Prolog

 

Sie hatte eine Waffe in der Handtasche und sie war bereit.

»Ich hasse Männer«, sagte Sheila Rodgers und nahm einen großen Schluck Daiquiri. »Weißt du, was ich meine?«

Die Dunkelhaarige nickte. »Ja, klar.«

»Männer sind Schweine. Sie benutzen dich und dann werfen sie dich einfach weg.«

»Stimmt.«

»Wie dieser Typ, von dem ich dir erzählt habe. Was zwischen uns war, das war wirklich was Besonderes. Und dann, urplötzlich, ist es vorbei. Und er redet nicht mal mehr mit mir.«

»Das ist wirklich hart.«

Die Dunkelhaarige hatte auch einen Namen. Als sie sich im Roxbury auf dem Sunset Strip kennengelernt hatten, hatte sie ihn Sheila gesagt, aber die hatte ihn schon längst vergessen. Sie konnte sich Namen einfach nicht merken.

Sie fragte sich, warum die andere überhaupt mit ihr herumziehen wollte. Sie waren den ganzen Abend von einem Club zum nächsten gewandert, vom Rox zum Viper Room, dann zum Babylon, zum Teaszer und schließlich zum Lizard Maiden am Westende des Sunset Strip. Unterwegs hatte Sheila eine Reihe unterschiedlichster Erfrischungsgetränke zu sich genommen und dann beschlossen, bei Daiquiri zu bleiben. Sie war schon ein wenig benebelt und ihr war vage bewusst, dass sie zu viel redete, aber sie konnte einfach nicht aufhören.

»Er war wirklich ein toller Mann«, sagte sie einfach so dahin und stützte sich auf die Mahagonitheke. »Ich meine, er war zwar ein Schwein – das habe ich erst später gemerkt –, aber wenn wir zusammen waren … das hatte was Magisches an sich, verstehst du? Als wären wir füreinander bestimmt.«

»Ja, das verstehe ich.«

»Als wäre es Schicksal. Ja, verdammt, so war es … oder zumindest habe ich das gedacht.« Sheila schüttelte sachte den Kopf. »Aber das habe ich alles schon erzählt, oder? Sollen wir wieder zurück zum Viper Room gehen?«

»Schon okay, du kannst es mir ruhig noch mal erzählen. Manchmal hilft’s, einfach alles rauszulassen.«

»Bist du Mutter Teresa oder was?«

»Nein, nur eine Freundin.«

»Ja, eine Freundin kann ich jetzt wirklich gebrauchen. Ach, Scheiße, ich bin in letzter Zeit wirklich total durch den Wind.«

»Wieso?«

»Na, wegen ihm. Er … Ich weiß auch nicht, ich kann ihn einfach nicht vergessen. Es ist jetzt schon zwei Monate her. Eigentlich müsste ich doch schon längst über den verdammten Dreckskerl hinweg sein. Eigentlich …«

»Vielleicht willst du ihn ja gar nicht vergessen.«

»Nein, will ich auch nicht.« Sheila beugte sich zu der Dunkelhaarigen hinüber, die auf einem Barhocker neben ihr saß. »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«

»Klar.«

Sheila hätte gern geflüstert, aber das ging natürlich nicht. Das Lizard Maiden, von den Stammgästen nur Liz genannt, war kein Ort für dezente Konversation. Es war einer der schmuddeligsten Clubs am Strip, ein Schuppen mit Lightshow und dröhnender Livemusik, dessen Tanzfläche von zuckenden Leibern überquoll und wo sich die Gäste gegenseitig in die Ohren schreien mussten, um sich zu verständigen.

»Also, es ist so«, sagte Sheila, »ich renne von einem Club zum andern, immer in der Hoffnung, dass er mir über den Weg läuft.«

»Kommt er auch hierher?«

»Hin und wieder. Meistens freitags, manchmal auch samstags.« Es war Freitag. »Eigentlich treibt er sich überall rum, deshalb weiß ich nie, wann ich ihn zu Gesicht bekomme. Er bummelt von einem Club zum anderen. Ich habe ihn im House of Blues auf dem Strip kennengelernt.« Sheila lachte wehmütig. »Irgendwie passend, nicht?«

»Aber was hast du denn davon, ihn zu treffen?«

Sheila wandte ihren Blick ab. »Ich habe was davon, glaub mir.« Nervös schob sie die Handtasche auf ihrem Schoß hin und her und spürte das Gewicht der Waffe.

