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Hickle hockte vor dem Fenster, seine Muskeln vor Spannung ganz steif, den Blick starr auf Abbys Balkon gerichtet.
Sie war immer noch nicht da, und langsam hatte er das Gefühl, sie würde nie kommen. Vielleicht übernachtete sie woanders. Oder vielleicht hatte er Travis missverstanden und beobachtete die ganze Zeit schon das falsche Fenster. Dann hätte er schon wieder versagt.
»Niemals«, zischte er wütend.
Aus den Tiefen des Gebäudes hallte seine Stimme wider. Doch dann hörte er noch etwas anderes, weiter entfernt. Andere Stimmen.
Ganz schwach, aber eindeutig Stimmen, die durch die leeren Flure zu ihm drangen. Er war nicht allein.
Verzweifelt drückte Travis immer wieder ab.
Abby beobachtete ihn mit einem traurigen Lächeln. »Bist du jetzt fertig, Paul?«, fragte sie schließlich.
Langsam ließ er die Pistole sinken. Er sah sie blinzelnd an, und einen Moment lang war er nicht fähig zu sprechen. Dann flüsterte er: »Wie hast du das gemacht? Wie hast du … Was hast du …« Er war nicht in der Lage, den Gedanken zu Ende zu führen.
»Ganz einfach.« Sie hielt ihre Waffe fest auf seine Brust gerichtet. »Ich wusste, du wolltest Howard die Sache anhängen. Und sein Colt lässt sich zu ihm zurückverfolgen. Deshalb habe ich darauf spekuliert, dass du mit dieser Waffe hier auftauchen würdest.«
Mit dieser Waffe …
Aber er hatte doch zwei dabei. Er hatte noch die Beretta im Schulterhalfter …
Als er daran dachte, schüttelte Abby schon warnend ihren Kopf. »Versuch es erst gar nicht, Paul. Ich weiß, dass du noch eine Waffe hast. Aber so schnell kannst du nicht ziehen. Du hast mich auf dem Schießstand gesehen. Du weißt, wie schnell ich bin, wenn’s sein muss. Und ich werde nicht zögern, dich zu erschießen.«
Er bemerkte die Härte um ihren Mund, die Kälte in ihren Augen. Sie bluffte nicht.
»Nun, jedenfalls«, fuhr sie fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, »als ich die Waffe im Nachttisch gefunden habe, hatte ich ein ungutes Gefühl. Dank dir habe ich tatsächlich geglaubt, Howard wäre Hickles Komplize. Und bei dem Gedanken, dass er eine funktionstüchtige Schusswaffe in der Schublade hat, war mir gar nicht wohl. Also habe ich sie auseinandergenommen. Der Colt 1911 ist nämlich eins der wenigen Modelle, die man ohne Werkzeug vollkommen zerlegen kann. Und dann habe ich sie wieder zusammengebaut, aber ohne den Schlagbolzen.«
Travis hörte zwar alles, was sie sagte, doch so richtig verstand er es nicht. »Aber Hickles Waffen hast du nicht unbrauchbar gemacht«, sagte er leise.
»Nein, denn das hätte er ja spätestens bei seinen Schießübungen gemerkt. Aber Howard benutzte seinen Colt gar nicht. Er hatte ihn nicht mal geölt.« Abby lächelte. »Im Krankenhaus wollte ich dir eigentlich davon erzählen, aber die Schwester hat uns unterbrochen. Da habe ich noch mal Glück gehabt, was?«
»Glück gehabt«, wiederholte er.
»Ich war schon immer ein Glückspilz. Also, gehen wir runter?«
Travis war plötzlich zu erschöpft, um sich zu bewegen. »Wozu? Was ist denn unten?«
»Im Moment nichts, aber ich werde meinen Freund von der Polizei anrufen, damit er uns Gesellschaft leistet. Geh schon, Paul.«
»Warum erschießt du mich nicht einfach hier oben?«
»Ein verlockender Gedanke, aber ich übergebe dich lieber der Justiz, obwohl das in L. A. ein Risiko ist. Ehrlich gesagt, ich freue mich sogar drauf, dich im Knast zu besuchen. Aber mach dir keine zu großen Hoffnungen. In die Liebeszelle gehe ich nicht mit dir.«
Travis zitterte vor hilfloser Wut. »Du Drecksstück. Du verficktes Dreckstück.«
Abby runzelte die Stirn. »Das ist aber nicht die feine Art. Ich fürchte, das muss ich rausschneiden.«
»Rausschneiden?«
»Ich habe mein Diktafon dabei. Es läuft schon, seit wir hier drin sind. Ich habe es angestellt, als ich meine Taschenlampe rausgeholt habe, und dein Geständnis von Anfang bis Ende aufgenommen.«
Ein Diktafon. Sie hatte wirklich an alles gedacht.
»Los, Bewegung«, befahl Abby, aber Travis gehorchte immer noch nicht. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, was sie getan hatte, wie sie jedes Detail geplant hatte.
»Du hast mich für dumm verkauft«, sagte er langsam, fast empört. »Du hast mit mir gespielt. Es war alles nur Theater. Als du mich um Hilfe gebeten und gesagt hast, wir könnten die Polizei nicht einschalten, und wie du mich zum Reden gebracht hast. Das war eine Falle.«
Abby zuckte mit den Schultern. »Das ist mein Beruf, Paul. Das hast du mir alles beigebracht, schon vergessen?«
»Nein.« Travis Wut war verflogen. »Nein, das habe ich nicht vergessen.« Dann wanderte sein Blick nach oben. »Aber vielleicht hast du etwas vergessen.«
Über ihnen, auf dem dunklen Treppenabsatz, schob sich der lange Lauf von Hickles Gewehr zwischen den Stäben des Geländers hindurch und auf Abbys Rücken erschien ein roter Punkt.