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Das öffentliche Interesse an einer fast zwei Monate zurückliegenden Schießerei, bei der ein Unbekannter und ein Polizist zu Tode gekommen waren, hatte am 5. Februar so weit abgenommen, dass der Andrang im Sitzungssaal acht des Gerichtsgebäudes in Moabit recht gering war.

War Friesers Appell, das Ansehen der Strafverfolgungsorgane nicht durch spekulative Berichte zu beschädigen, befolgt worden? Oder hatten im Hintergrund noch andere Kräfte gewirkt, um die Sache so weit es ging aus den Medien herauszuhalten? Friesers Strategie schien jedenfalls aufgegangen zu sein. Die Berichterstattung über den Vorfall in Reinickendorf war vage und unspektakulär ausgefallen. Die Schlagzeilen im Dezember hatten sich vor allem mit den skandalösen Enthüllungen im Zusammenhang mit der Gasexplosion in Mariendorf beschäftigt.

So waren am 5. Februar zunächst nur wenige Prozessbesucher zum ersten Verhandlungstag erschienen. Aus Mirats verzweigter Verwandtschaft waren seine Mutter und ein Cousin gekommen. Jojo Jesus erschien mit Hagen, mit dem er sich flüsternd unterhielt. Sina und Udo saßen zwei Reihen hinter ihnen, vier Stühle getrennt von einem wiederholt gähnenden Gerichtsreporter, der einen Randplatz eingenommen hatte, vermutlich um unbemerkt verschwinden zu können, falls sich die Sache zu lange hinzog.

Um Viertel vor zehn betrat Vera Kornmüller den Gerichtssaal und legte ihre Dokumente auf dem Tisch der Verteidigung ab.

Sina musterte die verschiedenen Personen und versuchte sich einen Reim darauf zu machen, wer sie waren. Die Frau mit Kopftuch in Begleitung eines Jugendlichen … der zerlumpte, bärtige Mann in Begleitung des Typen mit dem Pferdeschwanz … Vielleicht waren die beiden mit dem angeklagten Mädchen bekannt. Die rothaarige Frau in schwarzer Robe musste ihrem Platz zufolge die Verteidigerin sein. Aber wer war der elegant gekleidete, gutaussehende Mann, der mit sorgenvollem Gesichtsausdruck in der ersten Reihe des Besucherbereichs Platz nahm? Der Vater des Mädchens? Jener Starfotograf aus Hamburg, von dem Udo erzählt hatte?

»Ist das ihr Papa?«, fragte sie ihn leise.

»Keine Ahnung« erwiderte er. »Könnte sein.« Dann deutete er auf eine Tür am hinteren Ende des Saales, die sich soeben geöffnet hatte. Ein Polizeibeamter betrat den Saal, gefolgt von einem hochgewachsenen, mageren blonden Mädchen. Sie trug Jeans, eine dunkelgrüne Bluse und eine graue Strickjacke. Hinter ihr folgte ein schmächtiger Junge in dunkelblauen Cordhosen und weißem Hemd. Ein zweiter Polizist trat durch die Tür und schloss sie hinter sich. Die beiden Angeklagten nahmen flankiert von den Sicherheitsbeamten an dem Tisch Platz, wo zuvor die Verteidigerin ihre Unterlagen abgelegt hatte.

Sina bemerkte, dass das Mädchen kurz einen Blick mit dem eleganten Herrn in der ersten Reihe wechselte. Der Bärtige machte ihr ein Siegeszeichen mit dem Daumen, während ihr der Mann mit dem Pferdeschwanz neben ihm aufmunternd zunickte. Nun füllte sich der Verhandlungssaal rasch. Die rothaarige Frau kam wieder herein. Frieser, ebenfalls in Amtstracht, ließ ihr mit galanter Miene den Vortritt. Sina folgte dem Staatsanwalt mit misstrauischem Blick, während der Mann auf den Platz der Anklage zusteuerte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Anwältin, die den beiden jungen Leuten kurz die Hand reichte, um dann zwischen ihnen Platz zu nehmen. Fast zeitgleich betraten die drei Richter und die beiden Schöffen der vierzehnten Strafkammer den Raum und nahmen ihre Plätze auf dem erhöhten Podest an der Stirnseite ein. Der Vorsitzende blickte mürrisch auf den leeren Stuhl der Protokollantin und machte einem der Schöffen ein energisches Handzeichen. Doch die Protokollantin eilte schon herbei, wobei kurzzeitig eine feine Duftspur von kaltem Zigarettenrauch durch den Saal wehte.

