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Kommst du mit zu Wiebke?«, fragte Sina Haas. Sie stand in der Tür, bereits im Mantel.

»Ja. Gern. Kommt Udo auch?«

»Nein. Er mag keine Kohlrouladen.«

Zollanger mochte sie auch nicht besonders. Er hatte gar keinen Hunger. Aber Sinas Meinung zu den Funden interessierte ihn. Sie waren ins Büro gefahren und hatten sich erst einmal alle an ihre Schreibtische zurückgezogen, mit Ausnahme von Brodt und Findeisen, die noch eine Weile vor Ort zu tun haben würden. Weyrich hatte die Obduktionskonferenz auf siebzehn Uhr anberaumt. Sie hatten also Zeit, zu Mittag zu essen, wenn schon das Frühstück ausgefallen war.

Sie verließen das Gebäude und gingen die paar Schritte zu »Wiebkes Versteck«. Das Lokal lag schräg gegenüber in der gleichen Straße. Das Tagesgericht kostete kaum mehr als ein Hamburger. Das Mobiliar erinnerte Zollanger an das untergegangene Land, aus dem er stammte. Das dunkle Eichenholz, die gestickten Tischdecken, die karierten Sitzkissen auf den Eckbänken, die Gardinen. In Leipziger Gaststätten hatte es in den achtziger Jahren auch nicht viel anders ausgesehen.

Obwohl es schon nach drei war, bekamen sie anstandslos ihr warmes Tellergericht. Wiebke sagte wie immer nicht viel, stellte die Teller vor sie hin und verschwand hinter ihren Tresen.

»Und?«, sagte Zollanger. »Was meinst du?«

»Die Verknüpfung ist seltsam.«

»Tier und Mensch?«

»Ja. Das auch. Aber das meine ich nicht. Ich meine die Mischung von offensiv und defensiv.«

Sie spießte ein Stück Kartoffel auf und tunkte es in die Soße.

»Isst du nichts?«, fragte sie.

Er schob den Teller weg. »Ich habe keinen Hunger. Aber lass dir’s bitte schmecken. Ich trinke lieber Wasser.«

Sina schaute ihn fürsorglich an, sagte aber nichts. Sie aß schneller als gewöhnlich. Zollanger schaute ihr zu und nippte bisweilen an seinem Glas.

»Also, wie ist das mit offensiv und defensiv?«, fragte er, als sie fertig war. »Oder ist das Thema zu unappetitlich?«

»Laut Lehrbuch werden Leichen aus zwei Gründen zerstückelt«, erklärte Sina. »Um die Gewalt an der Leiche fortzusetzen, also zum Beispiel aus Hass, oder um sie besser beseitigen zu können und sie unkenntlich zu machen. Für die erste Tätergruppe sind die Verletzungen völlig untypisch. Triebtäter toben sich bei Frauen fast immer an den Geschlechtsteilen aus. Die Verletzungen werden im Rausch zugefügt. Der Rumpf in Lichtenberg ist jedoch weitgehend unversehrt. Und gegen die zweite Annahme, dass die Leiche unauffällig beseitigt werden sollte, spricht natürlich die aufwendige Inszenierung.«

»Immerhin ist alles entfernt worden, was eine Identifizierung der Frau gestattet«, entgegnete Zollanger. »Das spricht eher für defensives Vorgehen.«

»Aber nicht die Zurschaustellung. Wer sich die Mühe macht, eine Leiche zu zerlegen, um sie leichter beseitigen zu können, tut dies, um das Risiko der Entdeckung zu minimieren. Der Torso in Lichtenberg war aufwendig hergerichtet. Er war regelrecht gestylt. Wer immer ihn dort hingebracht hat, ist ein beträchtliches Risiko eingegangen. Der Transport kann nicht ganz einfach gewesen sein. Es muss auch einige Zeit gedauert haben, bis die Anordnung so stand, wie wir sie vorgefunden haben. Zeit, in der der Täter damit rechnen musste, überrascht zu werden. Das ist kein defensives Verhalten. Von dem Lamm gar nicht zu sprechen. Diese Aktion war noch riskanter.«

»Wenn es der gleiche Täter war, was wir noch nicht wissen.«

»Nein. Sicher.«

Zollanger hörte Sina gerne zu, wenn sie laut dachte. Die leicht sächsische Färbung ihrer Stimme war einfach zu angenehm. Er würde nach Dresden zurückgehen, wenn er in zwei Jahren seinen Abschied nahm. Vielleicht gab es dort eine Wiedergängerin von Sina Haas, die mehr in seiner Altersgruppe angesiedelt war.

