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Abby sah, wie Travis plötzlich hoch blickte und sich sein Gesichtsausdruck fast unmerklich veränderte. Er sagte irgendetwas, das sie nicht verstand, denn sie war zu sehr damit beschäftigt, die Veränderungen in seinem Gesicht zu interpretieren. Und das sprach Bände. Es war, als würde sie den roten Laserpunkt auf ihrem Rücken mit eigenen Augen sehen.

Einen Sekundenbruchteil später ging das Gewehr los, aber Abby war schon nicht mehr in der Schusslinie.

Sie ließ sich fallen und kam hart auf dem Beton auf, während die Kugel über ihren Kopf hinwegsauste und das Metallgeländer traf. Dann knallte ein zweiter Schuss, aber Abby rollte noch rechtzeitig zur Seite und durch die Türöffnung in den dunklen Flur.

Wieder fiel ein Schuss. Abby richtete sich halb auf und machte einen Satz weiter in den dunklen Flur hinein, wo Hickle sie nicht sehen konnte.

Aber Travis konnte sie sehen. Er leuchtete mit der Taschenlampe herein und plötzlich stand sie in einem Lichtkegel. Sie hörte drei Schüsse. Eine Handfeuerwaffe. Travis hatte die Beretta gezogen. Sie wirbelte herum und schoss zweimal, dann rannte sie geduckt in die nächste Türöffnung.

Sie fand sich in einem dunklen, fensterlosen Büroraum wieder. Nach dem, was sie im Licht der Taschenlampe hatte erkennen können, lag das Büro am Kreuzpunkt zweier Flure, dem kurzen, der vom Treppenhaus abging, und einem größeren, der rechtwinklig zum ersten verlief. Vielleicht gab es irgendwo noch eine Tür, die auf den anderen Flur hinausging. Blind tastete sie sich an Gipskartonwänden entlang.

Sie hatte die Sache vermasselt. Warum hatte sie Travis nicht schon früher zum Kehrtmachen gezwungen? Sie hätte doch damit rechnen müssen, dass Hickle ins Treppenhaus kommt. Falls sie diese Nacht nicht überlebte, war sie selbst schuld. Aber das war nun auch egal. Sie musste einfach versuchen, am Leben zu bleiben.

Sie tastete sich weiter durch die Dunkelheit vor, auf der Suche nach einem Ausgang, den es vielleicht gar nicht gab. Plötzlich hörte sie im Flur Geräusche. Laute Schritte. Zwei Personen. Durch die Tür, die sie benutzt hatte, sah sie das unstete Licht der Taschenlampe. Travis und Hickle. Sie jagten sie gemeinsam.

Gebückt drückte sie sich an die Wand und hob die Waffe an. Falls sie so leichtsinnig waren, in den Raum zu stürmen, würde sie losballern.

Aber sie kamen nicht herein. Sie sah den Strahl der Taschenlampe an der Türöffnung vorbeigleiten, und dann kam plötzlich Licht von der anderen Seite. Nur gut einen Meter von der Stelle entfernt, an der sie kauerte, befand sich tatsächlich eine zweite Tür. Travis mit seiner Taschenlampe hatte sie vor ihr gefunden.

Sie presste ihr Ohr an die Wand. Die bestand hier nur aus billigen, an Holzpfosten verschraubten Sperrholzplatten, die jedes Geräusch durchließen. Sie hörte Flüstern, aber zu leise, um es zu verstehen. Anscheinend standen Travis und Hickle an der Ecke des Büros, wo sie beide Flure und beide Ausgänge im Auge behalten konnten. Wenn sie versuchte, durch eine der beiden Türöffnungen zu fliehen, würden sie sie abknallen.

Zwei gegen eine. Sie saß in der Falle. Die beiden redeten offenbar darüber, was sie jetzt machen sollten.

Abby hielt sich eigentlich für eine Optimistin, aber sie musste sich eingestehen, dass es gar nicht gut für sie aussah.

