17
Hickle hasste es, die Sechs-Uhr-Nachrichten zu verpassen.
Er hatte im Laufe des letzten Jahres jede Sendung von Kris Barwood gesehen. Sich jeden Abend um sechs und um zehn vor den Fernseher zu setzen, das gehörte unter der Woche zu seinem festen Rhythmus. Als sie letzten September Urlaub gemacht hatte, war er ernsthaft verzweifelt gewesen. Und doch würde er die Sendung heute Abend verpassen. Aber er sagte sich, dass er sie ja aufnahm und sie sich auch später noch ansehen konnte. Und zu den Zehn-Uhr-Nachrichten wäre er ganz sicher wieder zu Hause.
»Der Verkehr ist gar nicht so schlimm.«
Er blickte zu Abby hinüber, die auf dem Beifahrersitz seines Golfs saß. »Ja, wenig los heute Abend«, sagte er. »Wenn man bedenkt, dass Stoßzeit ist.«
»In L. A. ist immer Stoßzeit.«
Ihm fiel keine passende Antwort ein. »Ja.«
Sein Gesicht war heiß, seine Hände feucht, und er wünschte sich, unbehelligt in seiner Wohnung sitzen zu können, um sich Kris’ Sendung anzusehen. Die hatte gerade angefangen. Er wollte in Ruhe ihren Besuch in seinem Wohnzimmer genießen, auch wenn es nur eine Illusion war.
Stattdessen fuhr er mit Abby Gallagher über den Santa Monica Boulevard in die Abenddämmerung. Sie hatte sich umgezogen und trug Baumwollslacks, eine Button-Down-Bluse und eine Nylon-Windjacke. Ein nettes Outfit, besser als die Jeans und das Sweatshirt, die er hastig angezogen hatte.
Er riskierte ein bisschen Small Talk. »Hier ist bestimmt vieles ganz anders als in Riverside, was?«
Sie sprach etwas lauter, um das Dröhnen des Motors und das Rappeln des Armaturenbretts zu übertönen. »L. A. ist so groß. Ich finde mich hier überhaupt nicht zurecht. Ich bin vollkommen verloren.«
»Sie gewöhnen sich schon dran.« Er musste sich zwingen, nicht wieder in Schweigen zu verfallen. »Das musste ich auch.«
»Sie sind also auch nicht von hier?«
»Ich bin vor langer Zeit aus Mittelkalifornien hergezogen« Small Talk lag ihm einfach nicht, deshalb versuchte er es etwas direkter. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Klar.«
»Sie haben gesagt, Sie sind auf der Flucht vor Ihren Problemen …« Bestimmt würde sie sagen, das gehe ihn nichts an.
»Probleme mit meinem Freund«, antwortete Abby so gelassen, als würden sie sich übers Wetter unterhalten. »Na ja, er war schon mehr als ein Freund. Mein Verlobter. Wir wollten eigentlich im Mai heiraten. Dann habe ich ihn beim Fremdgehen erwischt. Ich meine, auf frischer Tat. Ich bin nach Hause gekommen, als sie es getrieben haben. In unserem Bett. Um ein Uhr mittags.«
Hickle wusste nicht, was er sagen sollte. Aber in dieser Situation wäre es wohl jedem so gegangen, deshalb war es ihm nicht so peinlich wie sonst.
»Also habe ich ihn angeschrien und Sachen nach ihm geworfen – na ja, die typische reife Reaktion der betrogenen Frau eben. Und am nächsten Tag habe ich die Stadt verlassen. Ich musste einfach weg.« Achselzuckend fügte sie hinzu: »Das ist meine traurige Geschichte.«
Auf das Wort traurig reagierte er dann auch mit einer passenden Antwort: »Das tut mir leid.«
»So ist halt das Leben.«
»Aber was er Ihnen angetan hat, das war doch schrecklich.«
»Wahrscheinlich kann man heutzutage nicht mehr erwarten, dass sich jemand länger bindet. Aber trotzdem, ich dachte, wir wären füreinander bestimmt. Wissen Sie, was ich meine?«
Hickle antwortete mit ruhiger Stimme: »Ja, ich weiß.«
»Man glaubt, man hat den Richtigen gefunden, und dann geht er hin und tut …« Abby beendete den Satz nicht.
