29

 

Abby fiel vom Bett auf den Boden, zuckte kurz und blieb dann regungslos liegen.

»Keine Lügen mehr, du Nutte«, flüsterte Hickle.

Er sah argwöhnisch auf sie herab. Vielleicht war es nur ein Trick, aber er bezweifelte es. Der Schlag war ziemlich heftig gewesen. Trotzdem hielt er die Waffe fest im Griff, während er in die Hocke ging und eins ihrer Augenlider hochzog. Ihre Pupillen waren nach oben verdreht. Sie war bewusstlos, aber atmete noch. Nicht mehr lange.

Sie hatte natürlich recht gehabt, er konnte in einem Wohnblock mit so vielen Leuten keine Waffe abfeuern. Daran hätte er auch selbst denken können. Aber es gab noch andere Möglichkeiten. Ihr mit einem Küchenmesser die Kehle durchschneiden, zum Beispiel. Ja, so würde er es machen. Aber in der Küche fand er nur Plastikbesteck.

Dann würde er ihr eben das Genick brechen. Er kniete sich neben sie und legte ihr die Hände um den Hals, doch die Intimität dieser Berührung ließ ihn zurückschrecken. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben.

Ersticken. Er könnte sie ersticken.

Er drehte sich zum Bett und griff nach einem Kissen, hielt dann aber inne.

Neben dem Bett, ein Stück weiter, stand der Kleiderschrank. Die Tür war offen, darin ein ganzes Arsenal elektronischer Geräte. In der Hitze des Gefechts hatte er sie nicht bemerkt.

Es schien seltsam, Fernseher und Stereoanlage im Schrank unterzubringen, und noch seltsamer war, dass auf dem Bildschirm sein eigenes Wohnzimmer zu sehen war.

Wieso war seine Wohnung im Fernsehen?

Dann begriff er, dass es das Signal einer Überwachungskamera war.

Was bedeutete, dass Abby in seiner Wohnung gewesen war. Sie war eingebrochen und hatte eine Kamera versteckt. Wanzen wahrscheinlich auch. Und sie hatte ihn die ganze Zeit beobachtet, während er sich allein wähnte.

»Sie hat mich beobachtet«, murmelte er. Der Gedanke war furchtbar, geradezu obszön.

Energisch ging er zum Kleiderschrank. Der Fernseher stand auf einem Videorekorder, der das Kamerasignal aufnahm. Daneben eine Stereoanlage mit laufendem Tonbandgerät. Er führte oft Selbstgespräche. Sie hatte offensichtlich alles aufgenommen und kannte all seine Gedanken. Sie hatte sich nicht einfach in sein Leben eingeschlichen, sondern war in seine privatesten Momente vorgedrungen, in seine Einsamkeit. Sie hatte alles beobachtet, belauscht und festgehalten.

Plötzlich fiel ihm noch etwas ein. Wann genau war sie in seine Wohnung eingebrochen? Vor der Begegnung in der Waschküche oder danach? Falls es danach war …

Vielleicht wusste sie, was er aus der Waschmaschine gestohlen hatte. Das hoch geschnittene, weiße Höschen, das einst ihre Formen umhüllt hatte. Abbys Höschen.

Sie hatte es bestimmt gefunden, hatte gewusst, er hatte es mitgehen lassen, und konnte sicher erraten, zu welchem Zweck.

Aber vielleicht … vielleicht musste sie gar nicht raten. Vielleicht hatte sie in seinem Schlafzimmer auch eine Kamera versteckt.

Eine mit Infrarotobjektiv, damit sie ihn im Dunkeln beobachten konnte.

Hatte sie ihn letzte Nacht beobachtet, als er das Höschen mit ins Bett genommen hatte? Als er es benutzt hatte, so wie andere Männer Pornohefte benutzten? Hatte sie zugesehen? Es aufgenommen?

Wut kochte in ihm hoch.

Er holte die Kassette aus dem Videorekorder, zerbrach sie, zog Meter für Meter das Band heraus und zerknäuelte es.