 

»Wo zum Teufel steckt sie denn?«

»Immer mit der Ruhe.«

»Wo steckt sie, verdammt?«

»Sie versteckt sich in diesem Raum. Wir haben sie in der Zwickmühle. Beruhig dich, Raymond.«

Hickles Ohren klangen noch von den Schüssen. Das Echo im Treppenhaus hatte das Krachen verstärkt und er konnte Travis‘ Flüstern immer noch nicht richtig verstehen. Aber Travis hatte recht, er musste die Ruhe bewahren. Genau … ganz ruhig bleiben … und Abby umbringen.

Sie standen zusammen an einer Ecke, wo sich zwei Flure trafen. Travis war vorgerannt und Hickle war ihm gefolgt, weil er sich instinktiv auf Travis‘ größere Erfahrung in solchen Situationen verließ. Trotzdem konnte er es sich nicht verkneifen, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er nicht immer die Oberhand gehabt hatte.

»Sie hatte dich bei den Eiern, Mann«, flüsterte Hickle. »Ich hab dir den Arsch gerettet.«

»Ja, du hast mich gerettet.« Im harten Licht der Taschenlampe schien Travis‘ Gesicht nur aus Höhlen und Furchen und dem starren Blick seiner leuchtenden Augen zu bestehen. »Du hast was gut bei mir. Vielleicht gebe ich dir nachher einen aus. Aber im Moment haben wir dringendere Probleme. Abby sitzt zwar fest, aber sie ist nicht wehrlos. Sie hat eine Achtunddreißiger mit fünf Schuss und in der Tasche einen Speedloader mit noch mal fünf Schuss.«

»Woher weißt du, was sie in ihrer Tasche hat?«

»Weil ich sie kenne. Den Speedloader hat sie fast immer dabei. Zwei Kugeln hat sie schon vergeudet, also hat sie noch acht. Wie sieht’s bei dir aus?«

»Auch noch acht Schuss.«

»Keine Ersatzpatronen?«

»Nicht bei mir. Oben in meiner Tasche.«

»Acht Schuss reichen auch, aber geh vorsichtig damit um. Meine Beretta war vollgeladen – sechzehn Patronen im Magazin und eine in der Kammer. Drei habe ich abgefeuert, also habe ich noch vierzehn. Zusammen haben wir zweiundzwanzig und sie acht. Wenn wir es richtig anstellen, bringen wir sie dazu, ihre restliche Munition zu verballern. Dann stürmen wir rein und erledigen sie.«

Hickle leckte sich die Lippen. »Okay, also was machen wir?«

»Du gehst zu ersten Tür, ich zur zweiten. Wie feuern abwechselnd in das Büro. Immer nur einen Schuss. Mit etwas Glück erwischen wir sie. Soweit ich sehen konnte, gibt’s da drin keine richtige Deckung. Es ist ein leerer Raum. Selbst wenn wir sie nicht treffen, muss sie zurückschießen. Und wir zählen ihre Schüsse mit. Wenn sie alle acht Kugeln verbraucht hat, ist sie erledigt.«

»Warum gehen wir nicht schon nach ihrem dritten Schuss rein? Dann muss sie doch erst mal nachladen.«

»Wahrscheinlich hat sie die verschossenen Patronen schon längst ersetzt. Wir gehen besser auf Nummer sicher. Kein unnötiges Risiko! Nicht bei ihr.« Travis schaltete die Taschenlampe aus und es wurde stockfinster. Seine Stimme klang wie das Raunen eines Gespensts: »Denk dran, immer nur ein Schuss. Sei sparsam mit der Munition. Es geht darum, länger auszuhalten als sie.«

»Schon verstanden«, flüsterte Hickle mit zusammengebissenen Zähnen. Er konnte es kaum abwarten. In diesem Moment hasste er Abby noch mehr als Kris. Sie totzumachen würde sich einfach verdammt gut anfühlen.