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Was machte man, wenn so ein Date vorbei war? Wie verabschiedete man sich richtig? Im Film sagten die Leute immer irgendetwas Kluges. Warum war das im richtigen Leben so schwierig?

Während der Aufzug sie in den dritten Stock brachte, grübelte er darüber nach. Und als sie über den Flur zu ihrer Wohnung liefen, hatte er immer noch keine Lösung gefunden.

»Nun«, sagte Abby, »da wären wir.«

Das war der Moment. Dann mal los, sei spontan.

»Es war ein schöner Abend«, war alles, was er herausbrachte.

Verdammt, das war ziemlich lahm. So was würde jedem Trottel einfallen. Aber zu seiner Überraschung reagierte Abby mit einem Lächeln. »Es war toll«, sagte sie. »Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, was Restaurants angeht.«

»Nun ja … ich arbeite schließlich in einem.« Er wusste nicht, warum er diese Lüge noch einmal wiederholte.

»Ja, ich weiß. Vielleicht schaue ich mal vorbei und bekomme ein Essen aufs Haus.«

Mist. Er musste sich schnell was ausdenken. »Mein Chef sieht so was nicht so gern«, sagte er und hoffte, es würde einigermaßen locker klingen. »Aber man weiß ja nie. Mal sehen.« Er beschloss, sich zu verabschieden, solange es noch ging. »Gute Nacht, Abby.«

»Nacht.«

Ob sie erwartete, dass er sie küsste? Er hatte noch nie ein Mädchen geküsst. Außer in der dritten Klasse Priscilla Gammon, aber das war nur eine Mutprobe gewesen. Priscilla hatte geschrien und ihn eklig genannt und sich ausgiebig mit dem Ärmel den Mund abgewischt. Und in den folgenden zwei Wochen hatte sie immer, wenn sie ihn sah, Würgegeräusche gemacht. Er glaubte zwar nicht, dass Abby auch so reagieren würde. Trotzdem war es besser, vorsichtig zu sein.

»Gute Nacht«, sagte er unnötigerweise noch einmal.

Abby lächelte und schloss ihre Tür auf. »Träumen Sie was Schönes und lassen Sie sich nicht von Bettwanzen beißen. Das meine ich nicht als Scherz. Die gibt’s hier bestimmt.«

Er nickte und wusste nicht, was er sagen sollte. Er stand einfach da und nickte weiter, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann ging er in seine Wohnung. Zuerst wollte er nachsehen, ob der Videorekorder die Sechs-Uhr-Nachrichten aufgenommen hatte, aber dann fand er, dass es keine Eile hatte.

Er ging ins Bad, wusste nicht mehr warum und verließ es wieder. Er öffnete die Fenster und die Jalousien bewegten sich in der Abendbrise leicht hin und her. Die kühle Luft tat gut. In der Küche goss er Wasser in ein Glas, trank es gierig aus und rülpste zufrieden. Dann sah er sich in der Wohnung um. Sie war ihm immer wie ein schreckliches Drecksloch vorgekommen, aber heute fand er sie gar nicht so übel. Sie hatte fast etwas Wohnliches an sich. Eigentlich hatte er gar kein so schlechtes Leben. Besser als er immer gedacht hatte, fand er. Und dann fragte er sich, warum er plötzlich so empfand.

Es lag natürlich an Abby. Es war ein so schöner Abend gewesen. Als die Rechnung kam, hatte er automatisch darauf bestanden zu bezahlen, obwohl sie angeboten hatte, die Hälfte zu übernehmen. Aber er hatte sie einladen wollen, weil man das als Mann so machte, und er hatte nicht oft Gelegenheit, sich als Mann zu fühlen.

Jill Dahlbeck hatte nie solche Gefühle in ihm geweckt. Er erinnerte sich noch, wie er allen Mut zusammengerafft hatte, um zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wolle, und wie sie ihm bemüht höflich einen Korb gegeben und irgendeine lahme Ausrede aufgetischt hatte. In dem Moment – und noch jahrelang – hatte er sie gehasst. Sie hatte ihn erniedrigt, ihn seiner Männlichkeit beraubt, so wie Frauen es immer taten. Denn alle Frauen waren im Grunde ihres Herzens nur zickige Schlampen. Sie waren Schlampen, verlogene Huren …

Er beruhigte sich wieder und rief sich in Erinnerung, dass nicht alle Frauen so waren. Abby nicht.