Vielleicht hatte sie auch die Geräusche aufgenommen – die quietschenden Matratzenfedern, das leise Beben seines Atems.

Er riss die Tonbandspulen aus dem Gerät und verteilte das Band überall im Raum, bis ihm die Spulen aus den zitternden Händen fielen.

Sinnlos. Er hatte nichts damit erreicht. Irgendjemand könnte einfach die Bänder wieder aufspulen und sich alles ansehen, alles mit anhören.

Im Grunde spielte es keine Rolle, ob jemand etwas von alldem sehen oder hören würde. Wahrscheinlich würde er den Anschlag auf Kris sowieso nicht überleben. Und wenn doch, würde man ihn festnehmen, denn es wäre sonnenklar, er wäre auf frischer Tat ertappt.

Trotzdem ertrug er den Gedanken nicht, dass ein Fremder ihn in seinen intimsten Momenten beobachten könnte wie in einer Freakshow und vielleicht über ihn lachen würde, über ihn, den Perversling. Oder schlimmer noch, Mitleid mit ihm haben würde. Mitleid mit diesem einsamen, kranken Sonderling.

Nein. Er würde dafür sorgen, dass niemand die verdammten Bänder sah, niemand sie hörte. Er würde sie löschen oder sonst wie zerstören.

Aber zuerst musste er die Wanzen finden. Niemand durfte herausfinden, was sie getan hatte.

Er überzeugte sich, dass Abby noch immer bewusstlos war, und kehrte dann über die Feuertreppe in seine Wohnung zurück. Zuerst durchsuchte er das Wohnzimmer. Dem Bildausschnitt auf Abbys Fernseher nach zu urteilen, musste sich die Kamera über dem Sofa befinden. Er brach das Gehäuse des Rauchmelders auf und fand eine winzige Kamera mit Sender, aber kein Mikrofon. Er zertrat die Kamera und blickte sich im Zimmer nach möglichen Verstecken für ein Abhörgerät um. Das Telefon? Er schraubte den Apparat auf und fand etwas, das vielleicht eine Wanze war. Er zertrümmerte das Telefon auf der Arbeitsplatte in der Küche.

Vielleicht gab es noch mehr Wanzen. Er sah hinter der Couch nach, hinterm Fernseher, in den Küchenschränken, im Kühlschrank. Er wusste nicht einmal, wonach er genau suchte. Selbst wenn er eine Wanze direkt vor der Nase hatte, würde er sie vielleicht gar nicht erkennen. Die verschlagene kleine Schlampe konnte Dutzende versteckt haben, wenn nicht Hunderte. Woher sollte er das wissen?

Er stolperte ins Schlafzimmer. Hatte sie auch hier eine Wanze angebracht oder etwa ein Stethoskop an die Wand gehalten? Gab es hier auch eine Kamera? Vielleicht war eine hinter einem Bild von Kris versteckt und hatte ihn durch ein winziges Loch beobachtet. Er riss die Fotos von der Wand. Keine Kamera. Keine Wanze. Sicher hatte sie auch im Schlafzimmer etwas versteckt. Sie würde ja nicht den einen Raum überwachen und den anderen nicht. Aber wo nur? Er suchte unter dem Bett und hinter dem Nachttisch. Er schraubte die Nachttischlampe auf. Nichts.

»Wo zum Teufel hast du die Dinger versteckt, du Nutte?«, rief er, seine Stimme eine Oktave höher als sonst.

Wenn er ein, zwei Tage Zeit hätte, würde er alles finden, aber die hatte er nicht. Nicht einmal eine Stunde. Er musste heute Nacht zuschlagen. Wenn er noch länger wartete, hätte er nicht mehr die geringste Chance. Abbys Kollegen würden Lunte riechen, wenn sie sich nicht meldete, und alles daransetzen, ihn aufzuspüren. Doch selbst wenn er ihnen entwischen würde, er käme niemals an Kris heran, denn sie würden die Sicherheitsmaßnahmen noch verstärken.