»Ich weiß«, sagte Hickle, jetzt etwas nachdrücklicher. »Ich weiß ganz genau, wie so was ist.«
»Ist Ihnen denn so was auch schon mal passiert?«
Da sie gerade an einer roten Ampel warteten, wandte er sich ihr zu und schaute ihr direkt in die Augen. »Ja, mir ist so was auch passiert«, sagte er. »Und es ist noch kein Jahr her. Ich hatte die perfekte Frau gefunden. Einfach perfekt. Und sie …« Abby sah ihn völlig unvoreingenommen an. »Sie hat mir das Herz herausgerissen, meine Seele zerstört. Sie hat das Beste in mir abgetötet.«
So. Er hatte es gesagt. Wahrscheinlich hätte er es besser nicht getan. Die Worte waren einfach aus ihm herausgesprudelt, verzweifelt und wütend. Vielleicht würde Abby ihn jetzt für verrückt halten.
»Es tut mir leid, Raymond«, flüsterte sie.
Raymond. Sie hatte ihn bei seinem Namen genannt.
Hinter ihm hupte jemand. Die Ampel war auf Grün gesprungen und er hielt den Verkehr auf.
Er fuhr über die Kreuzung und weiter Richtung Westen. Er hatte Angst, etwas zu sagen, weil er die zerbrechliche Intimität, die zwischen ihnen entstanden war, nicht gefährden wollte.
Raymond. Sein Vorname. Und es hatte so liebenswürdig und verständnisvoll geklungen.
Raymond.
Alle Parkplätze an der Strandpromenade von Venice waren besetzt. Deshalb fuhr Hickle durch das Labyrinth schmaler Seitenstraßen, bis er zwei Blocks vom Strand entfernt einen Parkplatz am Straßenrand entdeckte. Als er schließlich seinen Golf in die Lücke manövriert hatte, war das letzte Dämmerlicht verschwunden und satte, weiche Dunkelheit hüllte sie ein.
Nachdem er sich unterwegs so plötzlich offenbart hatte, hatte er nicht mehr viel gesag, und Abby hatte ihn auch nicht gedrängt. Ihr gemeinsamer Ausflug war vielleicht kein richtiges Date, aber offenbar einem Date ähnlich genug, dass Hickles Angstgefühle gefährliche Ausmaße annahmen. Doch wenn sie erst im Restaurant waren, würde er sicher lockerer werden. Sie würde schon herausbekommen, was sie wissen wollte.
Bei jedem neuen Fall ging Abby im Kopf eine Liste von Fragen durch, die ihr halfen, das von ihrer Zielperson ausgehende Bedrohungspotenzial einzuschätzen. Ganz simple, aber spezifische Fragen, und je mehr davon sich beantworten ließen, desto näher kam sie einer eindeutigen Beurteilung. Einige der wichtigsten Fragen zu Hickle hatte sie sich bereits beantworten können und ihre Befürchtungen hatten sich bestätigt.
Empfand er eine tiefe persönliche Verbindung zu Kris Barwood? Ja. Das ging aus seinen unvorsichtigen Äußerungen im Auto hervor.
Ging sein zwanghaftes Verhalten über Anrufe und Briefeschreiben hinaus? Ja. Seit der Durchsuchung seiner Wohnung wusste sie, dass er aufwendige Nachforschungen über Kris’ Leben angestellt und ihre Adresse ausspioniert hatte und sie heimlich aus der Entfernung fotografierte.
Gab es Anzeichen für Gewaltbereitschaft? Ja. Die Bücher über Stalker und Guerillataktik wiesen eindeutig darauf hin.
Hatte er sich Waffen beschafft? Ja. Zwei Schusswaffen.