»Und wenn du jemand Neuen kennenlernst? Vielleicht kannst du ihn dann vergessen. Es gibt schließlich auch noch andere Männer.«

»Aber keinen wie ihn. Er ist nicht einfach irgendwer. Er ist berühmt. Du kennst ihn auch. Jeder kennt ihn.«

»Ach, wer ist es denn?«

Sheila zögerte. Sie wollte eigentlich nicht so viel ausplaudern. Sie sah sich die andere genauer an. Die war ein paar Jahre älter als sie selbst, vielleicht sieben- oder achtundzwanzig, mittelgroß und schlank und wirkte sehr beherrscht. Ihr Gesicht, von einem dunkelbraunen Pagenschnitt gerahmt, war blass und kantig, mit kräftigen, hohen Wangenknochen. Der kühle Blick ihrer haselnussbraunen Augen wirkte offen und unvoreingenommen.

»Devin Corbal«, sagte Sheila schließlich. »Der ist es.«

»Der Schauspieler?«

»Ich habe ja gesagt, er ist berühmt. Er hat schon in sechs Filmen oder so mitgespielt. In sechs! Und er ist erst dreiundzwanzig.«

»Und mit dem warst du zusammen?«

»Ganze zwei Wochen.« Sheila runzelte die Stirn. »Es war einfach toll. Ich und Devin, wir waren wie verwandte Seelen. Zwei Wochen lang jedenfalls.«

Sie kippte den Rest ihres Drinks runter.

»Zwei Wochen«, sagte sie noch einmal.

Die Dunkelhaarige stieg von ihrem Hocker. »Halt mir den Platz frei, ja? Ich muss mal für kleine Mädchen.«

Sheila nickte, in Gedanken bei Devin. Sie bemerkte kaum, dass die andere wegging, um sich durch die wogende Masse auf der Tanzfläche zu drängen.

»Noch mal das Gleiche?«

Sheila schaute auf und sah den Barmann, den sie vom Sehen kannte. Seinen Namen hatte sie vergessen. »Ach, meinetwegen.«

Der Barmann schenkte ihr noch einen Daiquiri ein. »Wer ist denn deine Freundin?«

»Niemand.«

»Hab sie hier noch nie gesehen.«

»Nur so eine Frau, mit der ich durch die Clubs ziehe.«

»Ich weiß noch, wie du mit Dev durch die Clubs gezogen bist.« Er gab ihr den Drink. »Bist du endlich über ihn hinweg?«

»Was interessiert dich das denn?«, fragte Sheila säuerlich.

»Ach, eigentlich gar nicht«, sagte der Barmann. »Aber er ist hier.«

Sheila sah langsam auf. »Er ist hier? Devin ist hier?«

Der Barmann zuckte mit den Schultern. »Ich dachte nur, es interessiert dich vielleicht.«

 

Die Toilette befand sich in einer Nische am Eingang des Clubs, aber die Dunkelhaarige ging nicht hinein, sondern stattdessen an ein paar Münztelefonen vorbei in die hinterste Ecke der Nische, wo sie vor einer Tür stehen blieb, wahrscheinlich der zur Abstellkammer.

Niemand war in der Nähe. Sie holte das Handy aus ihrer Handtasche und drückte die erste Kurzwahltaste. In dieser Ecke hämmerte die Musik nicht ganz so laut und sie konnte fast in normaler Lautstärke sprechen.

»Paul, hier ist Abby«, sagte sie, als sich jemand meldete.

»Bist du immer noch im Babylon?«, fragte Paul Travis.

»Nein, wir sind weitergezogen. Wir klappern schon den ganzen Abend einen Club nach dem andern ab. Aber sie öffnet sich langsam.«

»Redet sie über ihn?«

»Ja, und sie wirkt wütend. Kann sein, dass sie was vorhat, denn so, wie sie die ganze Zeit mit ihrer Handtasche rumfummelt, hat sie da sicher nicht nur Wimperntusche drin.«

»Falls sie bewaffnet ist, bist du besser vorsichtig.«

Abby lächelte. »Bin ich doch immer. Hör mal, ich muss wieder zurück. Sobald ich kann, melde ich mich wieder. Momentan sind wir in einem Laden namens Lizard Maiden auf dem Sunset Strip.«

»Lizard Maiden?«

»Ja, oder auch kurz Liz genannt. Nicht weit von der Bar One, etwas weiter westlich …«

»Ich weiß, wo der Laden ist. Er ist auch gerade da.«

Abby verstand nicht auf Anhieb. »Was?«

»Unser Klient, er ist auch im Lizard Maiden, verdammt. Seit einer halben Stunde. Er hält sich im VIP-Raum auf.«

»Hat er Leibwächter dabei?«

»Zwei.«

»Ruf sie an und sag ihnen, wir haben Alarmstufe Rot. Wenn es geht, sollen sie ihn unbemerkt rausschleusen. Aber sie dürfen auf keinen Fall durch den Hauptraum, da könnte Sheila ihn sehen. Hast du verstanden?«

»Alles klar.«

»Ich bleibe in ihrer Nähe, dann wird sie schon nichts versuchen, selbst wenn sie ihn entdeckt.«

»Ja, aber sorg bloß dafür, dass nichts passiert, Abby.«

Travis legte auf und Abby steckte ihr Handy wieder in die Handtasche, wo sich auch ihre kurzläufige Smith & Wesson .38 befand, die sie bei der Arbeit immer dabeihatte.

