28
Als Hickle weg war, öffnete Abby den Schlafzimmerschrank.
Videorekorder und Tonbandgerät hatten ununterbrochen aufgenommen, aber der Fernseher war aus und der Ton der Stereoanlage heruntergedreht.
Sie schaltete den Fernseher an und drehte den Ton hoch, dann setzte sie sich auf den Boden, schlug die Beine übereinander und lehnte sich gegen das Bett. Auf dem Bildschirm lief Hickle in seinem Wohnzimmer hin und her und machte sich dann in der Küche etwas zu essen. Sie fragte sich, ob sein Hunger eine Stressreaktion war oder ob er vorher einfach nicht genug gegessen hatte.
Er aß im Stehen in der Küche, wo ihn die Kamera nur knapp erfassen konnte. Anschließend stellte er die Schüssel ins Spülbecken und ging ins Schlafzimmer. Abby sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor zehn. Kris‘ Sendung begann in zwanzig Minuten. Die würde er bestimmt nicht verpassen wollen.
Aber er kam nicht aus dem Schlafzimmer zurück. Und die Abhörgeräte nahmen keine Geräusche auf. Während sie wartete, hatte sie so ein kribbeliges Gefühl, als könnte es Probleme geben.
Sie sah erneut auf die Uhr. Fast zehn. Er ließ sich immer noch nicht blicken. Seltsam. Unheimlich. Er sah sich sonst immer Kris‘ Sendung an. Dieser Teil seiner täglichen Routine war ihm absolut heilig.
»Was ist los, Raymond?«, flüsterte sie. »Was führst du im Schilde?«
Sie drehte den Ton auf. Ganz schwach konnte sie ein Geräusch ausmachen, leise und kontinuierlich. Schwierig zu definieren. Eine Art Gemurmel.
War es ein Ventilator? Sie hatte keinen gesehen. Es hörte sich auch nicht nach einem elektrischen Motor an. Eher wabernd, fluktuierend.
Sie drehte den Ton bis zum Anschlag auf und ging ganz nah an die Lautsprecher heran, aber das Grundrauschen, das in jeder akustischen Umgebung existierte, schwoll zu einem hohen, stetigen Surren an und das Gemurmel war kaum deutlicher als vorher.
»Er hat sich auf Kris fixiert, weil sie seinem weiblichen Ideal entspricht, dem, was er den Look nennt. In seiner Fantasie ist sie eine ausgereifte, perfekte Version von Jill Dahlbeck, ebenfalls blond und blauäugig. Allerdings hat er sich diesmal eine Frau ausgesucht, die sich in jeder Beziehung von Jill unterscheidet. Sie ist prominent, verheiratet, reich und älter als er. Sie soll unerreichbar sein. Er will in seinen Bemühungen um sie scheitern, denn diese Demütigung liefert ihm die Rechtfertigung, die er braucht, um sie auszulöschen. Und um sich selbst auszulöschen …«
Auf dem Bett ausgestreckt hörte Hickle zu. Magenkrämpfe quälten ihn. Er drehte sich auf die Seite und rollte sich in Embryonalhaltung zusammen.
»Was sieht er in Kris Barwood wirklich? Die Geliebte seiner Träume, die ideale Ehefrau und, ohne Freud allzu sehr strapazieren zu wollen, auch eine Mutterfigur – eine Autoritätsperson, älter als er, mit Mann und eigenem Heim. Sie verkörpert alle Aspekte des Weiblichen, von der Verführerin über die Lebensgefährtin bis hin zur fürsorglichen Ernährerin. Außerdem ist sie eine herausragende Persönlichkeit, die all diese Rollen in sich vereinen kann. Ihr Gesicht erscheint im Fernsehen, auf Plakaten und Titelblättern. Sie ist allgegenwärtig. Sie ist die Frau an sich. Eine Gewalttat gegen sie wäre zugleich ein Angriff auf den Archetypus des anderen Geschlechts, das Hickle so hasst und fürchtet. Vive la différence ist nicht gerade sein Wahlspruch.«
Abbys Stimme sezierte ihn, kühl und analytisch. Aber es war eine Vivisektion, denn sie schnitt ihn bei lebendigem Leibe auf. Ohne Betäubung. Nichts, um ihm den Schmerz zu nehmen.
»Kris als Person ist ihm vollkommen gleichgültig, denn er sieht sie nicht als Person, nur als Symbol. Hickles Welt besteht nur aus Symbolen, Bildern und Fantasien. Fernsehen und Hochglanzmagazine sind sein einziger Bezug zur Gesellschaft. Vielleicht unterscheidet er sich gar nicht so sehr von vielen anderen Menschen. Er würde mir sogar leidtun, wenn er nicht so gefährlich wäre …«
Er würde ihr leidtun. Leidtun.