Aber zwei Fragen auf ihrer Liste waren noch unbeantwortet.
Traute er sich zu, einen Anschlag erfolgreich auszuführen? Denn falls nicht, würde er ihn vielleicht nur in seiner Fantasie durchspielen, aber nie in die Tat umsetzen.
Würde seine Angst ihn von einer Gewalttat abhalten? Denn Angst fungierte oft als Notbremse des Gewissens.
Hickle kam ihr ausgesprochen ängstlich vor, und vielleicht war es auch diese Angst, die ihn bisher gebremst hatte. Möglicherwiese würde sie ihn ja auf Dauer daran hindern, seine schlimmsten Gewaltfantasien in die Tat umzusetzen.
Hickle schaltete Motor und Scheinwerfer ab und zog dann mit zittriger Hand den Schlüssel heraus. »Wir sind da«, verkündete er. »Also, nicht direkt am Restaurant. Wir müssen ein Stück laufen, aber es ist nicht weit.«
Er stammelte wie ein Pubertierender. Er hätte ihr fast leidgetan, wenn sie nicht die beiden Gewehre gesehen hätte und die heimlichen Aufnahmen von Kris. »Es ist ein schöner Abend für einen Spaziergang«, sagte sie fröhlich. »Die frische Seeluft tut gut.«
Sie stiegen aus, und Hickle schloss den Wagen ab. »Ja, das hat mir an L. A. schon immer gefallen. Ich bin achtzig Kilometer von der Küste entfernt aufgewachsen. Mit frischer Seeluft war da nichts.«
»Wüste?«
»Nein, Hügel und Ackerland. Meine Familie hatte ein Lebensmittelgeschäft. Es war – wie sagt man noch? – eine ländliche Idylle.«
»Aber langweilig.«
»Ja. Kein Vergleich zum Leben in der Großstadt.« Sie machten sich auf den Weg. »Als Sie in Riverside gewohnt haben, haben Sie das Meer wohl auch nicht so häufig zu Gesicht bekommen, was?«, sagte Hickle.
»Höchstens als Halluzination kurz vor einem Hitzschlag. Bei uns steigen die Temperaturen manchmal auf über vierzig Grad im Schatten. Nur Schatten gibt’s keinen. Manchmal bin ich an die Küste gefahren, um der Hitze zu entkommen. Aber in diesem Viertel war ich noch nie.«
»Es geht hier sehr bunt zu.«
»Warum heißt es eigentlich Venice?« Sie kannte den Grund, ließ es sich aber trotzdem erklären, während sie sich einer lärmenden Menge näherten.
»Hier gibt es Kanäle«, erläuterte er. »Es sind nur noch ein paar übrig, aber es gab mal ein ganzes Kanalsystem, wie in Venedig. Das Viertel wurde um neunzehnhundert als Touristenattraktion gebaut, von einem Mann namens Kinney. Ein wahrer Visionär, heißt es.«
Sie betrachtete die vergitterten Fenster, den Müll auf der Straße, die Bandengraffiti überall und sagte: »Sieht aus, als wäre seine Vision mit der Wirklichkeit kollidiert.«
»Fürchte ich auch. Santa Monica ist schöner, aber hier kann man ganz gut rumlaufen und Leute beobachten. Es ist fast wie ein Straßenfest oder ein Jahrmarkt.«
»Immer?«
»Ja, so ziemlich.« Er bemühte sich um einen lockeren Ton. »Das ist L. A., die Stadt, die niemals schläft.«
Das ist New York, wollte Abby sagen, unterließ es aber.
Hickle führte sie zur Strandpromenade, die von einem bunten Gemisch exotischer Zeitgenossen bevölkert war: Jongleure, fliegende Händler, Obdachlose, Straßenmusiker, tätowierte Bodybuilder. Im Licht einer Laterne standen drei dürre junge Frauen herum, offensichtlich zugedröhnt, wahrscheinlich Nutten. Auf dem nahen Fahrradweg johlten Jugendliche auf Skateboards und Rollerblades in die Dunkelheit hinaus und ein Stück weiter die Promenade entlang schlugen Krishna-Jünger ihre Tamburine. Und das Ganze vor dem Hintergrund hoher, jahrhundertealter Backsteinbauten, die über und über mit surrealen Wandgemälden bedeckt waren.
»Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Hickle und beobachtete nervös ihre Reaktion. »Ein Jahrmarkt.«
Abby lächelte. »Ein richtiges Happening, wie sie das in den Sechzigern genannt hätten.«
Sie schlenderten die betonierte Promenade entlang, die die Einheimischen Boardwalk nannten. Vorbei an Läden in umgebauten Garagen mit Ständern voller T-Shirts, Sonnenbrillen und allerlei Kuriositäten. Über den allgemeinen Lärm erhob sich die wütende Stimme einer Frau, die etwas auf Spanisch schrie.
»Verstehen Sie Spanisch?«, fragte Hickle.
»Ein bisschen. Sie schreit ihren Freund an und nennt ihn einen Dreckskerl und Lügner. Er hat sie betrogen und sie will ihn nie wiedersehen. Er soll abhauen, zum Teufel gehen.« Abby zuckte mit den Schultern. »Wieder eine romantische Liebe im Eimer.«
Sie war sich sicher, er würde widersprechen. Und er enttäuschte sie nicht. »Nein«, sagte er, »im Gegenteil, sie versucht, ihn rumzukriegen.«
»Aber auf eine seltsame Art.«
»Das ist so ein Spiel, das Frauen spielen. Sie sagen Nein, wenn sie Ja meinen. Sie sagen, man soll verschwinden, aber wollen in Wirklichkeit, dass man näher kommt. Sie kreischen und schreien, aber das gehört alles zu ihrem Balztanz.«
»Also mein Stil ist das nicht.«
»Nein, Sie meinte ich auch nicht. Ich meinte nur so ganz allgemein. Die meisten Frauen haben das so in sich. Sie halten einen erst mal auf Abstand, geben einem nichts, lassen einen betteln. Das törnt sie regelrecht an. Frauen sind …« Er verstummte mitten im Satz.
»Sind was?«, fragte Abby.
»Ich weiß auch nicht. Ach, nichts, ist auch egal.« Aber sie wusste, was er sagen wollte: Frauen sind doch alle Zicken … Huren, die uns nur was vormachen.
The Sand Which Is There war ein großer, gut gefüllter, offensichtlich angesagter Laden, überhaupt nicht, was Abby erwartet hatte. Jede Menge Bambus und Korbmöbel. Von den Balken hingen kugelförmige Glaslampen herab, die zitronengelbe Lichtflecken auf die lackierten Tische warfen. Holzventilatoren an der Decke rührten in Zeitlupe die Luft um. Eine lange Teakholztheke auf einer Seite des Raums bot ebenso viel Mineralwasser wie Alkohol an. Dem Tresen gegenüber führten Glastüren hinaus auf die Terrasse und den Boardwalk.
Das Restaurant war offensichtlich ein Treffpunkt für zukünftige Stars – Schauspieler, Musiker und Models. Zwar waren nur wenige unter ihnen erfolgreich, aber sie besaßen doch alle die für den Erfolg unverzichtbaren Grundvoraussetzungen: Köpfe und Körper, wie die Kamera sie liebte. Der ganze Raum war ein Gewirr aus geschmeidigen Gliedmaßen und wildem, unbändigem Haar. Abby fragte sich, wie Hickle jemals hier gelandet war.
Eine Kellnerin führte sie zu einem Ecktisch. Abby wusste, Hickle würde eine Weile brauchen, bis er innerlich zur Ruhe kam. Anfangs, während sie bestellten, versuchte Abby immer wieder das Gespräch anzuleiern, aber mit wenig Erfolg. Als das Essen kam, schlang Hickle seins gierig hinunter und war weiterhin sehr wortkarg.