Der Vorsitzende wollte soeben mit dem Aufruf zur Sache beginnen, als noch eine weibliche Person den Raum betrat. Der Staatsanwalt machte ihr ein Zeichen, und sie setzte sich mit einer entschuldigenden Geste an die Richter neben den Anklagevertreter.

Sina hatte die ganze Zeit über das Mädchen beobachtet. Sie hatte sich ein ganz anderes Bild von ihr gemacht, sie sich eher klein und ein wenig schlampig vorgestellt. Elin Hilgers Äußeres irritierte sie. Mit ein wenig Phantasie sah sie den mageren Mode-Ikonen, die im Moment die Zeitschriften füllten, gar nicht unähnlich. Ihr Gesicht war engelhaft schön und zugleich maskenhaft. Ein plötzliches Gefühl von Eifersucht durchfuhr sie. Dieses Mädchen verband irgendein Geheimnis mit Zollanger. Hatte er etwas mit ihr gehabt? Warum sollte sie das stören? Zollanger war doch nur ein Kollege gewesen.

Seit dem kurzen Blickwechsel mit ihrem Vater hatte das Mädchen die Augen nicht mehr gehoben. Auch die Begrüßung durch ihre Anwältin hatte sie wie unbeteiligt über sich ergehen lassen. Während der Junge nervös um sich blickte, saß sie reglos da, als ginge sie das ganze Verfahren gar nichts an.

»Ich eröffne das Hauptverfahren in der Strafsache Elin Hilger und Mirat Kuljici wegen Mordes und Beihilfe zum Mord …«

Im Saal hatte sich angesichts der Bedeutung dieser Worte eine angespannte Stille ausgebreitet. Sie hielt an, während der Vorsitzende die Namen und Funktionen der anwesenden Personen verlas und dann die Zeugen- und Sachverständigenbelehrung folgen ließ.

»Staatsanwalt Frieser«, begann der Vorsitzende dann. »Dürfte ich Ihre Sachverständige bitten, draußen zu warten? Wir werden sie nachher anhören.«

Die Frau verließ sofort den Raum. Der Vorsitzende wandte sich Elin zu.

»Sie sind Elin Hilger, geboren am 14. Dezember 1982 in Hamburg?«

Elin reagierte nicht.

»Frau Dr. Kornmüller. Würden Sie Ihre Mandantin bitte dazu bewegen, meine Fragen zu beantworten.«

»Meine Mandantin beantwortet keine Fragen«, erwiderte die Anwältin. »Auch die meinen nicht.«

»Frau Hilger«, versuchte es der Vorsitzende erneut, »Sie sind nicht verpflichtet, Angaben zur Sache zu machen. Angaben zu Ihrer Person dürfen Sie jedoch nicht verweigern. Tun Sie dies dennoch, so begehen Sie eine Ordnungswidrigkeit, die mit bis zu vierzig Tagessätzen geahndet werden kann. Ersparen Sie mir bitte diese Zwangsmaßnahme. Also. Ist Ihr Name Elin Hilger, und sind Sie am 14. Dezember 1982 in Hamburg geboren?«

Elin fixierte den Richter. Dann wandte sie stumm den Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster.

»Wie Sie wollen. Das Gericht verordnet vierzig Tagessätze zu …«

Vera Kornmüller hob den Arm. Der Vorsitzende gab ihr das Wort.