Corbal musste natürlich ausgerechnet hier sein. Warum konnte er sich nicht in einem anderen Club möglichst weit weg rumtreiben?

»Unter all den Spelunken, die es auf der Welt gibt …«, murrte sie und ging zurück Richtung Theke.

Aber es war kein ernsthaftes Problem, eher eine leichte Komplikation. Solange sie immer in Sheilas Nähe blieb, konnte nichts passieren. Sheila Rogers war zweiundzwanzig, so dünn, dass sie fast magersüchtig wirkte, und im Moment stark angetrunken – in einer Auseinandersetzung mit Abby würde sie auf jeden Fall den Kürzeren ziehen. Falls Sheila nach der Waffe in ihrer Handtasche griff, würde Abby ihr einfach die Halsschlagadern abdrücken. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie jemanden auf diese Weise außer Gefecht setzte.

Sie lief um die Tanzfläche herum und als sie wieder an die Theke kam, wurde ihr ganz mulmig.

Sheila war weg, ihr Hocker leer.

Das war gar nicht gut.

Abby gab dem Barmann ein Zeichen. Als er sie sah, fletschte er die Zähne zu einem raubtierhaften Lächeln.

»Hallo, Süße.«

Sie ignorierte den Spruch. »Wo ist die Frau, mit der ich hier gesessen habe?«

»Sheila?« Sein Lächeln verzog sich zu einem Grinsen. »Ich glaube, sie wollte zu einem Freund.«

Abbys Herz schlug schneller. »Zu welchem Freund?«

Er beugte sich zu ihr herüber. »Hör zu, vergiss sie einfach. Das ist doch eine totale Nulpe. Was gibst du dich mit der ab? Ich wollte sie einfach loswerden, damit wir beide uns besser kennenlernen können.«

»Du hast ihr also erzählt, dass Devin Corbal hier ist?«

»Woher weißt du …?«

»Egal. Wo ist der VIP-Raum?«

»Tut mir leid, aber da kannst du nicht rein. Der ist nur für Promis. Aber in ein paar Stunden habe ich Feierabend …«

Abby packte sein rechtes Handgelenk und drückte mit aller Kraft auf das Kahnbein unterhalb des Daumenballens. »Wo ist der VIP-Raum?«, zischte sie.

Der Barmann wurde blass. »Ganz hinten«, sagte er mit zusammengepressten Zähnen. »Da lang.« Mit dem Kopf deutete er nach links.

Sie ließ ihn los. Er rieb sich sein Handgelenk und rang nach Luft.

»Großer Gott, was ist denn mit dir los?«

Abby hörte ihn kaum. Sie schob sich bereits durch die Menge auf der Tanzfläche und betete, dass sie nicht zu spät kam.

 

Sheilas Puls dröhnte ihr in den Ohren, sie konnte nicht einmal mehr blinzeln und Übelkeit kroch heiß durch ihre Eingeweide.

Sie wusste, was sie zu tun hatte. Hatte es eingeübt, es sich immer wieder vorgestellt. Aber in ihrer Vorstellung hatte sie nicht vor Angst gezittert, ihr Magen hatte nicht rumort, es hatte auch keine laute Musik gegeben und keine tanzende Menschenmenge, so nah und so heiß.

Sie hatte eine Waffe und sie war bereit. Sie musste einfach bereit sein.

Er würde im VIP-Raum sein. Da war er immer, wenn er ins Liz ging. Einmal hatte er sie mit hineingenommen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern: ein kleiner Raum ganz hinten, hinter einem Vorhang. Ohne Fenster. Ein Raum, der kein Versteck und keine Fluchtmöglichkeit bot.

Sie ließ die Tanzfläche hinter sich und holte eine Llama .45 aus ihrer Handtasche. Entsichert und mit vollem Magazin.

Der VIP-Raum lag direkt vor ihr. Es gab kein Schild, nur einen Durchgang mit einem Vorhang davor. Sie würde hineingehen und Devin Corbal mitten in sein verlogenes Herz schießen. Er hatte sie wie eine billige Hure behandelt. Sie würde es ihm heimzahlen. Würde ihm beweisen, dass es ihr Ernst war, als sie gesagt hatte, es würde ihm noch leidtun.