Es war fast halb elf. Kris würde das Studio in etwa einer Stunde verlassen und kurz nach Mitternacht zu Hause ankommen. Da musste er bereits in Stellung sein. Er musste so schnell wie möglich los. Aber er hatte die Wohnung noch nicht richtig abgesucht und die Bänder nicht gelöscht.

»Keine Zeit.« Hickle lief immerzu im Kreis herum. Es war unmöglich, auf die Schnelle alle Spuren von Abbys Machenschaften zu beseitigen. Allerdings konnte er auch nicht zulassen, dass die Polizei etwas fand.

Vernichten. Er musste alles vernichten, in beiden Wohnungen. Jede einzelne Spur.

»Also gut«, flüsterte er und bekam sich langsam wieder unter Kontrolle, während in seinem Kopf ein Plan entstand. »Ja, das dürfte funktionieren.«

Bevor er losging, suchte er noch alles zusammen, was er für seine Aktionen hier und in Malibu brauchte. Er holte seine Reisetasche aus dem Schrank und legte die Jagdbüchse hinein. Die HK 770 mit ihrem Zielfernrohr und dem Laservisier war eine teure Investition gewesen und er wollte sie für den Fall mitnehmen, dass die Schrotflinte versagte.

Was brauchte er sonst noch? Zusätzliche Munition für beide Waffen, Taschenlampe. Jacke – es war ein kühler Abend. Er zog seine marineblaue Windjacke über. Die dunkle Farbe würde als Tarnung dienen.

Außerdem nahm er die Kette und das Schloss mit, mit denen er den Schrank gesichert hatte. Dann kletterte er durchs Fenster und ließ seine Wohnung für immer zurück.

Auf dem Bildschirm in Abbys Schlafzimmer war jetzt nur noch weißes Rauschen zu sehen. Abby war immer noch bewusstlos. Er stieß sie mit dem Fuß an. Sie rührte sich nicht.

Er kniete sich neben sie und verharrte ein, zwei Minuten so, bis ihm das Fenster ins Auge fiel. Beim Eindringen hatte er das Fliegengitter völlig zerstört, aber die Fensterscheibe war intakt. Er schloss das Fenster und verriegelte es. Im Wohnzimmer tat er das Gleiche.

Die Wohnung war nun fast luftdicht abgeschlossen. Er hockte sich vor den Gasofen und sah, dass die blaue Pilotflamme brannte.

Jetzt kam der schwierige Teil. Mit aller Kraft zerrte er in der Küche den Herd von der Wand, bis er einen metallischen Knall und ein Zischen hörte. Das Verbindungsstück zwischen Einleitungsrohr und Hauptleitung war zerbrochen und Gas strömte in die Wohnung. Es roch nach faulen Eiern. Das Gas war der Sprengstoff, die Pilotflamme der Zünder. Wenn das Gas eine bestimmte Konzentration erreicht hatte …

»Blammo«, flüsterte Hickle.

Der halbe dritte Stock wäre weg. Abbys Wohnung, seine eigene und mit ein bisschen Glück auch Nummer 422, wo die neugierige Mrs Finley wohnte. Alles würde im gleißenden Blitz der Explosion verschwinden. Eigentlich wollte er ja bloß die Bänder löschen, aber auf diese Art ging’s auch. Und als Zugabe würde er alle Spuren seines früheren Lebens auslöschen … ach ja, und Abby.

Er steckte die Flinte in die Reisetasche, trat hinaus auf den Flur und zog hastig Abbys Tür hinter sich zu. Er eilte zum Aufzug. Unten angekommen rannte er hinaus und über den Parkplatz.

Er würde es tun. Es wahrhaftig tun. Er war von dem Gedanken wie elektrisiert. Nach Monaten des Zauderns hatte er endlich den Mut gefunden.

Hickle warf die Tasche auf den Beifahrersitz, setzte sich hinters Steuer und startete. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 10:59 Uhr an.

Genau in diesem Augenblick gingen die Nachrichten auf Channel Eight zu Ende und Kris Barwood verabschiedete sich zum letzten Mal von ihrem Publikum.