»Der Vater der Angeklagten ist anwesend. Ich beantrage, die Identitätsfeststellung durch Zeugenaussage des Vaters unter Eid vorzunehmen, und bitte um Aussetzung des Zwangsgeldes. Falls das Gericht dies ablehnt, so gebe ich zu Protokoll, dass meine Mandantin mittellos ist und aus weltanschaulichen Gründen die Teilnahme an jeglicher Art von Geldverkehr verweigert. Zwangsmaßnahmen müssten also grundsätzlich in Form einer Ersatzfreiheitsstrafe verordnet werden.«

Der Vorsitzende zögerte einen Moment. Nach kurzer Rücksprache mit seinen Kollegen entschied er: »Der Vater möge vortreten und die Identität seiner Tochter bestätigen. Die vierzig Tagessätze bleiben bestehen, da die Aussageverweigerung der Angeklagten jeglicher Grundlage entbehrt und lediglich eine Missachtung des Gerichts darstellt.«

Der elegant gekleidete Mann erhob sich, trat an den Tisch der Protokollantin, brachte die Beeidigungsformalität hinter sich und bestätigte, dass er Edmund Hilger heiße und es sich bei der Angeklagten um seine Tochter handele. Dann warf er einen flehenden Blick in ihre Richtung und sagte nur: »Elin. Bitte.« Und an den Vorsitzenden gerichtet fügte er hinzu: »Ich bezahle des Zwangsgeld natürlich.« Dann nahm er wieder im Besucherbereich Platz.

Udo Brenner schüttelte verständnislos den Kopf. »Was verspricht sie sich nur von diesem Theater?«, flüsterte er Sina zu. »Verbohrte Jugend, kann ich nur sagen.«

Mirat leistete keinerlei Widerstand gegen die Fragen des Richters. Er bestätigte alle Angaben und schaute den Vorsitzenden eingeschüchtert an, während der einen Schwall von Verfahrenserklärungen abgab, die offenbar Routine waren und weder auf Seiten der Anklage noch der Verteidigung zu irgendwelchen Reaktionen führten. Schließlich wurde Staatsanwalt Frieser aufgefordert, den Anklagesatz zu verlesen.

Sina erinnerte sich später noch an die genaue Uhrzeit, denn sie hatte den Minutenzeiger auf der Wanduhr auf die nächste Minute springen sehen. Frieser war noch nicht einmal beim Tatvorwurf angelangt, als sich um 10:27 Uhr die Tür zum Sitzungssaal öffnete.

Ein Fahrradkurier stand auf der Schwelle. Aber das war nicht die einzige Merkwürdigkeit. Auf dem Gang hinter dem Kurier wartete eine Gruppe von Menschen und schaute neugierig in den Saal hinein. Ein Gerichtsbediensteter hatte seine Arme ausgebreitet, um die Leute daran zu hindern, den Saal zu betreten.

Frieser blickte fragend zum Vorsitzenden und wartete auf dessen Reaktion.

»Was ist denn da draußen los?«, fragte dieser. »Und was wollen Sie hier?«

»Ich habe eine Eilsendung für Frau Dr. Kornmüller.«

Vera Kornmüller errötete. Frieser schüttelte genervt den Kopf.

»Aber wohl kaum unter dieser Adresse«, sagte Vera Kornmüller verständnislos. »Liefern Sie doch bitte an mein Büro.«

Der Bote schüttelte den Kopf.

»Die Sendung ist als dringend und zur sofortigen persönlichen Aushändigung an Sie im Gerichtssaal gekennzeichnet und bezahlt.« Dann, nach einem kurzen Blick in die Runde, fügte der Kurier hinzu: »Ich werde draußen auf Sie warten.«

»Nehmen Sie den Brief eben schnell an«, sagte der Richter unwirsch und rief dann nicht weniger gereizt in Richtung Tür: »Saaldiener. Was wollen denn diese Leute da draußen?«

Der Mann scheuchte die Gruppe, die näher gekommen war, mit einer energischen Bewegung zurück. Dann betrat er den Sitzungssaal und schloss die Tür hinter sich: »Es sind Presseleute. Sie wollen dem Verfahren beiwohnen.«

»Aha. Und warum kommen sie dann nicht pünktlich?«

Der Saaldiener hatte dafür keine Erklärung.

Vera Kornmüller quittierte ihre Sendung und legte den Umschlag vor sich auf dem Tisch ab. Der Kurier ging wieder zur Tür.

