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Der Arzt ließ auf sich warten, Aber als er schließlich gegen fünf Uhr nachmittags auftauchte, sagte er, alles sei in Ordnung und sie könne nach Hause gehen. Um halb sechs saß sie im Taxi Richtung Hollywood und sah die Straßen wie Schlieren vorbeiziehen. Die orangerote Sonne drang durch das Heckfenster und drückte ihr auf den Hinterkopf.

Nachdem Kris gegangen war, hatte sie sich die Nachrichten im Fernsehen angesehen. Hickle hatte erreicht, wonach er sich immer gesehnt hatte: Er war zu einer Berühmtheit geworden. Immer wieder unterbrach einer der Lokalsender sein Samstagnachmittagsprogramm für eine weitere überflüssige Sondermeldung und zeigte ein Foto von Hickle, das schon ein paar Jahre alt war und offenbar von einem Mitarbeiterausweis eines seiner vielen Jobs stammte.

Auch Howard Barwood war plötzlich berühmt. Ein Foto, das ihn bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung zeigte, war fast ebenso häufig zu sehen wie das von Hickle. Beide Männer waren immer noch spurlos verschwunden. Die einzige wirkliche Neuigkeit war, dass ein in der letzten Nacht in Malibu gestohlenes Auto in Sylmar im San Fernando Valley aufgetaucht war. Da der Wagen zurzeit von Hickles Flucht verschwunden war, vermutete man, dass er ihn gestohlen hatte. Wie lange der Wagen in Sylmar gestanden hatte und wo Hickle sich jetzt aufhielt, wusste niemand.

Das Taxi setzte Abby in der Nähe des Gainford Arms ab. Ihr Dodge stand immer noch in der Seitenstraße, wo Wyatt ihn abgestellt hatte. Sie öffnete die Tür, setzte sich hinein und startete.

Sie wollte nach Hause, aber vorher musste sie noch jemandem einen Besuch abstatten. Es war bereits sechs Uhr vorbei, als sie an der Polizeiwache Hollywood eintraf. Um diese Uhrzeit müsste Wyatt schon im Dienst sein.

Sie hasste es, eine Polizeiwache zu betreten. Je weniger Cops sie zu Gesicht bekamen, desto besser. Aber es gab da zwei Fragen, auf die sie Antworten suchte, und wenn sie persönlich vorbeikam, war Wyatt vielleicht eher bereit, ihr zu helfen.

Ihre Waffe und das Schlosserwerkzeug ließ sie im Handschuhfach, damit auf der Wache nicht der Metalldetektor anfing zu piepen. Am Eingang blieb sie stehen und blickte auf den großen Ball der untergehenden Sonne. Nachdem sie fast den ganzen Tag geschlafen hatte, kam es ihr seltsam vor, dass es schon wieder dunkel wurde. Sie fragte sich, was die Nacht wohl bringen würde.

Am Empfang fragte sie nach Sergeant Wyatt. Der diensthabende Officer sprach in ein Telefon und sagte dann, der Sergeant sei in einer Minute für sie da. Nach mehr als zehn Minuten tauchte Wyatt auf und führte sie in sein Büro am Ende des Flurs. Erst, nachdem die Tür geschlossen war, machte er den Mund auf.

»Abby, wie geht es Ihnen?«

Sie hob die Arme, um zu zeigen, dass noch alles funktionierte. »Als geheilt entlassen.«

»Sie sollten sich zu Hause ausruhen.«

»Ich bin ja auf dem Weg nach Hause. Haben Sie gerade erst Ihren Dienst angetreten?«

»Ja, deswegen mussten Sie auch warten. Zu Dienstbeginn weise ich immer meine Leute ein.«

»Sie meinen wie bei Polizeirevier Hill Street? Seid vorsichtig da draußen.«

Er lächelte. »So ungefähr. Ich sage ihnen immer, sie sollen sich verdammt noch mal in Acht nehmen.« Sein Lächeln verschwand. »Das sollte ich Ihnen wohl auch sagen.«

»Ich kann auf mich …« Sie verstummte.