Erst beim zweiten Bier entspannte er sich langsam. Abby merkte, dass er keinen Alkohol gewohnt war. Er lallte ein klein wenig und atmete schwerfällig, sein Blick wurde unstet und die Lider schienen ihm schwerer zu werden. Er war ein kräftiger, ungeschlachter Mann, der sich in seinem eigenen Körper nicht wohlfühlte, und die zwei Gläser Heineken verstärkten seine Ungeschicklichkeit noch. Zweimal warf er den Salzstreuer um und einmal ließ er sein Messer auf den Boden fallen.
»Wie ist ihr Salat?«, fragte er schließlich, sein erster wirklicher Versuch, eine Unterhaltung zu beginnen.
»Einmalig. Junger Grünkohl und Champignons. Ich kann wirklich nicht meckern. Also, kommen Sie öfter her?«
»So gut wie nie. Ehrlich gesagt«, er lächelte verlegen, »war ich vorher nur einmal hier. Nicht wirklich meine Szene.«
»Nein?«
»Na ja, gucken Sie sich die doch mal an.« Er stützte den Ellbogen auf den Tisch und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf die anderen Gäste. »Wie die sich schon bewegen. Wie sie aussehen. Die sind alle so selbstbewusst. Denen gehört die Welt.«
Abby folgte seinem Blick und betrachtete die anderen Gäste. Er hatte recht. Nur schöne Menschen, Frauen wie Männer. Und durch ihre Kleidung und Frisuren, die nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen waren, verlor sich der Unterschied zwischen Mann und Frau. Die Männer wirkten zart und zerbrechlich, gefühlvoll und sensibel, während die Frauen hart aussahen. Ihre Körper von stundenlangem Fitnesstraining gestählt, die Gesichtszüge verhärtet, blickten sie streng aus verengten Augen.
»Denen gehört die Welt«, wiederholte Hickle und runzelte die Stirn. »Sie haben natürlich keinen Grund, auf diese Leute neidisch zu sein«, fügte er hinzu, aber was anscheinend als Kompliment gedacht war, hörte sich wie ein Vorwurf an.
»Ich bin auf niemanden neidisch.« Abby drehte ihre Gabel in der Hand herum, und die Zinken funkelten im Kerzenschein. »Grün ist nicht meine Farbe.«
Hickle nahm einen Bissen von seinem Club-Sandwich. »Sie beneiden sie nicht, weil Sie es nicht nötig haben. Sie passen hier gut hin. Sie gehören dazu.«
»Und Sie nicht?« Natürlich gehörte er nicht dazu.
Mit einer fahrigen Bewegung deutete er auf die anderen Leute und stieß dabei fast seinen Bierkrug um. »Ich spiele nicht in derselben Liga.«
»So was Besonderes sind die auch nicht.«
»Oh doch. Spüren Sie das nicht?« Er senkte seine Stimme und beugte sich vor, die Schultern in Abwehrhaltung hochgezogen. »Es gab da mal einen Film mit einem seltsamen Titel: Die Killer-Elite. Immer wenn ich einen Laden wie diesen betrete, muss ich an diesen Titel denken. Die Killer-Elite.«
Das Wort Killer fiel ihr auf und dass er es mit den Leuten um ihn herum assoziierte, wo es doch viel eher auf ihn zutreffen würde. »Das sind doch nur Kids, die auf einen Hamburger und ein Bier hergekommen sind«, sagte sie milde.
»Kids, ja, aber nicht einfach nur Kids. Die haben den Look.«
»Den was?«
»Den Look«, sagte er noch einmal todernst. »Es heißt doch, die Welt besteht aus zwei Arten von Menschen, Besitzenden und Besitzlosen. Nun, das stimmt zwar, aber es bedeutet etwas anderes, als die meisten glauben.« Er nahm seinen Bierkrug und trank wie ein Hund schlürfend in einem Zug ein Drittel des Inhalts. »Es geht nicht um Geld. Geld ist unbedeutend, jeder kann an Geld kommen. Wenn man immer pünktlich zur Arbeit erscheint und sich einigermaßen intelligent anstellt, dann kommt nach drei Monaten der Chef und will einen befördern, ob es einem nun passt oder nicht.«
»Warum sollte man was dagegen haben?«, fragte Abby, aber Hickle hörte nicht zu.
