25
Abby blieb eine Stunde lang im Auto sitzen und beobachtete das Haus. Ab sechs wurde es langsam dunkel. Und um halb sieben senkte sich die Sonne in flammendem Rot über die Dächer. Sie spielte mit dem Gedanken aufzugeben. Sie sollte nach Hollywood zurückfahren und nachsehen, ob Hickle zu Hause war. Aber solange Kris im Studio war, bestand keine akute Gefahr. Also beschloss sie, noch eine Weile zu warten.
Um die Zeit zu nutzen, holte sie ihr Diktafon aus der Handtasche und sprach ein paar Memos darauf. Sie beschrieb ihren Besuch bei Travis und alles, was sie dort erfahren hatte – nur ihr heißes Intermezzo ließ sie aus –, dann ihren Einbruch in den Bungalow und was sie dort vorgefunden hatte. Falls sie ums Leben kam, würde sie wenigstens ein Protokoll ihrer Aktivitäten hinterlassen.
Im Whirlpool hätte sie fast dran glauben müssen und wenn Hickle sie gestern Abend nach der Flucht aus seiner Wohnung auf der Feuertreppe erwischt hätte, hätte er sie wahrscheinlich mit seiner Flinte durchlöchert. Zweimal war sie knapp davongekommen. Sie fragte sich gerade, ob es ihr auch beim nächsten Mal gelingen würde, als plötzlich in ihrem Rückspiegel Scheinwerfer aufleuchteten.
Sie drückte sich tiefer in den Sitz und sah einen schwarzen Lexus vorbeifahren. Im Licht des Armaturenbretts konnte sie kurz das Gesicht des Fahrers erkennen. Howard. Natürlich.
Der Lexus fuhr auf die Auffahrt des Bungalows. Howard stieg aus, hob die Garagentür an und fuhr hinein. Dann betrat er durch die Vordertür das Haus. Kurz darauf ging das Licht an, aber die Vorhänge blieben zu.
Abby hatte eigentlich genug gesehen, aber sie blieb noch, denn sie war neugierig auf Amanda, die sicher auch bald auftauchen würde.
Um Viertel nach sieben parkte ein Stück weiter ein weißer BMW ein. Die Frau, die zum Haus eilte, war sehr schlank, fast knochig, und ziemlich jung. Sie hatte einen Schlüssel in der Hand und wollte gerade die Haustür aufschließen, als Howard aufmachte und sie hineinließ.
Abby stieg aus, um sich die Beine zu vertreten und ihren Hintern wieder mit Blut zu versorgen, aber vor allem, um sich den BMW aus der Nähe anzusehen. Sie notierte sich das Kennzeichen und sah auf dem Armaturenbrett einen KPTI-Parkausweis, auf den die Worte März und Mitarbeiter gestempelt waren. Amanda Gilbert arbeitete bei Channel Eight. Sie war eine Kollegin von Kris und ihrem Wagen nach zu urteilen, hatte sie keinen schlechten Job.
Auf dem Weg nach Hollywood schaltete Abby ihr Handy ein. Über die Auskunft erfuhr sie die Nummer der KPTI-Telefonzentrale und rief dort an: »Ich habe einen Brief für Amanda Gilbert«, sagte sie, als die Telefonistin antwortete. »Können Sie mir bitte sagen, welche Position Sie hat?«
»Executive Producer«, erwiderte die Telefonistin.
»Nachrichtenredaktion?«
»Ja, genau.«
»Vielen Dank.« Abby legte auf.
Amanda war also Kris’ Executive Producer. Abbys Abneigung gegen Howard Barwood nahm mit einem Mal bedenkliche Ausmaße an. Mit wem er ein Techtelmechtel hatte, sollte ihr eigentlich egal sein. War es aber nicht, denn instinktiv wusste sie, dass es ihm erst den richtigen Kick gab, mit Kris‘ Chefin rumzumachen. Ein Gefühl der Macht über seine Frau, das keine kleine Angestellte und kein Callgirl ihm hätte verschaffen können.
Sie fuhr auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums, wo es ein Münztelefon gab. Was sie zu sagen hatte, war zu heikel fürs Handy. Sie wählte Travis’ Büronummer, da sie davon ausging, dass er noch arbeitete. Seine Assistentin war offensichtlich schon gegangen, denn er meldete sich selbst.