Wie kam sie dazu, ihn so verurteilen? Sie war diejenige, die sich schämen sollte. Sie war es doch, die Lügengeschichten über eine kaputte Beziehung erzählte. Sie war es doch, die ihn in der Waschküche abgepasst und dazu gebracht hatte, über seine Lieblingssendung zu reden. Sie war es, die sich einen Tunnel in das Leben anderer grub, herumschnüffelte und Geheimnisse aufdeckte. Sie war eine Lügnerin, eine Verräterin, eine hinterhältige kleine Nutte und sie verdiente … sie verdiente …
Die Schrotflinte.
Ja, die Schrotflinte, die hatte sie verdient. Absolut.
Hickle setzte sich auf. Die Aufnahme lief weiter, aber er hörte gar nicht mehr zu.
Sie war eine gottverdammte Schlampe. Sie hatte ihn hintergangen und manipuliert, sie hatte ihn bespitzelt, für seine Feinde gearbeitet und Kris von ihm berichtet. Und sie hatte es so geschickt angestellt, dass er es ohne seinen Freund JackKeck vielleicht nie herausgefunden hätte.
Ein anonymer Informant, der sich hinter einem Kinderreim versteckte, war der einzige Mensch, dem er trauen konnte, der einzige Mensch, der die ganze Zeit ehrlich zu ihm gewesen war. Alle Informationen von Jack hatten sich als richtig erwiesen. All seine Tipps waren nützlich gewesen. Und hatte Jack ihm nicht gesagt, was er zu tun hatte?
Zuerst Abby, dann Kris.
Alle beide. Tot.
Jetzt sofort, kein Zögern mehr.
Er stand auf und schloss den Kleiderschrank auf, zerrte die Reisetasche hervor und holte die Schrotflinte heraus. Er prüfte, ob sie geladen war.
Blammo. Abby weg.
Blammo. Kris weg.
Heute Abend würde er endgültig einen Schlussstrich ziehen. Er würde siegen und sie würden untergehen.
Die Kassette lief immer noch. Abbys Stimme ein Flüstern zwischen den Falten seiner Bettdecke. Aber er hatte genug gehört.
Um das undefinierbare Geräusch zu isolieren, filterte sie alle Frequenzen über acht Kilohertz heraus. Dadurch wurde das Surren leiser, verschwand aber nicht ganz. Sie schob die Regler des Equalizers für die hohen Frequenzen nach unten, die für die mittleren nach oben.
Sie versuchte, das Surren zu unterdrücken, aber nicht das Murmeln. Das war gar nicht so einfach, denn beide Geräusche lagen in ähnlichen Frequenzbereichen. Sie nahm weitere winzige Abstimmungen vor, bis das Murmeln etwas deutlicher wurde. Es war eine menschliche Stimme.
War es Hickle, der irgendetwas in seinen Bart nuschelte?
Nein, es musste etwas anderes sein. Vielleicht hörte er Radio, aber sie hatte in seinem Schlafzimmer keins gesehen.
Dann hörte sie weitere Geräusche. Sie verharrte auf den Knien vor der Stereoanlage, ein Ohr dicht am Lautsprecher.
Sie hörte das Bett quietschen. Schritte. Eine Tür ging auf. Etwas wurde kurz über den Boden geschleift.
»Was machst du da, Raymond?«, flüsterte sie.
Wieder Schritte. Voller Erwartung blickte sie auf den Bildschirm, aber er tauchte nicht im Wohnzimmer auf.
Dann hörte sie etwas klappern und auf dem Boden aufschlagen … dann nichts mehr, nur das Hintergrundsurren und etwas leiser das Murmeln.
Die menschliche Stimme bewegt sich hauptsächlich in einem Frequenzbereich zwischen 1,5 und 2,5 Kilohertz. Abby verstärkte diese Frequenzen und drehte die höheren weiter herunter, bis das Surren vollkommen verschwand und das rätselhafte Geräusch deutlich hervortrat.
Es war ihre eigene Stimme.
»… hängt davon ab, ob er den Mut hat, in die Tat umzusetzen, was bisher nur eine brutale Rachefantasie ist, die er sich in allen Details …«
Ihre Diktafonaufnahmen.
Hickle hatte offensichtlich das Gerät mitgehen lassen.
Er hörte sich die Aufnahmen an.
Und wusste alles.
Abbys Waffe war in ihrer Handtasche und die lag im Wohnzimmer. Im Aufstehen drehte sie sich herum … zu spät.
Durch das Schlafzimmerfenster sah sie Hickle. Auf der Feuertreppe, die Flinte in der Hand.