»Wenn ich es richtig sehe«, sagte der Vorsitzende, »ist auf den Besucherbänken ja noch jede Menge Platz. Hat jemand etwas dagegen einzuwenden, wenn Pressevertreter dem Verfahren beiwohnen?«

Frieser machte Anstalten, etwas zu sagen, besann sich aber dann und ließ es bleiben. Vera Kornmüller signalisierte Zustimmung. Der Vorsitzende machte dem Saaldiener ein Handzeichen. Der öffnete die Tür, eskortierte den Kurier nach draußen und ließ dann die Wartenden nacheinander eintreten. Die Journalisten, sechs Männer und zwei Frauen, nahmen weitgehend geräuschlos im Besucherbereich Platz. Der Gerichtsreporter schien die meisten von ihnen zu kennen. Sein Gesicht drückte jedoch vor allem Verwunderung darüber aus, auf einmal so viele Kollegen hier auftauchen zu sehen.

Wenige Minuten später war wieder Ruhe im Saal eingekehrt. Frieser setzte seine Ausführungen fort, erläuterte, wie er Elins Schuld am Tod von Aivars Ozols nachweisen werde und welche Zeugenaussagen und Gutachten er dafür vorzulegen gedenke. Er erläuterte, dass nach der Spurenlage eine mögliche Tatbeteiligung des Angeklagten Kuljici nicht ausgeschlossen werden könne und daher eine Befragung beider Tatverdächtigter im Hauptverfahren notwendig sei.

Etwa zu diesem Zeitpunkt in Friesers Rede war mit dem Mädchen eine Veränderung vor sich gegangen. Elin hatte die eintretenden Journalisten gar nicht beachtet, sondern vom ersten Augenblick an nur den Umschlag angestarrt, den der Fahrradkurier geliefert hatte. Nach einer Weile hatte sie sich plötzlich zu ihrer Anwältin hinübergebeugt und ihr etwas ins Ohr geflüstert. Sina hatte es gesehen, denn sie hatte nach wie vor Mühe, ihren Blick von dem Mädchen zu nehmen. Die anderen hatten davon offenbar nichts bemerkt. So fiel auch zunächst niemandem auf, dass Vera Kornmüller den Umschlag behutsam öffnete. Sina beobachtete, wie die Anwältin ein kleines weißes Kuvert hervorholte. Dann blitzte ein silbrig glänzender Datenträger in ihrer Hand auf. Elin beugte sich erneut zu der Anwältin hin und redete leise auf sie ein.

Vera Kornmüller schaute sich unsicher um. Aber noch monopolisierte Staatsanwalt Frieser die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Lediglich Mirat hatte sich kurz ablenken lassen, schaute nun aber schon wieder zu Frieser hin, der soeben bei der Liste der anzuwendenden Strafvorschriften angekommen war.

Vera Kornmüller legte diskret den Datenträger in ihren Computer ein und wartete. Elins Gesicht hatte sich völlig verändert. Sie starrte auf den Bildschirm. Rote Flecke breiteten sich auf ihrem blassen Gesicht aus. Jetzt fiel auch dem Vorsitzenden die Veränderung an Elin auf. Er blickte irritiert zu Vera Kornmüller hin, die indessen wie gebannt den Computer fixierte.

Staatsanwalt Frieser kam nicht umhin zu bemerken, dass irgendetwas nicht stimmte. Er blickte zu seiner Kontrahentin, aber die hatte noch immer ihren Laptop im Blick. Frieser stockte kurz und sprach dann weiter. Doch jetzt erhob sich Vera Kornmüller abrupt. Sie griff nach dem Gerät vor ihr auf dem Tisch und begab sich ohne ein weiteres Wort an den Tisch des Vorsitzes. Frieser verstummte mitten im Satz und schaute ihr erbost hinterher.