»Sie können auf sich selbst aufpassen? Ich weiß, meistens.«

»Na gut, gestern war eine Ausnahme. Und da Sie mich gerettet haben, haben Sie natürlich auch das Recht, mir zu sagen, ich soll mich verdammt noch mal in Acht nehmen. Okay?«

»Okay.« Wyatt ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Also, warum sind Sie hier, Abby? Oder wollten Sie sich nur mal Ihre örtliche Polizeiwache ansehen?«

»Ich habe da ein paar Fragen.«

»Wieso überrascht mich das nicht? Gut, fragen Sie.«

»Hickle soll in Malibu ein Auto geklaut und in Sylmar stehen gelassen haben. Das haben die Medien berichtet. Aber er hat sich doch bestimmt ein anderes besorgt. Davon wurde nichts berichtet, keine Fahrzeugbeschreibung oder so was.«

»Und Sie glauben, wir wüssten, was für einen Wagen er jetzt fährt?«

»Vielleicht nicht mit absoluter Sicherheit, aber kommen Sie, Vic, wir reden von Sylmar, noch dazu freitagnachts. Da werden doch ständig Autos geklaut. In der fraglichen Zeit – so zwischen ein und drei Uhr –, da sind da doch garantiert ein, zwei Autos abhandengekommen.«

»Drei, um genau zu sein.«

»Ich muss alles über diese Autos wissen. In einem davon ist Hickle unterwegs, da bin ich sicher.«

Wyatt verengte die Augen und musterte sie lange. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, ihn zu suchen.«

»Nein …«

»Und wozu brauchen Sie dann diese Informationen?«

»Er hat versucht, mich umzubringen. Und er versucht es vielleicht wieder. Falls er immer noch hinter mir her ist, würde ich mich sicherer fühlen, wenn ich weiß, was für ein Auto er fährt.«

»Wie soll er Sie denn finden? Er kennt doch nur Ihre Adresse in Hollywood und dahin wollen Sie ja wohl nicht zurück.«

Abby zuckte mit den Schultern. »Haben Sie denn die Nachrichten nicht gesehen? Howard Barwood wird verdächtigt, mit Hickle gemeinsame Sache gemacht zu haben. Für Howard dürfte es wohl kein Problem sein, meine Adresse rauszufinden. Er kennt meinen richtigen Namen und er war früher im Immobiliengeschäft.«

Wyatt wandte den Blick ab, einen schmerzlichen Ausdruck im Gesicht. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Jetzt komme ich mir aber ganz schön blöd vor.«

»Wahrscheinlich hatten Sie andere Dinge im Kopf. Also, kann ich die Informationen haben?«

Er verließ das Büro und kam mit einem Fahndungsblatt zurück. »Bis wir genau wissen, welchen Wagen Hickle gestohlen hat, geben wir keine Informationen an die Medien weiter. Wir wollen vermeiden, dass irgendein Hitzkopf auf einen Jugendlichen schießt, der sich eins von den Autos für eine Spritztour ausgeliehen hat.«

»Ich habe nicht vor, auf jemanden zu schießen.« Abby schrieb sich die Informationen in ihren Notizblock. Drei Fahrzeuge waren gestohlen worden: ein Honda Civic, Baujahr 1996, ein Ford Mustang von 1987 und ein Chevrolet Impala von 1992.

»Das glaube ich Ihnen sogar«, sagte Wyatt, klang jedoch nicht so. »Aber falls Sie einen von diesen Wagen sehen, rufen Sie mich an. Spielen Sie bitte nicht die Heldin, nicht schon wieder.«

»Ich habe verstanden.« Sie klappte ihren Block zu und gab ihm das Fahndungsblatt zurück. »Eins noch: Wissen Sie, ob die Polizei von Culver City Howard Barwoods Bungalow beobachtet?«

»Gegenüber dem Haus steht ein Zivilfahrzeug. Falls er auftaucht, schnappen sie ihn sich. Kam der Hinweis von Ihnen?«

»Nein, von Travis. Ich habe ihn darum gebeten. Für den Fall, dass Howard abhaut.«

»Aber woher …« Wyatt ließ die Frage fallen. »Nein, ich will gar nicht wissen, wie Sie von dem Bungalow erfahren haben. Sie haben also damit gerechnet, dass er flieht.«

»Irgendwie schon. Er ist nicht sehr stark, eher wie ein Kind. Jemand, der nie erwachsen geworden ist und den so eine Krise völlig aus der Bahn wirft. Er ist in Panik geraten. Jedenfalls ist das meine Einschätzung.«

Wyatt nickte. »Das erinnert mich an unser Gespräch in der Bar. Als wir zu dem Schluss gekommen sind, dass die Leute in L. A. alles große Kinder sind. Aber dass einer versucht, seine Frau von einem Stalker abmurksen zu lassen, ist neu.«

»Die Menschen sind kompliziert«, sagte Abby leise und dachte an Travis und seine Annäherungsversuche bei Kris. »Und immer wieder für Überraschungen gut. Auch die Menschen, die man sehr gut zu kennen meint.«