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Ulla hatte recht gehabt. Die Situation war merkwürdig. Er ging langsam durch die Wohnung und versuchte, aus den herumliegenden Gegenständen herauszulesen, wo seine Tochter sein könnte. Das Bett war gemacht. Auf dem Sessel neben dem Fenster lagen eine Jeans, ein T-Shirt, ein hellbrauner Kaschmirpulli und Unterwäsche. Sie war beim Tennis gewesen. Und sie war zurückgekommen, sonst wäre ihr Auto nicht in der Garage.

Ulla saß am Küchentisch und schaute ihn gereizt an, als er von seinem Rundgang zurückkam.

»Wir rufen jetzt die Polizei. Keine Diskussion.«

»Das wirst du nicht tun«, entgegnete er ruhig. »Wo ist Ingas Handy?«

Ulla Zieten zog es aus ihrer Jackentasche und warf es auf den Tisch. Er prüfte die Anrufliste, und seine Stimmung verdüsterte sich. Was er sah, gefiel ihm nicht. Der letzte abgehende Anruf stammte von gestern. Der Eintrag ließ keine Zweifel zu:

Mama

09-12-2003 19:54

Bei den eingehenden Anrufen sah es nicht viel besser aus. Den letzten Anruf hatte sie gestern um 18:07 Uhr entgegengenommen. Irgendeine Britt. Länderkennung einundvierzig, also Schweiz. Danach zeigte die Liste der unbeantworteten Anrufe sieben Namen an, alles Personen, die Inga in ihrem Handy gespeichert hatte. Und natürlich die ganzen unbeantworteten Anrufe seiner Frau.

Zieten legte das Handy wieder auf dem Tisch ab.

»Ich begreife dich nicht«, stieß Ulla Zieten hervor.

»Ich will einfach nichts überstürzen«, sagte er. »Eine Vermisstenmeldung … weißt du, was das für jemanden wie mich bedeutet? Presse, Fragen, Aufmerksamkeit. Ich kann das jetzt nicht brauchen.«

»Und deine Tochter? Kümmert dich das überhaupt nicht?«

»Inga hat bestimmt einen Grund, warum sie nicht hier ist. Ich vermute, sie ist bei einem Mann. Das kann doch sein, mein Gott.«

»Hans-Joachim.« Ullas Stimme zitterte jetzt. »Ihre Sporttasche liegt unten im Wagen. Ihr Handy ist hier. Keine ihrer Freundinnen hat sie in den letzten zwölf Stunden erreichen können. Sie hat mich versetzt, ohne mir Bescheid zu sagen. Das tut sie nie. Verdammt noch mal, wir müssen etwas unternehmen.«

Das Handy klingelte. Ulla war schneller als er.

»Ja«, sagte sie erregt. »Oh, hallo Dagmar. Nein. Ich bin es. Ihre Mutter. Nein, Inga ist nicht hier.«

Sie warf ihrem Mann einen verzweifelten Blick zu. Aber Zieten schüttelte nur zweimal langsam den Kopf. Seine Lippen bildeten kaum mehr als einen Strich.

»Nein, ich weiß es nicht genau. Aber ich werde ihr sagen, dass du angerufen hast. Ja. Sie meldet sich.«

Zieten nahm ihr das Handy ab.

»Jörg«, rief er dann.

Der junge Mann kam herein.

»Begleiten Sie meine Frau nach Hause.«

Und zu ihr gewandt sagte er: »Du tust nichts, bis ich es dir sage. Ich kümmere mich um alles. Fahr nach Hause, ruhe dich aus, und in spätestens zwei Stunden weiß ich, wo Inga ist. Verlass dich darauf. Und jetzt fahr bitte. Ich muss telefonieren.«

Er durchkämmte die Wohnung erneut. Natürlich hatte Ulla recht. Irgendetwas war komisch. Er setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch und überlegte. Die Wohnung sah nicht so aus, als habe Inga vorgehabt, unangekündigt zu verreisen. Ihr Wagen stand in der Garage. Hatte jemand sie abgeholt? Jemand, den außer ihr niemand kannte oder kennen sollte? Aber dann hätte sie sich doch vermutlich nach dem Sport umgezogen und ihre Sporttasche nicht im Wagen gelassen. Überhaupt, der Wagen. Er war hier. Und ihr Handy auch. Das war eigenartig.

Er erhob sich und ging zum Kühlschrank. Fruchtjoghurts. Orangen. Käse. Milch. Ein paar Selleriestangen. Eier. Er schloss die Tür wieder, verließ die Wohnung und fuhr in die Tiefgarage hinunter. Er leckte sich Schweißperlen von der Oberlippe und versuchte, ruhig zu atmen. Aber sein Instinkt meldete ihm Gefahr. Was konnte nur geschehen sein? Sollte er doch die Polizei benachrichtigen?

Ingas Wagen war unverschlossen. Er öffnete die Fahrertür und sah hinein. Beschädigt war nichts. Nacheinander öffnete er alle Türen und untersuchte die Sitze und den Innenboden. Der Wagen war erst drei Monate alt, verströmte noch den typischen Fabrikgeruch. Als er die Heckklappe öffnete und die Sporttasche anhob, sah er die Karte. Jemand hatte sie dort plaziert wie eine Visitenkarte des Teufels. Wer um alles in der Welt … aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

VITA MIHI MORS EST.

So viel Latein konnte er noch. MEIN LEBEN IST DER TOD. Im Vergleich zu der Karte, die er vorhin gefunden hatte, war die Darstellung auf dieser eindeutig: ein Vogel, der aus einem Feuer heraus in den Himmel flog.

Er drehte die Karte um und bemerkte, dass seine Hand zitterte. Aber es gab keine weitere Botschaft. Wozu auch, dachte er und öffnete seinen Kragenknopf, um besser atmen zu können. Das Bild sagte ja alles. Den Namen dieses Vogels kannte schließlich jeder: Phoenix.