Kris Andersen war ihr Mädchenname. Ihre blaugrauen Augen wirkten auf seltsame Weise größer und ihr Blick intensiver als bei anderen Menschen. Ihre Zähne waren strahlend weiß und vollkommen ebenmäßig. Außerdem war sie in der Lage, auf unterschiedlichste Weise zu lächeln; einer der vielen Tricks, die zu ihrer Attraktivität beitrugen. Wenn die Zuschauer das Interesse an ihr verlieren würden, wäre es aus mit ihr, das wusste sie. Aber es gab einen Zuschauer, auf dessen Aufmerksamkeit sie gern verzichtet hätte …
Sie erstarrte plötzlich, die Bürste bewegungslos in der Hand.
Im Schlafzimmer hatte sie ein Geräusch gehört. Ein kaum vernehmbares Rascheln. Vielleicht war es Steve oder Courtney, ihre Haushälterin. Aber so unwahrscheinlich es auch schien, sie war überzeugt, dass er es war.
Sie hörte es wieder, ein winzig leises Geräusch. Stoff, der sich an Stoff rieb.
Sie drehte sich um. Die Bürste war ihre einzige Waffe. Obwohl es lächerlich war, hielt sie die Bürste wie einen Knüppel in der erhobenen Hand. Sie trat aus dem Badezimmer, ihr Blick schoss hin und her, und da war er. Vor der Fensterfront. Seine Silhouette zeichnete sich vor dem Lamellenvorhang ab …
»Kris? Alles in Ordnung?«
Alle Anspannung wich von ihr, als sie Howards Stimme hörte. Sie ließ die Bürste auf den Boden fallen. »Verdammt«, flüsterte sie. »Tu so was nicht noch mal.«
»Was habe ich denn getan?«
Sie schüttelte den Kopf und überging die Frage. »Ich dachte, er wäre es«, war alles, was sie sagte.
Ihr Mann kam auf sie zu und nahm ihre Hand. »Ach komm, das ist doch verrückt.«
»Ich habe draußen jemanden gehört. Ich dachte, es wäre … nun ja, er hätte ja …«
»Nein, hätte er nicht. Unmöglich.«
Rein rational betrachtet hatte Howard wahrscheinlich recht. Aber wie sollte sie ihm nur begreiflich machen, dass sie kaum noch rational denken konnte, wenn sie ständig Angst hatte, unter Albträumen litt und bei jedem ungewöhnlichen Geräusch oder vorbeihuschenden Schatten zusammenzuckte und sich panisch umsah?
»Du hast recht«, sagte sie mit einem Gefühl innerer Leere. »Ich bin wohl nur etwas überspannt.«
Er hob ihre Bürste auf und legte sie ihr sanft in die Hand, wie einem Kind. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Du musst dir um nichts Sorgen machen.«
»Danke für den Rat. Ist aber nicht so einfach.«
Sein kantiges, sonnengebräuntes Gesicht erstrahlte in einem warmen Lächeln. Seitdem er sich im vergangenen Jahr mit fünfzig zur Ruhe gesetzt hatte, verbrachte er die meiste Zeit zu Hause und aß zu viel. Er hatte einen Fettwulst um die Taille bekommen und sein Hals war feist geworden und wabbelte. »Es ist dir noch nie leicht gefallen, auf andere zu hören«, sagte er. »Im Gegensatz zu mir. Travis hat gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, und deshalb mache ich mir auch keine.«
»Dein Vertrauen ist rührend.«
»Ja, nicht wahr?« Sein Lächeln schwand. »Apropos Travis – wir müssen bald los, sonst kommen wir zu spät zu unserem Treffen.«
»Gib mir nur eine Minute. Ich muss mich noch anziehen.«
»In Ordnung. Siehst du, wie ich spure? Das liegt mir im Blut.«
Er wollte gehen, aber sie hielt ihn auf. »Kannst du in der Zwischenzeit mal im Gästehaus vorbeischauen?«
»Ist das unbedingt nötig?«
»Ich will wissen, ob er angerufen hat.«
»Und wenn ja? Was hast du davon, wenn du es weißt?«
»Ich muss es einfach wissen. Wenn du nicht hingehst, mache ich es eben selbst.«
»Wenn du dir die ganze Zeit Sorgen machst, wozu haben wir dann Travis’ Leute hier?«
»Sie sind nicht da, damit ich mich besser fühle, sondern damit ich am Leben bleibe.«
»Reg dich doch nicht schon wieder auf.«
Sein bevormundender Ton machte sie wütend. »Ich habe allen Grund, mich aufzuregen. Schließlich hat er’s auf mich abgesehen. Oder soll ich mir darüber auch keine Gedanken machen?« Sie wandte sich von ihm ab, plötzlich erschöpft. »Sieh bitte im Gästehaus nach. Ich muss mich anziehen.«
Sie kehrte ins Bad zurück und bürstete weiter ihre Haare durch. Viel heftiger als nötig. Als sie ins Schlafzimmer zurückging, war Howard nicht mehr da.
Sie entschied sich für einen Hosenanzug. Im Studio zog sie einfach an, was die Stylistin für sie ausgesucht hatte. Meistens etwas Blaues, um ihre Augenfarbe zu betonen.
Sie ging wieder zum Fenster und sah zum Strand hinunter. Es war Ebbe und die Möwen segelten auf launischen Luftströmen auf und ab. Sie wünschte, sie könnte einfach dableiben und den Vögeln zuschauen und müsste nicht zu diesem Treffen, um das Travis gebeten hatte, und müsste sich auch um sonst nichts kümmern, nie mehr.