Das Telefon klingelte.

Überrascht sah er es an. Niemand rief ihn je an. Wahrscheinlich hatte sich jemand verwählt.

Aber vielleicht war es Abby. Hatte sie seine Nummer? Wollte sie mit ihm reden? Mit leicht zitternder Hand nahm er ab. »Hallo.«

Zuerst hörte er nichts, aber dann meldete sich eine Frauenstimme: »Sie haben eine Nachricht.«

Nicht Abbys Stimme. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt menschlich war. Sie hörte sich künstlich an, elektronisch. Verdutzt drückte er den Hörer fester ans Ohr. »Wer ist denn da? Hallo?«

Die Stimme sagte wieder: »Sie haben eine Nachricht.«

Klick. Dann kam das Freizeichen.

Langsam legte er auf. Jetzt verstand er. Die Stimme war aufgezeichnet. Wie die Begrüßung bei manchen Internet-Anbietern, wenn man sich einloggte.

Es bedeutete, dass man eine neue E-Mail bekommen hatte.

 

In Abbys Schlafzimmer waren die Lichter aus. Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Boden und sah sich die Kameraaufnahmen aus Hickles Wohnzimmer in Echtzeit an. Das Bild des Sieben-Zoll-Fernsehers, eingestellt auf eine Amateurfunkfrequenz, war scharf und stabil. Abby hatte den Fernseher von zu Hause mitgebracht. Dem Uraltgerät, das zur Einrichtung gehörte, traute sie nicht. Der Apparat stand auf dem Videorekorder, der auf einer normalen VHS-Kassette im Zeitraffer vierzig Stunden aufnehmen konnte.

Die Signale der beiden Wanzen empfing sie über den Tuner einer Stereoanlage und nahm sie mit einem Langspielband auf. Beide Sender benutzten eine Standardfrequenz für schnurlose Telefone. Falls jemand das Signal empfing und Hickles Gemurmel hörte, würde er es für ein im Äther verirrtes Telefongespräch halten.

Abby hatte die Geräte in ihrem Schlafzimmerschrank aufgebaut, den sie einfach schließen konnte, wenn sie die Wohnung verließ. Da sie sich von der Überwachung nach so kurzer Zeit noch keine brauchbaren Ergebnisse versprach, hatte sie das Treiben in Hickles Wohnung nur mit einem Auge verfolgt. Bis das Telefon klingelte.

Sie sah, wie er ranging, und hörte, wie er Hallo sagte und fragte: »Wer ist denn da?« Den Anrufer konnte sie aber nicht hören. Jetzt wünschte sie sich, sie wäre doch das Risiko eingegangen und hätte das Telefon verwanzt.

Hickle legte auf und verharrte einen Moment lang bewegungslos, dann ging er ins Schlafzimmer, wo die Kamera ihn nicht erfassen konnte. Eine Minute verstrich, bevor er mit seiner Reisetasche wieder herauskam. Mit grimmiger Miene verließ er eilig die Wohnung.

»Was zum Teufel …?« Abby war schon aufgesprungen und griff nach ihrer Handtasche. Sie rannte zur Tür, zögerte dann aber. Hickle war vielleicht noch im Flur. Sie spähte durch den Spion. Am anderen Ende des Flurs schloss sich die Aufzugtür.

Sie hetzte die drei Treppen hinunter. Als sie den Parkplatz erreichte, war Hickles Auto schon weg. Sie warf ihre Handtasche in den Dodge und fuhr auf die Gainford Avenue. Zu beiden Seiten war die Straße vollkommen leer. Sie fuhr nach Norden zum Santa Monica Boulevard. An der Kreuzung gab es keine Ampel, und bei dem dichten Verkehr war es unmöglich links abzubiegen. Falls Hickle diese Strecke gefahren war, musste er nach rechts abgebogen sein, Richtung Osten.

Sie schoss in eine Lücke im Verkehrsstrom und trat aufs Gas. Sie wechselte immer wieder die Spur, während sie die Straße vor sich nach einem weißen Golf absuchte. Es war keiner zu sehen. »Wo bist du, Raymond?«, flüsterte sie. »Wohin willst du so schnell? Und wozu brauchst du das Gewehr?«

Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber ihre Intuition, der sie meistens trauen konnte, sagte ihr, dass die Lage dramatisch und gefährlich war. Gefährlich für Kris? Oder für sie?