Er zielte auf sie. Sie duckte sich hinters Bett. Jetzt hatte er zwar keine freie Schusslinie mehr, aber sie hatte nur ein paar Sekunden gewonnen. Das Fenster stand offen, er musste nur das Fliegengitter eindrücken und einsteigen.
Irgendwo im Hinterkopf kam ihr der Gedanke, dass die letzte Frage ihrer mentalen Liste nun beantwortet war.
Würde seine Angst ihn von einer Gewalttat abhalten?
Offensichtlich nicht.
Sie lag flach auf dem Bauch und hörte das Knirschen des Drahtgeflechts und ein Klappern, als das Fliegengitter zu Boden fiel. Jetzt verstand sie auch die Geräusche von vorhin: das Klappern, als er das Fliegengitter vor seinem eigenen Fenster entfernt hatte, und den Aufschlag, als er es auf den Boden geworfen hatte.
Er stieg durch ihr Schlafzimmerfenster. Sie hörte, wie seine Kleidung sich am Fensterrahmen rieb.
Sie musste irgendwie ihren Revolver im Wohnzimmer erreichen. Aber wenn sie ihre Deckung verließ, würde er sie mit einem Schuss töten.
Also gut, kriech unters Bett! Vielleicht hätte sie ja genug Zeit, sich auf der anderen Seite wieder darunter hevorzuschlängeln, bevor er merkte, wo sie war.
Guter Plan, aber das Bett war zu niedrig. Sie schaffte es einfach nicht, sich darunter zu zwängen.
Sie saß in der Falle. Er kam auf sie zu. Sie konnte seine Schritte auf den Dielen spüren.
Ihr blieb nur zu kämpfen. Sie hatte gelernt, wie man sich in einer ungünstigen Position verteidigt. Und eine ungünstigere Position konnte sie sich kaum vorstellen.
Als Hickle um das Bett herumging, sprang sie auf und duckte sich unter den Lauf der Flinte, stieß ihren rechten Arm hoch und zielte mit den Fingerknöcheln auf seinen Kehlkopf.
Er wich aus, ihre Hand streifte ihn seitlich am Hals, er taumelte zurück und hob die Waffe an.
Sie trat nach seinem rechten Arm und traf ihn am Ellbogen. Er ließ die Flinte fallen.
Er darf sie nicht aufheben. Mach ihn fertig!
Sie ließ einen Wutschrei los und stieß mit der flachen Hand auf sein Gesicht zu, er wich blitzschnell aus, sie verfehlte ihn und verlor das Gleichgewicht.
Er packte sie bei den Haaren und warf sie aufs Bett. Er bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er die Flinte in den Händen.
Sie versuchte zu entkommen, aber da war er schon auf ihr und hielt ihr die Mündung der Flinte ins Gesicht.
»Man wird es hören«, keuchte sie. »Nur ein Schuss, und jeder im Haus wird es hören.«
Sie wusste nicht, woher die Worte kamen, und sie schienen auch nicht zu ihm durchzudringen.
Er würde den Zeigefinger krümmen und ihr Leben wäre vorbei. Sie machte sich darauf gefasst.
Aber er drückte nicht ab.
Er zog die Flinte leicht zurück. Sie wartete.
»Da könntest du recht haben, Abby.« Hickle sprach so leise und ihr Puls hämmerte so heftig, dass sie ihn kaum verstand. »Falls das dein richtiger Name ist.«
»Ja, ist er.«
»Gut. Wenigstens ist nicht alles gelogen.«
»Wir müssen reden, Raymond.«
»Dann rede.«
Sie leckte sich die Lippen. Sie schmeckten nach dem Schmiermittel auf der Mündung der Flinte. Absurderweise reizte es sie zum Niesen. »Kannst du das Ding nicht weglegen? Ich glaube, ich bin allergisch dagegen.«
Er machte einen Schritt vom Bett weg, ließ den Kolben der Flinte los und packte sie am Lauf.
»Okay«, sagte sie. »Du bist mir also auf die Schliche gekommen.«
»Sieht ganz so aus.«
»Du bist ganz schön clever, Raymond. Ich habe dich unterschätzt.«
»Ja.«
»Und nun, da ich weiß, wie clever du bist, ist alles anders. Ich kann dir reinen Wein einschenken.«
»Also gut, erzähl mir, was los ist.«
»Ja, ich werde dir alles erzählen.« Langsam bekam sie die Situation unter Kontrolle. Einen Augenblick lang hatte es gar nicht gut ausgesehen, aber dieser Augenblick war vorüber. Jetzt hatte sie wieder mehrere Möglichkeiten.
Sie setzte sich auf und überlegte, was sie sagen sollte, da holte Hickle aus und schlug ihr den Flintenschaft auf den Kopf.