»Worauf es ankommt«, sagte er viel zu laut und mit einem Funkeln in den Augen, »ist der Look. Das ist es, was die einen besitzen und die anderen nicht. Sie müssten das eigentlich wissen, denn Sie haben ihn auch, den Look. So wie alle Frauen hier. Und alle Männer …« Seine Hand schloss sich zur Faust, offensichtlich eine unbewusste Geste. »Alle außer mir.«
Er steigerte sich gefährlich in seine Wut hinein. Sie versuchte, ihn zu beschwichtigen. »Sie sind zu hart zu sich.«
»Nein, nur ehrlich. Sehen Sie, was man im Kopf hat, spielt letztlich keine Rolle. Man kann der klügste Junge in der Klasse sein, nur Einser, aber wenn man den Look nicht hat, geht niemand mit einem zum Abschlussball. Wenn man den Look nicht hat, ist man ein Nichts. Höchstens der Klassenclown oder der Klassen…freak.« Lustlos nahm er einen letzten Bissen von seinem Sandwich und warf den Rest auf den Teller. »Ach, was soll’s? Sie verstehen es ja doch nicht. Ich wette, Sie hatten jede Menge Dates.«
Er musterte sie mit einem schiefen Lächeln, das wohl freundlich aussehen sollte, aber nur kalt, verkrampft und bösartig wirkte.
Abby bemühte sich um einen ungezwungenen Ton. »Ich war ein richtiger Wildfang, fast wie ein Junge. Nicht besonders beliebt und ganz bestimmt keine Abschlussballkönigin.«
Das schien ihn zu überraschen und sein Gesichtsausdruck wurde etwas sanfter. »Ach, ehrlich?«, fragte er leise.
»In den meisten Fächern war ich eine totale Niete. Ich war oft mit den Gedanken woanders. Im Grunde war ich eine Einzelgängerin. Wenn ich nicht in der Schule war, habe ich die meiste Zeit damit verbracht, durch die Wüste zu wandern oder auf einer Ranch die Pferde zu pflegen. Ich war immer schmutzig und hatte zerzauste Haare, kein Make-up, die Arme voller Moskitostiche und im Gesicht Millionen Sommersprossen.« Es stimmte alles, Wort für Wort. »Mein Vater hat mich eine Spätentwicklerin genannt.«
Hickle sah sie an und sie spürte, wie sich sein Ärger langsam legte. »Nun«, sagte er schließlich, »Sie haben sich prächtig entwickelt.«
Sie lächelte. »Ich bin heute ein ganz anderer Mensch. Es gibt wohl tatsächlich noch ein Leben nach der Highschool.«
»Falsch.« Hickle schlug mit der flachen Hand so fest auf den Tisch, dass die Teller rappelten, und biss sich dann verlegen auf die Lippe. »Tut mir leid, ich wollte nicht so auf den Tisch hauen. Aber als Jugendlicher musste ich mir ständig solche Sprüche anhören. Es heißt immer, wenn du erst mal erwachsen bist, dann beginnt das wahre Leben und alles wird anders.«
»Und stimmt das nicht?«
»Nein, überhaupt nicht. Die Highschool ist das wahre Leben. Ganz ungeschminkt.«
Er nahm noch einen Schluck Bier, aber es war nicht der Alkohol, der ihm die Zunge löste. Es waren ihre Fragen – mit jeder einzelnen drang sie ein wenig weiter vor –, ihr ruhiger, meditativer Blick und ihre langen Pausen. Sie ließ ihn einfach reden, ohne ihm Vorwürfe zu machen oder ihn zu verurteilen.