Sie wusste es nicht.

 

Zwei Blocks von der Gainford Street entfernt fuhr Hickle vom Santa Monica Boulevard Richtung Süden ab auf die Wilcox Avenue, dann manövrierte er den Wagen durch ein Labyrinth von kleineren Straßen und Hauptverkehrsadern, bis er die Western Avenue erreichte, wo er nach Norden abbog. Unterwegs schaute er immer wieder in den Rückspiegel.

Es war möglich, dass Jack ihm folgte. Vielleicht war der Anruf nur ein Trick gewesen, um ihn nach Einbruch der Dunkelheit aus seiner Wohnung zu locken. Das war zwar unwahrscheinlich, aber Hickle hatte keine Ahnung, was Jack im Schilde führte oder wie viel er wusste. Für Hickle war er nur ein Name mit einer E-Mail-Adresse, geheimnisvoll und unmöglich aufzuspüren.

Er erinnerte sich an den Brief, den er vor einem Monat bekommen hatte, mit einem Poststempel aus Downtown L. A., aber ohne Absender. Es waren nur drei ausgedruckte Zeilen, nicht unterschrieben. In dem Brief stand, für Hickle sei ein ZoomMail-Konto unter dem Namen JackFlink eröffnet worden. Das Passwort sei das Kennzeichen seines Golfs. Und er solle regelmäßig seine E-Mail abrufen. Darunter nur die Worte: Vernichte diesen Brief.

Hickle hatte die Anweisungen befolgt. Zuerst hatte er Brief und Umschlag verbrannt und dann war er zur Bücherei gegangen, um sich auf einem öffentlichen Computer als JackFlink bei ZoomMail anzumelden. In seinem Posteingang befanden sich bereits zwei Mails. Die eine war eine Nachricht von ZoomMail, in der er als neuer Nutzer des Gratisservice begrüßt wurde. Die andere war von einem ZoomMail-Kunden namens JackKeck. Die beiden Namen waren eine Anspielung auf einen Kinderreim:

Jack, sei flink, Jack, sei keck.

Jack, spring über die Kerz’ hinweg.

Wer auch immer dahinter steckte, er spielte gern Spielchen.

Die E-Mail war nicht sehr lang gewesen, hatte aber etliche Informationen über die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von Kris enthalten. Hickle hatte ganz langsam gelesen und immer wieder innegehalten. Er hatte erfahren, dass Kris eine Sicherheitsfirma namens TPS, kurz für Travis Protective Services, angeheuert hatte, und dass sie ständig von einem Leibwächter begleitet wurde, der mit einer Neun-Millimeter-Beretta bewaffnet war und gleichzeitig als Chauffeur fungierte. Außerdem, so hieß es, waren weitere Sicherheitsleute im Gästehaus postiert. Es ging noch weiter, jede Menge Informationen.

Wenn sie denn stimmten. Vielleicht war alles gelogen, und jemand versuchte, ihn ganz tückisch reinzulegen. Wie sollte er das wissen? Er konnte niemandem vertrauen, auch nicht seinem anonymen Helfer.

Aber falls alles der Wahrheit entsprach, musste Jack jemand sein, der die Vorgehensweise von TPS genau kannte. Ein Mitarbeiter vielleicht oder auch jemand aus dem Barwood-Haushalt. Dieser Jemand war auch sehr gut über Hickle informiert. Er kannte seine Adresse und sein Autokennzeichen … und er spielte ihm eine Menge Informationen über Kris zu.

Die letzten Zeilen der Nachricht waren besonders interessant:

 

Die Malibu Reserve ist nach außen gut gesichert, aber an der Nordwestseite der Anlage, 20 m vom Pacific Coast Highway entfernt, gibt es ein Abflussrohr, durch das man hineingelangt.

 

Zugang zur Wohnanlage. Was beabsichtigte JackKeckzoommail.com damit?

Hickle hatte nur mit einem Wort geantwortet:

 

Warum?

 

Er hatte die E-Mail ein paar Mal gelesen, bis er den Inhalt auswendig kannte. Dann hatte er sie wie verlangt gelöscht.

