16
Um Viertel nach fünf fand Abby Hickle in der Waschküche des Gainford Arms, wo er gerade seine Sachen aus dem Trockner holte. »Hallo Nachbar«, sagte sie. »Dass ich Sie hier treffe …«
Hickle wurde rot. »Wie klein die Welt doch ist«, war alles, was er herausbrachte.
Sie belohnte seinen Humorversuch mit einem Lächeln. Aber ihre Begegnung war kein Zufall. Nachdem sie von TPS zurückgekommen war, hatte sie sich das Überwachungsvideo von Hickles Wohnung im Schnelldurchlauf angesehen. Das Video hatte einen Zeitstempel, deshalb wusste sie, dass er seine Wohnung genau um 16:27 Uhr mit einem Wäschekorb verlassen hatte. Hastig hatte sie ein paar Kleider in eine Plastiktüte gestopft und war in den Keller gefahren. Sie fand, es würde natürlicher aussehen, wenn sie ihm dort über den Weg lief, als wenn sie wieder eine zufällige Begegnung im Flur inszenierte.
»Was kostet eine Maschine Wäsche hier?«, fragte sie und lud den Inhalt ihrer Tasche in eine große Waschmaschine.
»Fünfundsiebzig Cent.«
»Na, dann fange ich besser an, Vierteldollar zu sammeln. Ich habe nämlich nicht viel zum Anziehen. Wenn ich was Sauberes will, muss ich ständig waschen.«
Er antwortete nicht. Er holte die letzten Kleidungsstücke aus dem Trockner. Offensichtlich hatte er es eilig zu verschwinden. Sie wusste, dass sie ihn nervös machte – Frauen im Allgemeinen. Trotzdem, so einfach wollte sie ihn nicht davonkommen lassen. Sie würden zusammen ausgehen, auch wenn er noch nichts davon wusste.
»Ich habe nur ganz schnell ein paar Sachen zusammengepackt«, fuhr sie fort, als wäre sein Schweigen das Normalste von der Welt. »Ich bin ziemlich überstürzt abgehauen und habe die meisten Sachen dagelassen.«
Das sollte seine Neugier wecken. Tat es auch. Er sah vom Trockner auf. »Hört sich an, als wären Sie ziemlich spontan umgezogen.«
»Sehr spontan. Ich habe vier Koffer mit dem Nötigsten gepackt, sie in meinen Wagen geworfen und mich davongemacht.«
»Sie sind doch nicht etwa auf der Flucht vor dem Gesetz, oder?«
Es klang zwar ernst, aber sie war sich sicher, dass es als Scherz gemeint war, deshalb lachte sie nur. »Auf der Flucht vor meinen Problemen, würde ich sagen.«
»Sie haben … Probleme?«
»Hat die nicht jeder?«
»Manchmal denke ich, ich bin der Einzige.«
»Nein, das kommt Ihnen nur so vor. Kein angenehmes Gefühl, was?«
Er wandte seinen Blick ab und murmelte: »Nein, wirklich nicht.« Er schien verlegen, als hätte er zu viel von sich preisgegeben. Er hob den Wäschekorb auf und schickte sich an zu gehen. »Also … bis später.«
»He, wissen Sie vielleicht, wo man hier in der Nähe was Anständiges zu essen bekommt?«
Verunsichert von dem plötzlichen Themenwechsel, begann Hickle, mit den Lidern zu flattern.
»Gestern Abend habe ich nur Cracker mit Käse gegessen. Aber da Sie in einem Restaurant arbeiten, kennen sie sich wahrscheinlich in der Gastronomieszene hier aus. Ich suche möglichst was Leckeres mit wenig Fett, das meinen Cholesterinspiegel nicht in stratosphärische Höhen treibt.«
Sie wartete und hoffte, er würde nicht so sehr in Panik geraten, dass er kein Wort mehr herausbrachte.
Schließlich sagte er: »Wie wär’s mit The Sand Which Is There?” Abby bat ihn, den Namen zu wiederholen. Er tat es und sprach ganz langsam, wobei er das Wortspiel besonders betonte. »Es ist in Venice am Boardwalk.«
»Großartig. Vielleicht könnten wir ja zusammen hingehen. Sagen wir, um Viertel vor sechs? Allein zu essen macht doch keinen Spaß.«
Er war offenbar dermaßen überrascht von diesem Vorschlag, dass er zuerst gar nicht wusste, was er sagen sollte. Er schien nach einer Ausrede zu suchen, einem triftigen Grund, ihre Einladung auszuschlagen, denn der Gedanke, den Abend mit einer Frau zu verbringen, irgendeiner Frau, machte ihm wahrscheinlich schreckliche Angst.
Trotzdem brauchte er jemanden, mit dem er reden konnte. Das spürte sie. Er war schon ein wenig aus sich herausgekommen und sie bot ihm die Möglichkeit, sich noch weiter zu öffnen. Wenn er nur darauf eingehen würde. Sie wartete.
»Also gut«, sagte er schließlich, »warum auch nicht?«
Sie entspannte sich. »Großartig. Ich klopfe dann bei Ihnen. So um zehn vor sechs?«
»Okay, zehn vor sechs. Kein Problem …«
Er war schon auf dem Rückzug, den Wäschekorb im Arm. Er floh zur Tür hinaus und sie konnte seine Schritte auf der Treppe hören.
So weit, so gut. Abby lächelte.