Kurz wünschte sie, sie hätte noch Zeit für einen Schuss Koks gehabt. Sie hatte eine Insulinspritze und ein kleines Tütchen von dem weißen Pulver in ihrer Handtasche. Sie könnte schnell in der Toilette verschwinden, es mit Wasser mischen, auf die Spritze ziehen und sich in die Armbeuge injizieren …

Aber sie wusste, wenn sie sich die Zeit dafür nähme, würde sie die Nerven verlieren. Sie musste Devin jetzt sofort umbringen, bevor sie lange darüber nachdenken konnte. Jetzt oder nie.

»Jetzt oder nie«, murmelte sie, um sich Mut zu machen.

Los, mach schon!

Sheila atmete tief durch, dann schob sie sich mit der Pistole im Anschlag durch den Vorhang.

Der Raum war leer.

Auf den Tischen halb leer getrunkene Gläser, daneben noch dampfende Platten mit kleinen Speisen. Zwei Stühle in seltsamen Winkeln zu den Tischen, so als wären die Leute, die hier saßen, eilig aufgesprungen.

»Sie haben ihn rausgeschafft«, flüsterte Sheila, die sich zusammenreimte, was passiert war. »Er war hier … und sie haben ihn rausgeschafft.«

Aber nicht über die Tanzfläche, nicht durch den Vordereingang. Denn dann hätte sie ihn gesehen.

Durch die Hintertür also.

Als sie den VIP-Raum verließ, bemerkte sie am Ende eines Flurs ein trübe leuchtendes, flackerndes Ausgangsschild.

Sie rannte durch den Flur. Die Musik hinter ihr wurde leiser. Sie stieß die Tür auf. Vor ihr lag eine niedrige Holztreppe, die hinunter in eine Gasse führte. Sie blickte sich um: Ringsum Ziegelmauern, im Norden die hängenden Schultern der Hollywood Hills, flimmernd-grelles Neonlicht, die Sterne vom Smog verschluckt, und keine zehn Meter entfernt Devin Corbal, der sich eilig davonmachte.

Im Licht einer Werbetafel über ihr konnte sie ihn deutlich erkennen. Groß und schlank, in verwaschenen Jeans, mit offenem Hemdkragen. Zwei grimmig dreinschauende Männer in dunklen Anzügen, wahrscheinlich seine Leibwächter, schoben ihn vor sich her durch die Gasse.

Sie schauten sich nicht um, hatten sie oben auf der Treppe noch nicht gesehen.

Sie hob die Waffe. Finger am Abzug.

Dann bemerkte sie einer der Leibwächter. Zu spät.

Sheila drückte ab, dann noch einmal. Da bekam sie einen harten Stoß in den Rücken und flog mit rudernden Armen und Beinen die Treppe hinunter.

Kurz sah sie einen Schopf dunkler Haare und wild blickende braune Augen, dann schnellte ein Ellbogen von unten gegen ihren Unterkiefer. Sie sackte zusammen und fühlte nichts mehr.

 

Abby riss Sheila die Waffe aus den schlaffen Fingern und schleuderte sie weg. Sheila lag vor der Treppe. Abby drückte sie auf den Boden und hielt sie fest, bis sie ganz sicher war, sie k. o. geschlagen zu haben.

Dann blickte sie zu Devin Corbal hinüber. Er lag reglos auf dem Boden. Einer der Leibwächter machte hektische Wiederbelebungsversuche, während der andere in ein Handy schrie: »Bring den Wagen her, sofort!«

»Wir brauchen einen Notarztwagen!«, rief der andere.

»Das dauert zu lange. Wir fahren ihn besser selbst zum Krankenhaus.« Dann schrie er ins Handy: »Wo bleibt der verdammte Wagen?«

Aber der Wagen würde nichts nutzen. Auch kein Notarztwagen und kein Krankenhaus. Nichts konnte Devin Corbal noch helfen, das wusste Abby.

Sie sah den See aus dunkelrotem Blut. Blut, das zwischen Devins Schultern hervorsickerte. Sie sah seine Augen, weit aufgerissen und starr.

Sheila hatte zweimal abgedrückt. Ein Schuss war danebengegangen, aber der zweite hatte Devin Corbal in den Rücken getroffen und auf der Stelle getötet.

Der Leibwächter, der versucht hatte, ihn wiederzubeleben, kam schließlich zum gleichen Schluss wie Abby. Langsam stand er auf und schüttelte den Kopf.

»Wir haben ihn verloren«, sagte der Mann. »Scheiße, wir haben ihn verloren.«

Nein, dachte Abby. Nicht ihr.

Ich habe ihn verloren.