In der folgenden Nacht hatte Hickle nicht sehr gut geschlafen und in den Tagen darauf jeden Nachmittag nach E-Mails geschaut. Eine Woche war vergangen, bevor er die nächste Nachricht erhalten hatte. Weitere Informationen über Sicherheitsvorkehrungen und am Ende eine Bemerkung, die fast einer Aufforderung gleichkam:

 

Kris kommt immer kurz nach Mitternacht im Auto von der Arbeit. Sie ist dann vollkommen schutzlos. Ein Attentäter könnte sich im Dunkeln auf die Lauer legen, ohne gesehen zu werden. Denk drüber nach.

 

Aber keine Antwort auf Hickles Frage. Anscheinend wollte Jack sein Motiv nicht preisgeben.

Am folgenden Sonntag war Hickle nachmittags zur Malibu Reserve gefahren und hatte im Gestrüpp rund um den Zaun das Abflussrohr gesucht. Es war zwar eng, aber es war ihm gelungen, sich hineinzuzwängen. Auf der anderen Seite angekommen, hatte er das Haus der Barwoods sehen können. Er war noch mehrere Male zurückgekehrt und hatte Polaroids von Kris gemacht, wie sie in Begleitung ihres Leibwächters über den Strand gejoggt war. Er hatte auch das Gästehaus längere Zeit beobachtet und gesehen, wie dort Männer ein- und ausgingen. Dort waren also tatsächlich Sicherheitsleute postiert. Alle Informationen von Jack hatten sich als richtig herausgestellt.

Die letzten beiden E-Mails, die Hickle erst kürzlich erhalten hatte, waren anders als die davor. Jack wurde zunehmend ungeduldig. Er versuchte anscheinend, ihn zu provozieren. Die letzte Nachricht war eine geradezu kindische Stichelei:

 

Kris lacht über dich. Sie hält dich für einen Witz. Sie hat zu den Sicherheitsleuten gesagt, du seist vollkommen harmlos, weil du gar nicht den Mumm hast, was zu machen.

 

Ein plumper Manipulationsversuch. Aber Hickle hatte sich davon nicht beirren lassen. Er misstraute Jack mittlerweile. Es war alles sehr mysteriös. Irgendetwas ging hier vor, irgendein kompliziertes Spiel. Vielleicht waren die E-Mails von TPS, und sie wollten ihn dazu bringen, irgendetwas zu machen, wofür er verhaftet werden könnte. Auf Jacks letzte Nachricht hatte er nur geantwortet:

 

Ich lasse mich nicht von dir benutzen.

 

In dieser Woche hatte er noch gar nicht in seinem Postfach nachgesehen. Er hatte eigentlich gedacht, Jack würde nie wieder von sich hören lassen. Stattdessen hatte Jack sich zum ersten Mal telefonisch mit ihm in Verbindung gesetzt.

Der Anruf beunruhigte ihn, denn er wusste nicht, was der Auslöser war oder was er bedeutete.

Um diese Zeit war die Bücherei geschlossen. Aber einen Block weiter, auf der Western Avenue, gab es einen Copyshop mit Internetcafé, der die ganze Nacht geöffnet hatte.

Konnte Jack sich ausrechnen, dass er zu diesem Laden fuhr? Würde er dort auf ihn warten? War dies eine tödliche Falle?

»Nicht sehr wahrscheinlich«, murmelte Hickle, aber während er sich auf der rechten Spur einreihte, öffnete er die Reisetasche auf dem Beifahrersitz, um die Schrotflinte griffbereit zu haben.

Falls jemand auf ihn schießen würde, wäre er vorbereitet. Er würde sich nicht einfach abknallen lassen.

Aber niemand schoss auf ihn. Er fuhr in eine dunkle Ecke des Parkplatzes, von wo aus er den Laden beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Über der Glasfront leuchtete ein Neonschild und drinnen gab es Reihen von Fotokopierern und Computern. Einige Leute machten Kopien, andere saßen an den Rechnern. Hinterm Tresen stand ein Angestellter, der im Neonlicht blass und abgespannt wirkte.

Nichts Verdächtiges. Hickle verstaute die Reistasche mit dem Gewehr auf dem Boden vor dem Beifahrersitz, wo man sie nicht sehen konnte. Dann betrat er den Copyshop, um herauszufinden, was JackKeck zu sagen hatte.