»Ich erzähle Ihnen mal, wie’s in der Highschool war.« Er nahm ein Möhrenstäbchen von einem Beilagenteller und spielte geistesabwesend damit. »In meiner Klasse war dieser Typ, Robert Chase. Er war nicht besonders helle. Auch kein Schwachkopf, verstehen Sie, aber eben kein Genie und kein sehr guter Schüler. Er hat geschwänzt, hatte nur schlechte Noten, hat auf der Toilette Dope geraucht, sich rumgetrieben. Aber er hatte einen Vorteil.«
»Lassen Sie mich raten. Er hatte den Look?«
»Genau. Der gute alte Bob Chase.« Hickle verzog den Mund zu einer hässlichen Grimasse. »Wenn die Mädchen seinen Namen aussprachen, Bobby, dann hatten sie dieses Seufzen in der Stimme, wissen Sie? Er war groß, hatte einen prächtigen Lockenkopf und einen Waschbrettbauch. Er war der Star des Basketballteams und alle liebten ihn.«
Sie hörte den schalen Neid in seiner Stimme. Sie sagte nichts.
»Also, vor ein paar Monaten blättere ich die LA Times durch und was lese ich da? Ein Robert Chase aus meiner Heimatstadt ist Stabschef eines Kongressabgeordneten in Washington. Ein regelrechter Senkrechtstarter. Es heißt, er will vielleicht selbst kandidieren. Am Ende wird er noch Präsident, verdammt. ’tschuldigung. Warum? Ich habe mehr drauf als er. Ich hatte bessere Noten. Und ich habe auch meine Mitschüler nicht gegen Spinde geschubst oder aus heiterem Himmel in den Magen geboxt.« Hickle brach das Möhrenstäbchen durch und nahm sich ein neues. »Aber ich habe eben nicht den Look. Seien Sie ehrlich, könnte ich jemals Präsident werden?«
Vor ihrem geistigen Auge sah Abby einen Parteitag, Ballons, Jubelrufe und im Rampenlicht den verwirrten, zerknitterten Raymond Hickle, zerzauste schwarze Haare, rote Pickel am Hals, sein Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen und dem fleischigen Kinn, das zugleich ausgezehrt und dicklich wirkte … Sie stellte sich vor, wie er versuchte eine Rede zu halten, sich bei seinen Zuhörern Respekt zu verschaffen, Autorität aufzubringen, über die er nicht verfügte, und alles, was sie hörte, war eine lachende Menschenmenge. »Es muss ja nicht jeder gleich Präsident werden«, sagte sie sanft.
Hickle winkte ab, als hätte ihn ihre Antwort verärgert. »Das war ja nur ein Beispiel. Leute wie Bob Chase gehören zu den Gewinnern im Leben. Die können machen, was sie wollen. Die können haben, wen sie wollen. Jeden und alles.« Er sah zur Seite, wandte den Blick von den Wahrheiten ab, die er aussprach. »Wenn diese Leute Geld wollen, fließt es ihnen einfach zu. Mit Ruhm ist es genauso. Sie starren einen von sämtlichen Titelblättern an. Oder, nun ja«, er wurde rot, »… Sex. Für diese Leute auch immer zu haben.«
Abby nickte und dachte angestrengt nach. Vor Jahren war Hickle auf Jill Dahlbeck fixiert gewesen, eine hoffnungsvolle Schauspielerin, ähnlich wie die Frauen in diesem Restaurant. Jetzt war er von Kris Barwood besessen, die den Durchbruch bereits geschafft hatte. Wahrscheinlich hatte es noch andere gegeben, alle berühmt oder nach Ruhm strebend. Er fühlte sich von schönen Frauen angezogen, aber Schönheit allein reichte ihm nicht. Sie mussten entweder berühmte Stars sein oder zumindest Starqualitäten haben. Denn er wollte unbedingt selbst einer dieser strahlenden Sterne sein. Er hatte seine jugendliche Sehnsucht nach Anerkennung und Bewunderung nicht überwunden. Für ihn war das ganze Leben ein Abschlussball, und er war der Einzige, der ohne Begleitung hinging.
