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Es war kurz vor halb acht abends und bereits vollkommen dunkel, als Abby in Westwood eintraf. Einen Block vor dem Wilshire Royal bog sie in eine Seitenstraße ab und fuhr durch die Hügel des Wohnviertels, um Ausschau nach den gestohlenen Autos zu halten. Auf den meisten Straßen durften nur Anwohner parken. Sie sah auch nur wenige Fahrzeuge und keines der Modelle auf ihrer Liste.
Sie fragte sich, ob sie einfach nur paranoid war. Vielleicht kannte Hickle ihre richtige Adresse gar nicht. Und selbst wenn, hatte er im Moment vielleicht dringendere Sorgen, als sich an ihr zu rächen. Es ging um sein Leben. Er wurde gejagt wie ein Tier. Vielleicht hatte er sich in einem Motel in der Wüste verkrochen oder war schon längst über die Grenze.
Dann schüttelte sie den Kopf, denn ihr wurde bewusst, dass sie versuchte die Gefahr vor sich selbst herunterzuspielen. Sie war einfach müde und wollte sich ausruhen. Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen, hätte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und Musik gehört. Aber sie musste auf ihre Intuition hören, die ihr schon so oft das Leben gerettet hatte.
Und ihre Intuition sagte ihr, dass Hickle sie nicht vergessen hatte. Dass er wusste, wo sie wohnte. Und dass er nicht weit war.
Die Eigentümer des Wilshire Royal waren gar nicht erfreut, als Pläne für einen fünfzehnstöckigen Büroturm direkt gegenüber bekannt wurden. Ihre Prophezeiung, dass das Gebäude den Blick verschandeln und sich negativ auf die Immobilienpreise auswirken würde, hatte sich bewahrheitet.
Ihre Proteste und Petitionen wurden ignoriert und ein hässlicher Klotz mit mattschwarzen Wänden und schmalen, schlitzartigen Fenstern wuchs in die Höhe. Der Schwarze Turm, wie das Gebäude unweigerlich getauft wurde. Doch kurz vor der Fertigstellung hatte das Bauunternehmen Konkurs angemeldet und die Bauarbeiten waren eingestellt worden. Und diejenigen, deren Wohnungen auf die Wilshire Avenue hinausgingen, mussten auf ein dunkles Ungetüm ohne Leben hinausblicken.
Aber an diesem Abend gab es doch Leben im Schwarzen Turm. Warmes, atmendes Leben. Und das stete Schlagen eines geduldigen Herzens.
Hickle wartete und strich über den gehämmerten Lauf und den Walnussschaft seiner Heckler & Koch 770.
Er war seit letzter Nacht hier. Im Kofferraum des gestohlenen Chevrolets hatte er einen Reifenheber gefunden und damit das Tor zur Baustelle aufgebrochen. Dann war er im Licht seiner Taschenlampe neun Stockwerke hochgestiegen und hatte seine Reisetasche mit den beiden Gewehren mitgeschleppt. Im neunten Stock angelangt, war er durch den dunklen Flur zur Vorderseite des Gebäudes gelaufen, wo Reihen verspiegelter Fenster den brausenden Verkehr auf dem Wilshire Boulevard überblickten. Direkt gegenüber befand sich das Wilshire Royal. Travis hatte ihm gesagt, dass Abby in Wohnung 1015 wohnte. Viertes Fenster von rechts. Hickle hatte genau dem Fenster gegenüber Position bezogen. In ihrer Wohnung brannte kein Licht und die Vorhänge waren zugezogen. Aber irgendwann würde sie nach Hause kommen.
Unter den umherliegenden Werkzeugen, die die Arbeiter zurückgelassen hatten, hatte er einen Glasschneider und ein Lineal gefunden und damit eine rechteckige Öffnung in das Fenster geschnitten. Seine Schießscharte.
Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte er das Laservisier der Büchse getestet, das einen langen rot-orangen Strahl entlang der Visierlinie warf. Der Leuchtpunkt war durch das variable Zielfernrohr deutlich zu erkennen. Er konnte den Laserstrahl auf jeden beliebigen Punkt auf Abbys Balkon oder auf den Gardinen hinter ihrem Fenster richten und wo er auftraf, würde eine Kugel folgen und die fünfunddreißig Meter mit einer Geschwindigkeit von sechshundertsiebzig Metern pro Sekunde zurücklegen.
Er hatte immer wieder die Flaggen auf dem Vorplatz des Wilshire Royal beobachtet, obwohl er nicht glaubte, dass der Wind bei dieser Entfernung eine große Rolle spielen würde. Aber sollte plötzlich eine starke Bö aufkommen, würde er seine Zielrichtung um einige Zentimeter ändern. Allerdings hatten die Flaggen den ganzen Tag schlaff heruntergehangen.
