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Die Erinnerung wurde immer deutlicher. Während der Stunden, da sie die Decke über sich betrachtete, spulten sich die Szenen wie in einer Endlosschleife vor ihren Augen ab. Und je öfter sie sich jede Einzelheit vergegenwärtigte, desto unschlüssiger wurde sie.

Sie hatte sich in einem der Kellergänge hingehockt und gewartet. Das wusste sie noch. In regelmäßigen Abständen hatte sie gegen die Heizungsrohre geklopft, um Mirat herbeizurufen. Aber er war nicht gekommen. Vielleicht war er in der Nähe gewesen. Aber sie hatte ihn weder gesehen noch gehört. Und dann hatte sie Schritte wahrgenommen. Jemand näherte sich vorsichtig und rief leise ihren Namen. Elin. Elin.

Sie hatte um die Ecke geschaut und einen Schemen gesehen. Elin, hörte sie erneut die Stimme, die sie jetzt eindeutig wiedererkannte. Sie hatte leise »Hier« gerufen, und dann war Zollanger bei ihr gewesen.

Sie sprachen nur kurz miteinander. Sie war panisch vor Angst gewesen und hatte Mühe gehabt, ihm zuzuhören. Sie solle ihm vertrauen. Er würde sie hier herausholen. Dann hatte er ihr die Steinschleuder abgenommen und war damit verschwunden. Und noch bevor sie Gelegenheit gehabt hatte, über alles nachzudenken, hatten sich die Ereignisse überstürzt. Sie hatte Schritte gehört und gedacht, Zollanger käme zurück. Sie war in den Gang hinausgetreten. Da krachte ein Schuss. Etwas Heißes war in ihrer Brust explodiert, und sie war gestürzt. Dann krachte ein zweiter Schuss. Im Blitzlicht des Mündungsfeuers sah sie, dass Zollanger direkt hinter ihr im Gang stand. Dann krachten drei weitere Schüsse. Nach jeder Explosion hörte sie, wie die Geschosse mit einem dumpfen und zugleich schmatzenden Geräusch in Zollanger einschlugen. Sie sah im Blitzlicht der Schüsse, wie sein Hals aufriss und eine dunkle Blutfontäne daraus emporschoss.

Sie versuchte, aufzustehen, wegzulaufen, aber ihre Beine versagten den Dienst. Dann war ihr übel und schwindelig geworden. Plötzlich hörte sie eine Stimme. Zollanger? Nein, das konnte nicht sein. Wer sprach da?

Es sei für alles gesorgt, sagte die Stimme wie aus endloser Ferne. Ihr werde nichts geschehen. Aber sie müsse schweigen, alle Aussagen verweigern. Es werde sich im richtigen Moment ein Zeuge melden. Man könne ihr nicht sagen, wann, aber er werde im richtigen Augenblick in Erscheinung treten. Sie müsse Vertrauen haben. Keinerlei Aussage. Ob sie Mut habe? Ob sie wirklich der Wahrheit dienen wolle? Ob sie willensstark genug sei, den Behörden die Stirn zu bieten?

Und dann hörte sie nichts mehr. Als sie wieder zu sich gekommen war, lag sie in diesem Bett.