»Der Bungalow ist Howards Liebesnest«, berichtete sie im Flüsterton. »Er trifft sich dort mit seiner Geliebten.«
»Und wer ist sie?«
»Ist das wichtig? Falls nicht, würde ich sie lieber raushalten. Ausschlaggebend ist, dass der Bungalow Howard gehört. Das heißt, ihm gehört auch Trendline, und das wiederum bedeutet, dass er mit ziemlicher Sicherheit einen Teil ihres Vermögens ins Ausland schafft, ohne dass Kris etwas davon weiß.«
»Also hätte er ein Motiv, Kris aus dem Weg zu räumen.«
»Stimmt. Er fühlt sich durch seine Ehe behindert. Es sieht aus, als wollte er einen neuen Anfang machen. Ich glaube nicht, dass er von sich aus geplant hätte, Kris zu ermorden. Aber als Hickle aufgetaucht ist, hat er eine Chance gewittert.« Abby seufzte erschöpft. »Weißt du noch, wie besorgt er um meine Sicherheit war? Er hat gefragt, ob ich allein arbeite oder Verstärkung habe. Ich dachte, es wäre einfach nur aus Ritterlichkeit – oder Sexismus, je nachdem, wie man es betrachtet. Aber vielleicht wollte er nur herausfinden, ob er leicht mit mir fertig wird.«
»Es ist auch gut möglich, dass er derjenige war, der dich überfallen hat. Nach unseren Aufzeichnungen ist er Mittwoch um 18:00 Uhr in Malibu weggefahren und erst kurz nach Mitternacht zurückgekommen – später als sonst.«
»Ich bin so gegen zehn oder halb elf in den Whirlpool gestiegen.«
»Das passt. Und als es nicht geklappt hat, hat er dich Hickle an Messer geliefert, damit der die Sache erledigt.«
»War Howard gestern Abend auch unterwegs? Der Anruf bei Hickle kam um halb neun.«
»Howard war von halb sieben bis elf nicht zu Hause.«
»Aha. Vielleicht war er zuerst im Bungalow und hat später bei Hickle angerufen. Und zwar mit dem Handy von Western Regional, weil das nicht so leicht mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte. Er musste ja damit rechnen, dass Hickles Telefon abgehört wird. Und da wir gerade davon reden …«
Travis fiel ihr ins Wort. »Wir suchen noch immer eine Verbindung zwischen Western Regional und Trendline. Bisher vergeblich, aber zwei von unseren Computergenies bringen gerade ihre Modems zum Glühen. Echte Profis. Die decken jedes noch so gut verborgene Geheimnis auf.«
Auch meine Geheimnisse?, fragte sie sich. Stattdessen sagte sie: »Und was ist mit Hickle? Ruft er noch genauso oft an oder vielleicht sogar öfter?«
»Im Gegenteil, totale Funkstille. Er hat den ganz Tag nicht angerufen, weder bei Kris zu Hause noch im Studio. Und sie ist ziemlich beunruhigt.«
»Dazu hat sie auch Grund. Du solltest die Sicherheitsmaßnahmen verstärken.«
»Mache ich. Wo bist du gerade?«
»Auf dem Weg nach Hollywood und du kannst mich auch nicht davon abhalten.«
»Das würde ich niemals versuchen.« Sie hörte ihn seufzen. »Viel Glück, Abby. Und sei bitte vorsichtig.«
»Bin ich doch immer«, sagte sie.
In Hickles Wohnung brannte Licht, als sie auf den Parkplatz des Gainford Arms fuhr, und sein Golf stand an seinem Stammplatz. Sie war froh, dass er zu Hause war. Wenigstens bedeutete das, dass er nicht in Malibu vor dem Haus der Barwoods auf der Lauer lag.
Sie fuhr nach oben und als sie gerade den Schlüssel herausholte, kam Hickle aus seiner Wohnung. »Da sind Sie ja«; sagte er.
Ihr fiel sofort auf, dass er die rechte Hand seltsam verrenkt hinter dem Rücken hielt, als würde er etwas verbergen. Alles Mögliche schoss ihr durch den Kopf: Flinte, Pistole, Glas mit Batteriesäure …
Sie hatte ihre Tür noch nicht aufgeschlossen und Hickle war nur einen halben Meter entfernt. Sie saß in der Falle. An die Smith & Wesson in ihrer Handtasche kam sie so schnell nicht heran.
Hickle lächelte, aber es war ein gezwungenes, künstliches Lächeln. »Ich habe auf Sie gewartet«, sagte er.
»Ach, wirklich?« Sie hängte die Tasche auf die rechte Schulter und legte zwei Finger auf den Verschluss.
»Ja, ich habe eine Überraschung für sie.« Er machte einen Schritt auf sie zu und sein Arm schnellte hinter seinem Rücken hervor.
Jetzt sah sie, was er dahinter verborgen hatte. Keine Säure und keine Waffe. Es war eine große Papiertüte mit der Aufschrift Shanghai Palace.
»Ich hoffe, Sie haben noch nicht gegessen«, sagte Hickle. »Ich habe was vom Chinesen mitgebracht.«