»Nehmen wir mal an, die beiden Fälle gehören zusammen«, sagte er. »Worauf läuft das alles hinaus?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten. Das Lehrbuch stimmt nicht.«

»Oder?«

»Der Täter steht nicht im Lehrbuch.«

»Was so viel bedeutet wie?«

»Unfug. Wir haben es gar nicht mit einem Gewaltverbrechen zu tun, sondern mit sehr grobem Unfug. Leichenschändung in Tateinheit mit Tierquälerei vielleicht. Ein Scherz? Vielleicht sogar …«

Zollanger wartete einen Augenblick. Sina schaute ihn erwartungsvoll an, brauchte den Satz aber nicht mehr zu beenden. Er kam von selbst drauf.

»Du meinst: Kunst?«

»Ja. Eine Mischung aus von Hagen und irgendwelchen Gothics. He. Wir sind hier schließlich in Berlin. Kaputt, aber originell.«

»So originell wie zweitausend Nikoläuse«, murmelte Zollanger und schüttelte skeptisch den Kopf. »Woran hat mich eigentlich diese Deckenbemalung dort erinnert. Das weißt du doch bestimmt, oder?«

»Khajuraho«, sagte Sina. »Wahrscheinlich hast du irgendwo schon mal Abbildungen von diesen Tempelanlagen gesehen. Interessant übrigens, dass du von zweitausend Nikoläusen sprichst. Etwa so viele kopulierende Paare sind auf dem Tempel in Indien dargestellt.«

»Na ja, die Zahl ist sicher Zufall«, sagte Zollanger. Das Gespräch erstarb für einen längeren und für Zollanger ein wenig peinlichen Augenblick. Es lag ihm nicht, mit der jungen, attraktiven Kollegin über kopulierende Paare zu sprechen. Ihre Vermutung erstaunte ihn. Sollte es sich bei den grässlichen Funden tatsächlich um einen geschmacklosen Scherz oder einen wie auch immer gearteten künstlerischen Akt handeln? Er war sich nicht sicher, was er übler fände. Einen geistig verwirrten Täter, möglicherweise einen Mörder, den zu fassen sie vermutlich große Mühe haben würden, den man jedoch objektiv als Psychopathen zu betrachten hätte. Oder irgend so einen öffentlichkeitsgeilen Tabubrecher, der eine Debatte darüber anstoßen wollte, ob man aus Leichenteilen Kunstwerke machen darf? Die Öffentlichkeit würde diese Frage bestimmt dankbar diskutieren. Zollanger wollte den Gedanken lieber nicht weiter verfolgen. Sinas Vermutung zeigte ihm wieder einmal, dass er im Grunde noch immer in dem untergegangenen Land lebte und in diesem hier, wo es keinerlei Grenzen des Denkbaren zu geben schien, nie ganz ankommen würde.

»Niemand im Großraum Berlin vermisst übrigens eine Ziege oder ein Lamm«, unterbrach Sina das Schweigen. »Jedenfalls hat bisher niemand ein Tier als vermisst gemeldet. In den Zoos fehlt nichts. Die Domänen im Umkreis haben wir auch angerufen. Fehlanzeige.«

»Tierheime?«

»Haben wir auch kontaktiert, obwohl die solche Tiere nur selten haben. Ohne Ergebnis. Ich denke, wir sollten warten, bis Dr. Weyrich uns sagt, was für eine Ziege das ist. Und was für ein Lamm. Das grenzt die Suche ein.«

»Hoffen wir’s mal«, hörte er sich sagen.