Mit zweiundzwanzig, als Radioreporterin in Duluth, Minnesota, war ihr Leben viel einfacher gewesen. Sie hatte zwar kein Geld für Essen und Miete gehabt, aber sie war viel zu beschäftigt gewesen, um sich darüber Gedanken zu machen. Vielleicht hätte sie ja in Duluth bleiben und den Juniorchef des Radiosenders heiraten sollen. Manchmal wünschte sie, sie hätte nicht diesen unnachgiebigen Ehrgeiz in sich, der sie zu immer höheren Posten mit noch mehr Geld und noch mehr Druck drängte. Aber tief im Innern hatte sie immer gefürchtet, sie würde einst sterben, ohne jemals Ruhm und Anerkennung erfahren zu haben, vollkommen unbeachtet. Und jetzt, wo sie alles erreicht hatte, was sie wollte, würde sie vielleicht gerade deswegen sterben – wegen eines Mannes, der ihr zu viel Beachtung schenkte.
Das Leben konnte so verworren sein. Ihres zumindest. Aber vielleicht ging es ja allen so.
Unten staubte Courtney gerade die signierten Golfbälle in Howards Vitrine ab. »Sie sitzen bereits im Lincoln«, sagte Courtney. »Mr Drury und Mr Barwood.«
Kris schaute auf ihre Uhr. Sie war spät dran. Und weil Howard sie darauf aufmerksam machen wollte, hatte er Steve aufgetragen, den Wagen aus der Garage zu holen und den Motor anzulassen.
Ein von Rosensträuchern, weißem Oleander und Strelitzien flankierter Weg führte durch den Garten zum Gästehaus, das an die Garage angebaut war. Ein grauer Lincoln Town Car, das Cartier-Modell, wartete mit laufendem Motor in der Auffahrt. Steve Drury saß am Steuer. Der Wagen gehörte ihr zwar, aber das Vergnügen, ihn auch selbst zu fahren, war eines der vielen Dinge, die Hickle ihr genommen hatte.
Steve stieg aus und öffnete ihr die Tür. Er trug Slacks, ein Button-down-Hemd und ein Sakko, unter dem er seine Beretta verbarg. Sie stieg hinten neben Howard ein. Steve setzte sich wieder ans Steuer und drehte die Alpine-HiFi-Anlage auf. Es lief Mozarts Zauberflöte. Sie liebte die Oper, die so beruhigend auf sie wirkte.
Sie fuhren hinaus auf einen schmalen, von hohen Eukalyptusbäumen gesäumten Zufahrtsweg. Die Wachmänner am Tor winkten sie durch. Der Wagen beschleunigte und brauste über den Pacific Coast Highway und die Brücke, die den Malibu Creek überspannte. Ein paar Wasservögel flogen aus der Mündungslagune auf in die Nachmittagssonne.
»Warst du im Gästehaus?«, fragte sie Howard mit tonloser Stimme.
Er blickte sie nur von der Seite an und erwiderte: »Ja, aber es ist nichts Besonderes passiert.«
»Das heißt?«
»Er hat heute Morgen ein paar Mal angerufen. Aber seitdem nicht mehr. Heute Nachmittag war es ruhig. Vielleicht hat er ja das Interesse verloren.«
»Ja, vielleicht.«
Aber sie wusste, Raymond Hickle würde niemals das Interesse an ihr verlieren, solange sie lebte.
Hickle saß am Straßenrand, sein Gesicht unter einem Hut verborgen, und beobachtete, wie der Lincoln durch das Tor der Malibu Reserve fuhr. Als der Wagen auf die Küstenstraße abbog, betrachtete er ihn ganz genau. Er war so nah, dass er im polierten Lack der Beifahrertür sein eigenes Spiegelbild sehen konnte. Durch die leicht getönte Heckscheibe konnte er schemenhaft zwei Gestalten erkennen.
Die Gefahr, dass Kris oder einer der anderen Insassen des Wagens ihn entdeckte, bestand eigentlich nicht. Wie er dort mit gekreuzten Beinen am Straßenrand saß, den Hut tief ins Gesicht gezogen, hätte man ihn für einen der vielen gesichtslosen Obdachlosen halten können, die durch Malibu und andere Städte an der kalifornischen Küste streunten. Er konnte Kris’ Kommen und Gehen beobachten, ohne dass jemand etwas merkte.
Er blickte dem Wagen nach, wie er in der Ferne verschwand. Auch nachdem er schon lange nicht mehr zu sehen war, starrte er immer noch in dieselbe Richtung. Schließlich stand er auf und lief zurück zu seinem eigenen Auto, einem VW Golf, den er in einer Seitenstraße anderthalb Kilometer von der Malibu Reserve entfernt geparkt hatte.
Er hatte nicht vor, Kris hinterherzufahren. Ihr Fahrer war ein Sicherheitsexperte, der darauf trainiert war, Verfolgerfahrzeuge zu erkennen und abzuhängen.
Trotzdem nahm er an, dass er das Studio vor ihr erreichen würde. Sie war früher als sonst losgefahren. Außerdem war die Strecke, die sie genommen hatte – auf der Küstenstraße Richtung Süden nach West Los Angeles –, nicht der direkteste Weg nach Burbank.
Er vermutete, dass sie vor der Sendung noch einen Termin hatte. Der würde sicher mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Wenn sie das Studio erreichte, würde er bereits an der Parkplatzeinfahrt auf sie warten.
Er hatte seine Reisetasche im Wagen. Und darin sein Gewehr. Er stellte sich vor, wie er es halten und seine geschmeidige, glatte Oberfläche spüren, wie er durchladen und abdrücken würde, und dann das angenehme Gefühl des Rückstoßes, während die tödlichen Schrotkugeln in weitem Bogen streuten.
»Blammo!«, sagte Hickle und lächelte.