»Und was ist mit Glück?«, fragte Abby leise. »Bekommen sie das auch einfach so?«
»Natürlich. Wir sind doch gerade durch Berverly Hills gekommen. Haben Sie die Häuser gesehen? Oder fahren Sie mal hoch nach Malibu.«
Wo Kris wohnte. Abby zog eine Augenbraue hoch. »Ja?«
»Es ist wunderschön dort. Waren Sie schon mal da?«
»Nein.«
»Einfach traumhaft.«
»Meinen sie den Strand? Die Küste?«
»Alles. Malibu ist einfach perfekt. Wer dort wohnt, muss doch glücklich sein. Es ist das Paradies.«
In Wirklichkeit war Abby schon oft in Malibu gewesen. Sie fand, der Ort wurde seinem Ruf nicht gerecht. Die ausgedörrte Hügellandschaft wurde in der heißen Jahreszeit von Buschfeuern heimgesucht und in den feuchten Wintern von Schlammlawinen. Man konnte zwar über hohe Mauern hinweg einen Blick auf wunderschöne Villen erhaschen, aber die Hauptstraße war von heruntergekommenen Surfbuden und Fahrradverleihen geprägt. Ein Paradies hätte sie Malibu nicht genannt. Aber für Hickle befanden sich dort die elysischen Gefilde. Dorthin zog sich die Königin des Abschlussballs mit ihrem Prinzgemahl zurück, um ihr traumhaftes Leben zu leben.
Sie hätte ihn gerne animiert, weiter über Malibu zu reden, aber das wäre zu offensichtlich gewesen. Stattdessen machte sie eine nichtssagende Bemerkung: »Die Leute haben überall Probleme, auch in den schönsten Vierteln.«
»Normale Leute, ja. Irgendein Schriftsteller hat doch gesagt, die Reichen sind anders. Er hatte recht. Aber nicht nur die Reichen, die ganze Killer-Elite. Die haben alles und wir, die anderen …«
Das zweite Möhrenstäbchen zerbrach in Hickles Hand.
»Ja?«, fragte Abby.
»Wir kriegen, was übrig bleibt. Wenn überhaupt was.«
Abby versuchte, seine Wut mit einem Schulterzucken zu entschärfen. »Ich glaube, hier ist kaum jemand reich und berühmt.«
»Noch nicht. Die sind noch jung, lassen Sie ihnen Zeit. Wo werden sie in zehn Jahren sein?« Er senkte seine Stimme: »Und wo werde ich sein?«
»Ich weiß nicht, Raymond«, antwortete sie ebenso leise. »Was glauben Sie?«
»Ich glaube …« Er senkte den Blick und starrte eine Weile auf den Tisch. »Ich glaube, dass ich dann ziemlich berühmt bin.«
»Wirklich?«
»Ja. Jeder wird meinen Namen kennen.«
»Sind Sie dabei, den großen amerikanischen Roman zu schreiben oder so was?«
»Das nicht gerade.«
»Also, wie wollen Sie denn berühmt werden?«
»Das ist ein Geheimnis.«
»Wozu ist ein Geheimnis gut, wenn Sie es niemandem anvertrauen? Nur eine kleine Andeutung.«
»Das geht nicht. Ehrlich.«
»Tun Sie so, als wäre ich nicht einfach Abby. Als wäre ich Liebe Abby, die Kummerkastentante. Die Leute erzählen ihr alles. Wahrscheinlich mehr, als sie hören möchte.« Hickle lächelte und schüttelte den Kopf. Sie wollte weiter drängen, aber es hätte keinen Zweck gehabt, das spürte sie instinktiv. »Nun gut«, sagte sie. »Was es auch ist, ich hoffe, es klappt.«
»Ach, da bin ich mir ziemlich sicher.«
Damit war auch eine ihrer letzten beiden Fragen beantwortet. Traute er sich zu, einen Anschlag erfolgreich auszuführen? Offensichtlich ja.