Die meiste Zeit verbrachte er einfach mit Warten. Er gönnte sich keinen Schlaf, schloss nie die Augen. Ab und zu veränderte er seine Haltung, um seine müden Muskeln zu entlasten. Er versuchte es mal mit Stehen, mal mit Hocken und setzte sich dann auf eine zurückgelassene Werkbank, die er ans Fenster gezogen hatte. Da er seinen Posten nicht verlassen wollte, hatte er Hunger, Durst und Harndrang ignoriert, und nach einer Weile waren seine körperlichen Bedürfnisse vergangen. Nun war es Samstagabend, acht Uhr, und er spürte nichts. Er war wie betäubt.
Seine einzige Sorge war, dass seine Nerven ihm einen Streich spielen könnten. Es war wichtig, das Gewehr ruhig zu halten, und er fragte sich, ob sein Körper ihm im entscheidenden Moment gehorchen würde. Aber ja. Einmal hatte er versagt. Doch wie durch ein Wunder hatte er eine zweite Chance bekommen. Die würde er nicht vertun. Diesmal würde Abby sterben.
Abby suchte das Gebiet nördlich des Wilshire Boulevards ab. Hier standen mehr parkende Autos. Viele gehörten UCLA-Studenten und waren ältere Modelle. Mehrmals dachte sie, sie hätte eins der gesuchten Fahrzeuge erspäht, aber das Nummernschild stimmte nie.
Als sie an einem Haus mit dunklen Fenstern und einem Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN vorbeikam, bemerkte sie im Carport einen Wagen, der aussah wie ein Chevrolet Impala, aber auf die Entfernung war es schwierig zu sagen. Sie parkte ein Stück weiter und ging zu Fuß zurück. Ihre Tasche mit der Pistole nahm sie mit. Vom Bürgersteig aus sah sie sich den Wagen genauer an. Er stand mit dem Bug zur Straße. Also hatte der Fahrer ihn rückwärts eingeparkt, ein umständliches Manöver. Der vordere Kennzeichenhalter war leer. In Kalifornien bekam man aber üblicherweise zwei Nummernschilder und brachte auch beide an.
Dann blickte sie zum Haus, das leer wirkte. Für den Fall, dass einer der Nachbarn sie beobachtete, tat sie so, als würde sie sich für das Verkaufsschild interessieren und ging zur Vordertür. Der kurze gewundene Weg führte nahe an einem Erkerfenster vorbei. Die Vorhänge waren offen, und obwohl das Zimmer dahinter dunkel war, konnte sie im Licht der Straßenlaternen erkennen, dass sich darin keine Möbel befanden. Die Besitzer waren bereits ausgezogen. Warum also stand ein Wagen im Carport?
Sie klingelte. Keine Reaktion. Sie klingelte erneut. Wieder nichts. Dann betrat sie mit geöffneter Handtasche und dem Zeigefinger auf dem Abzug ihrer Waffe den Carport.
Ihre Vorsicht war unnötig. Es war niemand da.
Sie sah sich den Wagen an. Es war tatsächlich ein Chevrolet Impala. Auch Alter und Farbe passten und das Kennzeichen am Heck entsprach dem, das sie sich notiert hatte. Demnach hatte Hickle den Wagen hier abseits der Straße geparkt und das Nummernschild abmontiert, um nicht so leicht entdeckt zu werden.
Natürlich konnte auch jemand anders diesen Wagen gestohlen und hier abgestellt haben, aber an solche Zufälle glaubte sie nicht. Schon gar nicht, wenn es um ihre Sicherheit ging. Ein Wagen aus Sylmar, der nur wenige Blocks von ihrer Wohnung entfernt auftauchte. Das hieß, Hickle wusste, wo sie wohnte. Er war gekommen, um sie zu töten.
Abby ging um das Haus herum und inspizierte jede Tür und jedes Fenster. Sie fand keine Einbruchspuren. Anscheinend hatte Hickle nur das Auto hier abgestellt. Er versteckte sich anderswo. Vielleicht sogar in ihrer Wohnung oder in ihrer Tiefgarage. Die Sicherheitsvorkehrungen im Wilshire Royal waren sehr streng, aber in der Malibu Reserve auch, und trotzdem war es Hickle gelungen, dort einzudringen. Er könnte sich also auch Zugang zum Royal verschafft haben. Vielleicht war er schon seit dem frühen Morgen da. Vielleicht lauerte er schon seit mehr als zwanzig Stunden auf sie.
Es schien unhöflich, ihn noch länger warten zu lassen.