Da sie die Waschmaschine nun schon angestellt hatte, konnte sie sie auch durchlaufen lassen. Es war keine Lüge, als sie zu Hickle gesagt hatte, sie habe nur wenig Kleidung dabei. Sie hatte vier Koffer mitgenommen, aber die beiden größeren waren mit allerlei elektronischen Geräten und anderen Dingen, die sie für ihre Arbeit brauchte, vollgestopft gewesen.
Die Maschine brummte und ratterte, und die Wäsche klatschte rhythmisch gegen das Bullauge. Sie setzte sich hin und schaute zu, wie ihre Kleider in der Seifenlauge herumwirbelten. Die wechselnden Muster erinnerten sie an ein Kaleidoskop. Als kleines Mädchen hatte ihr Vater ihr eins geschenkt. Fasziniert von den ständig wechselnden Mustern, hatte sie stundenlang damit gespielt. Jetzt als Erwachsene studierte sie immer noch Muster – Verhaltensmuster, Körpersprache, Ausdrucksweise. Manche Muster waren leicht zu erkennen, etwa die Auswahl von Büchern in Hickles Schlafzimmer. Andere waren subtiler, zum Beispiel, wie er gefragt hatte, ob sie Schauspielerin sei. Jill Dahlbeck war Schauspielerin gewesen …
Moment.
Sie erstarrte, denn plötzlich spürte sie, dass da noch jemand war.
Sie drehte sich um und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, über Waschmaschinen und Trockner, die fensterlosen Ziegelwände und die nackten Glühbirnen, die von der niedrigen Decke hingen. Aber sie konnte niemanden entdecken. Trotzdem war sie sich sicher, dass sie nicht allein war.
Sie öffnete ihre Handtasche und griff nach ihrer Smith & Wesson, zögerte dann aber. Das Mitführen verborgener Schusswaffen war verboten und sie wollte nicht, dass die Leute im Haus etwas davon mitbekamen.
Sie ließ den Revolver in der geöffneten Handtasche, wo er jederzeit griffbereit war.
»Hallo?«, rief sie.
Ihre Stimme übertönte das Rumpeln der Waschmaschine, aber niemand antwortete.
Sie drehte sich langsam um sich selbst, um jeden Winkel zu inspizieren. Aber außer ihr war niemand da.
Falls jemand sie beobachtet hatte, war er jedenfalls nicht mehr in der Waschküche. Vielleicht war er nach oben gegangen. Oder er versteckte sich nebenan im Heizungskeller.
Aber wer? Hickle etwa? Oder ihr Angreifer von gestern? Oder war sie einfach überreizt und bildete es sich nur ein?
Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Vorsichtig ging sie auf die Tür zu. Als sie auf der Schwelle stand, griff sie in ihre Handtasche und legte den Zeigefinger um den Abzug der Waffe.
Die Treppe zur Eingangshalle befand sich rechts. Der Heizungskeller war links. Die Tür stand offen. Im Innern war es dunkel, aber sie konnte drei große Kessel ausmachen, die vor sich hinzischten.
Sie tastete an der Innenwand nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Dann ging sie hinein. Sie hatte zwar eine Taschenlampe in der Handtasche, aber sie konnte sie nicht rausholen, ohne die Waffe loszulassen, und die war im Moment wichtiger.
Ein großer, muffiger Raum. Betonboden, Ziegelwände, Spinnweben. Jemand konnte irgendwo in einer Ecke hocken. Sie würde ihn nicht sehen.
»Hallo?«, sagte sie wieder. »Ist hier jemand?«
Nichts.
Sie wagte sich in die Mitte des Raums vor. Die Heizungskessel befanden sich an der gegenüberliegenden Wand. Große, gasbefeuerte Teile, von denen jeder wahrscheinlich dreihundert Liter fasste. Sie streckte ihre Hand aus und berührte die glatte Oberfläche eines der Wassertanks.
Sie hatte gedacht, jemand könnte sich hinter den Kesseln verstecken, aber als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass sie direkt vor der hinteren Wand standen und sogar daran festgeschraubt waren. Eine Vorsichtsmaßnahme, damit bei einem Erdbeben die Gasleitungen nicht beschädigt wurden.
Aber zu beiden Seiten der Kessel hätte sich jemand verstecken können. Als sie sich einen Schritt weiter vorwagte, streifte etwas ihr Haar. Einen Moment lang war sie wieder im Whirlpool, wurde unter Wasser gedrückt …
Nein. Keine Hand, kein Angreifer. Nur eine dünne Kette, die von der Decke hing. Sie diente dazu, das Deckenlicht ein- und auszuschalten. Deshalb hatte Abby keinen Schalter gefunden.
Sie zog an der Kette und die nackte Birne direkt über ihr erleuchtete den Raum.
Sie sah sich um und rechnete fast damit, angegriffen zu werden, aber es geschah nichts. Außer ihr war niemand hier. Sie war die ganze Zeit allein im Heizungskeller gewesen.
»Gott, Abby«, murmelte sie, »reiß dich zusammen!«
Es war wohl alles nur Einbildung. Vielleicht eine posttraumatische Reaktion auf ihr Nahtoderlebnis im Whirlpool. Oder vielleicht drehte sie auch langsam durch.
Abby verließ den Heizungskeller. Die Waschmaschine war fertig. Ihre Kleider waren klatschnass, aber sie konnte sie auch in ihrem Bad über der Wanne aufhängen. Vom Keller hatte sie wirklich genug.
Außerdem musste sie sich für ihren großen Ausgehabend fertigmachen.