»Frau Dr. Kornmüller«, herrschte der Vorsitzende sie an. »Dürfte ich erfahren, was Ihnen …!«

Sie erwiderte zunächst nichts, sondern stellte lediglich das Gerät vor ihn hin, so dass er den Bildschirm gut sehen konnte. Dann sagte sie: »Ich beantrage die sofortige Vorführung der mir soeben zugestellten Video-Zeugenaussage eines Tatbeteiligten. Wesentliche Behauptungen der Anklage zum Tatgeschehen widersprechen offenbar völlig den Tatsachen.«

Frieser war mittlerweile neben Vera Kornmüller getreten und verrenkte den Hals, um einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. Und was er da sah, war schlechterdings unmöglich: Neben einem Fernsehgerät, auf dem die Tagesschau vom 27. Januar lief, saß Martin Zollanger und sprach in eine Kamera.

Vera Kornmüller nutzte die totale Verwirrung aus und drückte auf einen Knopf auf ihrem Laptop. Im nächsten Moment war klar und deutlich Zollangers Stimme zu hören.

»… der Deutsche Aktienindex schloss heute bei 2643,80 der Dow Jones bei 7989,56 Punkten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese beiden Indizes vorausgesagt werden oder zufällig erneut bei diesen Werten stehen könnten, geht gegen null, was ausreichend belegen sollte, dass ich am Leben bin.«

Niemand im Saal rührte sich. Sina vermochte kaum zu atmen. Udo Brenner starrte sie an und hatte das Gesicht verzogen, als leide er körperliche Schmerzen. Manche der Journalisten, die erst vor wenigen Minuten eingetroffen waren, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Immer wieder schauten sie neugierig zu Elin hin. Einer von ihnen versuchte, mit Elins Vater ins Gespräch zu kommen, aber der schüttelte nur energisch den Kopf, blickte verwirrt den Vorsitzenden an und versuchte zu begreifen, was sich dort vorne gerade abspielte.

Frieser stand mit eisiger Miene da und schwieg. Allein Elins Gesichtsausdruck wirkte gelöst. Aber was sie wirklich dachte oder fühlte, war ihr nicht anzusehen. Steif und unnahbar saß sie da und lauschte mit halb geschlossenen Augen der Stimme, die wie aus dem Jenseits zu kommen schien.

»Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte«, drangen Zollangers Worte zwar blechern, aber gut hörbar aus den Lautsprechern des Laptops und erfüllten den Saal. »Ich stehe unter keinerlei Zwang und mache diese Zeugenaussage aus freien Stücken. Die Staatsanwaltschaft hat gegen Elin Hilger Anklage wegen Mordes erhoben. Hierzu erkläre ich: Ich, Martin Zollanger, habe die der Angeklagten zur Last gelegte Tat begangen. Ich, Martin Zollanger, ehemals Hauptkommissar der siebten Berliner Mordkommission, habe am späten Dienstagabend des 11. Dezember letzten Jahres in Berlin-Reinickendorf Aivars Ozols mit einer Steinschleuder, die ich zuvor der Angeklagten abgenommen habe, vorsätzlich getötet. Die Angeklagte hatte von meiner Tötungsabsicht keinerlei Kenntnis. Sie hat diese weder billigend in Kauf genommen noch sich in irgendeiner anderen Weise schuldhaft verhalten. Elin Hilger war zu keiner Zeit über die wirklichen Vorgänge informiert, die zu dieser Konfrontation geführt haben. Sie ist nur durch eine Verkettung unvorhersehbarer Umstände in eine Auseinandersetzung hineingezogen worden, die ich Ihnen im Folgenden schildern werde.«

Zollanger schaute jetzt direkt in die Kamera. »Die Person, die am 11. Dezember von Aivars Ozols erschossen und später als Martin Zollanger identifiziert wurde, heißt Georg Zollanger. Georg Zollanger war mein Bruder. Er hielt sich seit März vergangenen Jahres nach mehr als dreißigjähriger Abwesenheit erstmals wieder in Deutschland auf.«

Zollanger machte eine Pause. Sein Gesichtsausdruck war ernst und zutiefst resigniert. Er hatte zweifellos Gewicht verloren und wirkte blass.

Der Vorsitzende nutzte die kurze Unterbrechung und stoppte die Wiedergabe des Videos. Dann fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und sagte: »Meine Damen und Herren. Die Sitzung ist unterbrochen. Herr Frieser, Frau Kornmüller, bitte folgen Sie mir ins Beratungszimmer.«